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Martin Gerner
Urnengang mit Risiko - das afghanische
Wahlsystem
Die Parlamentswahlen am 18. September sind der vorerst letzte
Markstein, der im Abkommen vom Bonner Petersberg Ende 2001 für
ein neues Afghanistan festgelegt wurde. Auch wenn das
internationale Interesse geringer als bei den
Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr ist, dürften
die Parlamentswahlen mehr Konsequenzen für die politische
Zukunft des Landes haben.
Für die 249 zu vergebenden Sitze in der neuen
Volksvertretung (Wolesi Jirga) haben sich über 2.700
Kandidaten beworben, für die ebenfalls zu wählenden
Regionalparlamente in den 34 Provinzen bewerben sich weitere 3.000
Kandidaten. Das sind weit mehr Bewerber als die UNO, die die Wahl
im Kern organisiert, erwartet hatte.
In beiden Fällen sind so genannte "commander" oder
"warlords" - reden wir adäquater von Milizenführern, die
noch über Gefolgschaft und ein gewisses Waffenarsenal
verfügen - herausgefordert. Denn im Wahlgesetz heißt es,
dass nur kandidieren darf, wer vorher entwaffnet wurde. Das aber
ist bei einer Reihe der Kandidaten, darunter ehemalige
Mudschahedin-Führer, von denen einigen mutmaßliche
Kriegsverbrechen vorgeworfen werden, nicht der Fall.
Schätzungen zufolge dürften über 200 Kandidaten
wegen bewaffneter Anhängerschaft gegen das Wahlgesetz
verstoßen. Ausgeschlossen worden sind de facto aber nur rund
ein Dutzend von ihnen, obwohl sich die offizielle
Wahlbeschwerdekommission für ein härteres Durchgreifen
ausgesprochen hat.
Die Order dafür kommt von oben: Präsident Hamid Karsai
verfolgt, gestützt durch amerikanische Zustimmung, seit seinem
Amtsantritt einen Kurs der möglichst breiten Integration. Will
sagen: Lieber potenzielle Übeltäter mit im Boot haben,
sie kontrollieren und in die Pflicht nehmen als sie außen vor
und damit schwer berechenbar werden zu lassen. Die Kehrseite der
Medaille: Einmal gewählt, können die in Frage stehenden
Milizenführer ihre vom Volk erhaltene Legitimität zur
eigenen Entlastung ins Feld führen. Das verstärkt den
Eindruck, in Afghanistan herrsche eine "culture of impunity", eine
"Kultur der Straflosigkeit".
Das Wahlrecht ist - den meisten internationalen Beobachtern
zufolge - kritikwürdig. Es sieht keinerlei
repräsentatives Element vor und spiegelt nach Meinung der
Kritiker den Wählerwillen nicht angemessen. Die Partei, die
die Mehrheit der Stimmen erringt, gewinnt deshalb nicht die
Mehrheit der Sitze. Beispiel: Kandidat A von der Partei X
erhält 20 Prozent der Stimmen, Kandidat B von der Partei Y 18
Prozent und die Kandidaten C, D und E von der Partei Z jeweils 15
Prozent. Angenommen, es sind zwei Sitze zu vergeben, gehen diese an
die Partei X und Y, Partei Z erhält trotz 45 Prozent der
Stimmen keinen Sitz. Das Wahlsystem favorisiert also
Einzelkandidaten statt Parteien. Das verhindert die Bildung
stabiler politischer Parteien und damit klare Verhältnisse
nach westlichem Vorbild. Karsai bedient damit ein verbreitetes
Misstrauen unter Afghanen gegenüber politischen Parteien
jeglicher Art. Das hat historische Wurzeln, angefangen bei der
kommunistischen Partei Afghanistans, die eine Marionette Moskaus
war, bis hin zu den rivalisierenden islamischen und islamistischen
Parteien aus den Bürgerkriegsjahren, von denen eine Reihe noch
bestehen. Im Gegensatz zu den wenigen wirklich neuen demokratischen
Parteien, verfügen die alten Parteiapparate über
finanzielle Mittel für ihre Kandidaten. Sie scheinen zudem
eher in der Lage, ihre Wählerschaft zu disziplinieren, um eine
maximale Zahl an Sitzen zu erringen.
Die Umstände am Wahltag deuten sich chaotisch an: der
Wahlzettel in Kabul ist nichts Geringeres als eine 18-seitige
Wahlzeitung im Größenformat der taz. Darin abgebildet
sind die Passfotos der über 600 Kandidaten der Provinz Kabul,
ihr Name und eines von 6.000 nach dem Zufallsprinzip verlosten
Symbolen. Die Parteizugehörigkeit steht dagegen nicht auf dem
Wahlzettel. Selbst informierten Wählern wird damit Transparenz
und taktisches Wählen erschwert, zumal 80 Prozent der
Bevölkerung nicht lesen und schreiben kann. Das Etikett
"unabhängiger Kandidat" ist bei manchen echt. Es spricht aber
vieles dafür, dass ein nicht unwesentlicher Teil der Bewerber
tatsächlich einer der 72 eingeschriebenen Parteien zugerechnet
werden muss. Zu erkennen geben wollen das die wenigsten. Dieses
Wahlsystem des "Single non-transferable vote" (SNTV), das
außer in Jordanien und einigen Klein- und Inselstaaten bisher
weltweit so gut wie keine Anwendung findet, hat Präsident
Hamid Karsai zusammen mit engsten US-Beratern durchgeboxt, gegen
die Empfehlung von UN- und EU-Beratern.
68 der 249 Sitze im neuen Parlament sind Frauen per Quote
vorbehalten. Das sind zwei weibliche Abgeordnete pro Provinz.
Insgesamt werden 27 Prozent Frauen in der Wolesi Jirga sitzen.
Damit wird Afghanistan - was die Frauen-Quote angeht - weltweit
unter den Top 20 liegen - noch vor den USA und Großbritannien.
Besonders für die paschtunischen Provinzen im Süden und
Südosten, in denen Frauen in der Regel kaum vor die
Haustür treten, ist dies eine Herausforderung in vielerlei
Hinsicht. Manche internationale Beobachter meinen sogar, in
Afghanistan bestehe die Gefahr, dass zu schnell an der Schraube der
Frauenförderung gedreht werde.
Die afghanische Zivilgesellschaft hat es mittlerweile geschafft,
einen Teil der politischen Bildung unter den Wählern selbst zu
übernehmen. Auf dem Land aber wissen die meisten Menschen
nicht, worum es bei dieser Wahl wirklich geht. Die Aufgaben der neu
zu wählenden Provinzparlamente etwa wurden per Gesetz erst
drei Wochen vor der Wahl festgelegt, und das überaus vage.
Für Stammesführer, Mullahs und Shuras ist es ein
Leichtes, die Stimmagabe durch mehr oder weniger
Einschüchterung zu manipulieren und dem ethnischen Proporz
Vorrang einzuräumen.
Die Sicherheitslage in den vergangenen Wochen ist angespannt,
aber nicht dramatisch. Mehr als ein Dutzend Kandidaten sind bisher
von Gegnern dieser Wahlen umgebracht worden. Meist passierte es in
paschtunischen Provinzen. Es gibt dort unverändert eine
Taliban-Bewegung, deren Ausmaß und Schlagkraft schwer
einzuschätzen ist. Insgesamt rund 38.000 Tausend Soldaten von
ISAF und der US-Spezialkräfte werden helfen, diese Wahl
abzusichern. Die EU und die OSZE schicken insgesamt über 200
offizielle Wahlbeobachter an den Start. Die meisten
unabhängigen Wahlbeobachter stellen jedoch die Afghanen
selbst.
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