Martin Ebbing
Demokratisierung im Sauseschritt
Nach dem Verfassungsreferendum im Irak - wie
geht es weiter?
Der Irak hat eine neue Verfassung. Zweieindhalb
Jahre nach dem Sturz Saddam Husseins haben 79 Prozent der Iraker -
so die Angaben der Wahlkommission vom 25. Oktober - für den
Entwurf gestimmt. Die irakische Wahlkommission brauchte immerhin
zehn Tage, um das Ergebnis zu ermitteln. Doch trotz der
internationalen Anerkennung für diese demokratische Leistung
des irakischen Wahlvolkes angesichts der alltäglichen
Terroranschläge mehren sich auch Zweifel am Wahlergebnis - vor
allem bei den Sunniten. Aber auch ausländische Korrespondenten
berichten von Unregelmäßigkeiten.
Wie streng dürfen die Maßstäbe
sein, die man an den Demokratisierungsprozess in einem Land wie dem
Irak anlegt? Das Land ist ein Newcomer in Sachen Demokratie. Saddam
Hussein bereitete den wenigen Ansätzen ein gründliches,
blutiges Ende. Es existiert keine demokratische Tradition, an die
sich anknüpfen ließe. Zudem befindet sich der Irak in
einem Zustand der Gewalt, der kaum ein politisches Leben
zulässt. Und dennoch: Nach einem noch von der US-Regierung
konzipierten Fahrplan wollte sich der Irak nach den ersten freien
Wahlen im Januar dieses Jahres eine neue Verfassung geben. Gedacht
war an einen nationalen Dialog unter Einschluss aller
gesellschaftlichen Gruppen, in der die Identität des neuen
Iraks definiert werden sollte. Das Vorhaben schlug gründlich
fehl.
Die Sunniten, die die Parlamentswahlen im
Januar aus Protest gegen die amerikanische Besatzung boykottiert
hatten, standen dem Vorhaben von Anfang misstrauisch bis ablehnend
gegenüber. Mit großen Anstrengungen wurde um ihre
Mitarbeit geworben und als dann einige sunnitische Vertreter mit am
Tisch saßen, stellten sie fest, dass Schiiten und Kurden wenig
bereit waren, in den zentralen Punkten auf ihre Einwände
Rücksicht zu nehmen.
Der Prozess entwickelte sich zu einem
schwierigen Kuhhandel, bei dem keine der beteiligten Gruppen zu
großen Zugeständnisse bereit war.
Um im Fahrplan zu bleiben, präsentierte
das Parlament, das den Verfassungsentwurf zu verabschieden hatte,
schließlich ein Dokument, das die meisten der umstrittenen
Fragen ausklammert. Die Liste reicht von der Rolle des Islams im
zukünftigen Rechtssystem über die Festlegung der genauen
Grenzen des kurdischen Gebietes bis hin zur Aufteilung der
Öleinnahmen. Die Austragung der Konflikte wurde auf
später vertagt, eine weitere Etappe auf dem Weg zur Demokratie
abgehakt.
Nachdem die enttäuschten Vertreter der
Sunniten ankündigten, sie würden versuchen, eine
Minoritäten-Klausel im Abstimmungsverfahren dazu zu nutzen,
die Verfassung zu Fall zu bringen, wurde hinter den Kulissen unter
der Regie des amerikanischen Botschafters weiter
verhandelt.
Zwei Tage vor der Abstimmung einigte man sich
schließlich darauf, die mühsam erarbeitete Verfassung
nicht als endgültig anzusehen. Im nächsten Parlament soll
erneut ein Ausschuss eingerichtet werden, der Änderungen
beraten soll. So wurde den Wählern am 15. Oktober eine
vorläufige Fassung vorgelegt, die wenig Eindeutiges
darüber enthält, wie sich Schiiten, Sunniten und Kurden
in Zukunft miteinander arrangieren wollen, und die zudem morgen
schon nicht mehr gelten kann.
Im Vergleich zur Parlamentswahl im Januar war
die Begeisterung, praktische Demokratie üben zu können,
allemal nicht mehr so hoch. Die wenigsten wussten, wozu sie da
eigentlich ihre Meinung abgeben sollten. Die öffentliche
Aufklärung fiel recht armselig aus, mit der Verteilung der
Kopien haperte es und eine Verfassung ist nicht unbedingt eine
Bettlektüre, die einen in ihren Bann schlägt.
So überrascht es, dass die Beteiligung
mit 63 Prozent der Abstimmungsberechtigten höher ausgefallen
sein soll als noch im Januar. Mag sein, dass die Sunniten, die sich
nun erstmals beteiligten, das rechnerische Plus ergeben, obwohl sie
gerade ein Fünftel der Bevölkerung ausmachen.
Völlig verblüffend aber ist die
Feststellung der Wahlkommission, man habe bei der Abstimmung keine
Unregelmäßigkeiten feststellen können. Ich selbst
und viele meiner Kollegen haben vor Ort sehen können, wie
mehrfach abgestimmt wurde, augenscheinlich Minderjährige
Abstimmungszettel in die Urnen warfen und einzelne Personen gleich
für die ganze Verwandtschaft abstimmten.
Die Vereinten Nationen, die im Hintergrund
die Abstimmung mit organisiert hatten, war nicht mit Beobachtern
vor Ort. Die UN-Mitarbeiter bildeten sich ihr Urteil vom
benachbarten Amman aus. Vertreter der unterschiedlichen Gruppen und
Parteien sollten den korrekten Ablauf überwachen. De facto
kontrollierten sie sich damit selbst.
Sunnitische Vertreter waren noch am
Abstimmungsabend die ersten, die den Vorwurf der Wahlfälschung
erhoben. Es gibt andere, die diesen Eindruck teilen. Auf jeden Fall
dürfte nicht das Vertrauen gestärkt worden sein, dass
jeder an der Abstimmungsurne die gleiche Chance hat, seine Meinung
zu äußern.
Von daher scheint die Erwartung, dass es
immerhin gelungen sei, die Sunniten in den politischen Prozess mit
einzubeziehen, etwas hochgesteckt. Zudem basiert sie auf der
Annahme, dass die Sunniten, die erstmals ein Stück Demokratie
geprobt und dabei verloren haben, nun die Rolle des fairen
Verlierers akzeptieren werden. Einige ihrer politischen
Repräsentanten mögen beim Treiben in der vom Lebensalltag
des Landes isolierten "Green Zone" in Bagdad auf den Geschmack
gekommen sein, aber die Mehrheit ist von diesem Politzirkus, der
Demokratie genannt wird, enttäuscht.
Vielen Schiiten und Kurden geht es nicht
anders. Ihnen bedeutet das Gerangel um Einfluss und Macht wenig.
Sie messen die Vor- und Nachteile von Demokratie an einem
schlichten Kriterium.
Im Januar haben sie mit großer Euphorie
ihr erstes demokratisches Parlament gewählt. Es dauerte fast
drei Monate, bis sich dieses Parlament auf eine Regierung einigen
konnte, und diese Regierung stellte sich dann als große
Enttäuschung heraus. Die Sicherheitslage hat sich eher
verschlechtert als verbessert. Es gibt weder mehr Strom noch mehr
Benzin, von bezahlter Arbeit ganz zu schweigen. Wen mag es wundern,
dass unter den Irakern, die nicht Opfer seiner Herrschaft zu
beklagen haben, nostalgische Gefühle für Saddam Hussein
wieder populärer werden?
Selbst im kurdischen Teil, wo die beiden
großen Parteien ihre Wähler immer fest im Griff hatten,
wird nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand über die
wachsende Unzufriedenheit mit der politischen Führung,
Korruption und schamlose Bereicherung einiger weniger
gesprochen.
Derweilen eilt der Demokratisierungsprozess
im Sauseschritt voran. Verfassungsreferendum - abgehakt. Einen Tag
nach der Abstimmung verkündigte Präsident Jalal Talabani
die nächste Etappe: Wahl eines neuen Parlamentes am 15.
Dezember. So sieht es der amerikanische Fahrplan vor.
Hinter sich lässt die neue politische
Klasse, die nun beginnt, Wahlbündnisse zu schmieden und
über das Fell des Bären zu streiten, den man im Dezember
erlegen will, eine verwirrte Bevölkerung. Das soll Demokratie
sein?
Nein, ist es nicht - nach welchem
Maßstab auch immer.
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