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Elizabeth Reiche
Geschichten aus dem Leben
Zeitzeugen in Erzählcafés
Eben noch herrschte im getäfelten Raum mit hoher Stuckdecke
eine heitere Stimmung unter den Gästen. Jetzt hören die
Menschen gebannt und schweigend zu. Rund 50 Zuhörer sind in
das Münchner Erzählcafé im Stadtteil Schwabing
gekommen, um die Geschichte der 75-jährigen Sibylle Mays zu
hören. In späten Lebensjahren hatte sie begonnen,
Nachforschungen über das Leben ihrer jüdischen Vorfahren
anzustellen. Nun sitzt sie mit Mikro vor dem Publikum, das in den
folgenden zwei Stunden erfährt, wie die biografische
Spurensuche Sibylle May in die USA führte, wohin ihr
Urgroßvater Mitte des 19. Jahrhunderts emigrierte. Immer
wieder stellt die alte Dame in ihrer Erzählung die Verbindung
zu ihrer Jugend in Bayern her, liest aus alten Briefen an die
Freundin vor, lässt frühe Kindheitserinnerungen Revue
passieren, und das Publikum reist in Gedanken mit. Viele sind in
Frau Mays Alter, manche jünger. Einige von ihnen nicken
nachdenklich, als sie mit Rückblick auf ihre frühen
Kriegserlebnisse sagt: "Kinder sprechen nicht von allein über
merkwürdige Dinge, die sie erlebt haben." Vielen geht es so
wie Sibylle May, die Jahrzehnte lang ihre Erlebnisse nur im engsten
Familienkreis erzählte und manches ganz verschwieg. Im
Erzählcafé jedoch bricht sie dieses Schweigen und findet
in den Gästen dankbare Zuhörer. Sie sind deshalb dankbar,
weil eine fremde Frau die Worte für eine Geschichte hat, in
der sich jeder von ihnen ein Stück wieder findet. Man kann
auch sagen, dass Frau May ihre Biografie stellvertretend für
alle Schweigenden, Schüchternen oder Verstorbenen zur
Verfügung stellt.
Die Münchnerinnen Jutta Tzanetis und Anna Minde sind
begeisterte Geschichten-Sammlerinnen und kommen zu jedem
Erzählcafé-Termin in die Seidlvilla, also acht Mal im
Jahr. Damit gehören die beiden Frauen zum Stammpublikum, das
nicht nur aus der näheren Umgebung kommt. "Man hört hier
Dinge, die man nicht aus Radio oder Fernsehen erfährt",
erklären sie ihre Lust auf Lebensgeschichten. Ich finde, in
Zeiten der Automatisierung sollte das Reden von Angesicht zu
Angesicht wieder mehr Aufmerksamkeit bekommen", sagt Frau Tzanetis.
Ihre Tischnachbarin ergänzt: "Es ist auch schön, ein
wenig Gesellschaft um sich zu haben."
Jenseits der Sensationsgier
Jeder Mensch hat eine Geschichte, die er erzählen
könnte. Sie würde auf einen immer größeren
Kreis interessierter Zuhörer treffen, weil wir uns mit dem
echten Leben jenseits von Sensationsgier am besten identifizieren.
Ein Beweis dafür ist die wachsende Zahl der
Erzählcafés, die in München, Frankfurt, Dortmund,
Berlin, Göttingen oder Hamburg Menschen einladen, mit anderen
zusammen zu kommen. Woher die Idee dazu stammt, weiß niemand
so genau. Der Standort Berlin gehört zu den ältesten
Einrichtungen. Der Ursprung ist wohl in Gesprächsrunden zu
suchen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ins Leben gerufen
wurden, als der Bedarf nach Austausch in der Bevölkerung
besonders groß war. Ging es damals vor allem um
Zeitzeugenarbeit, stehen heute die Kommunikation zwischen den
Generationen und das Miteinander im Vordergrund. Meist soll das
Geschehene einen regionalen Bezug aufweisen, der Referent aus der
Umgebung stammen. In manchen Erzählcafés werden
Vorträge gehalten, andere praktizieren moderierte
Gesprächsrunden. Die Referenten werden meist von den
Veranstaltern, die oft in der Erwachsenenbildung arbeiten oder sich
einfach sozial engagieren wollen, ausgewählt.
Die Erzählcafés wollen für alle Altersschichten
interessant sein. Politik oder Gesellschaftsleben sind deshalb
mittlerweile fester Programmbestandteil. Manche historische Themen
kehren jedoch immer wieder: "Mit Veranstaltungen, die sich um die
Zeit des Nationalsozialismus drehen, sprechen wir vor allem
Jüngere an", sagt Karin Wimmer-Billeter vom Münchner
Bildungswerk, das als Kooperationspartner auftritt. Aber auch
Mitmenschen anderer kultureller Herkunft oder mit ausgefallenem
Beruf locken das Publikum. In Hamburg-Hamm entschied man sich
dagegen für ein reines Geschichtscafé. Zwar sei das
Durchschnittsalter der Gäste etwa 75 Jahre, sagt Michael Braun
vom dortigen Stadtteilarchiv: "Vom Ziel her aber ist es keine
Seniorenarbeit, sondern eine Generationen übergreifende
Geschichts-Werkstatt." In Göttingen ist das Konzept der "oral
history", der mündlichen Überlieferung, nach wie vor
Baustein des eigenen Zeitzeugenprojekts. Daneben sollen spezielle
Erzählcafés für Frauen, Homosexuelle oder
Jugendliche einen Bezug zu allen Milieus herstellen.
In der Münchner Jugendstilvilla, idyllisch am Rande des
Englischen Gartens gelegen, herrscht in der Pause eifriges
Fachsimpeln. Jeder der Anwesenden hat sich schon einmal als
Hobby-Biograf versucht, so manchem ist es ein wenig peinlich, von
den Schuhkartons voller Aufzeichnungen zu erzählen, die
niemals hergezeigt wurden. Auch Sibylle May sagt, sie habe sich
anfangs nicht vorstellen können, zwei Stunden lang vor
Publikum über sich zu sprechen: "Aber die Zeit verging ja wie
im Flug." Eine Dame mittleren Alters wendet sich an die Referentin.
Es geht um ihre Großeltern, eine Jahrzehnte
zurückliegende Adoption, eine komplizierte Geschichte. Frau
May hört zu und nickt bedächtig: "Das ist ja eine ganz
verzwickte Angelegenheit, ohne den Geburtsnamen ihrer
Großmutter halte ich das Ganze für sehr schwierig." Sie
rät, Forschungen nicht nur auf ein bestimmtes Familienmitglied
zu fokussieren und gibt den Tipp, nach Heiratsurkunden zu suchen.
In der zweiten Runde an diesem Nachmittag fordert sie alle
Anwesenden auf, ihre Erinnerungen fest zu halten: "Schreiben Sie es
auf oder nehmen Sie sich ein Tonband zur Hand, es ist die Sache
wert. Tun Sie es für ihre Kinder und Enkel." Die Gäste an
den Tischen sind für einen Moment still. "Aber wir haben doch
gar nicht so viel erlebt wie Sie", kommt der Einwurf aus dem
Publikum. Frau May schmunzelt.
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