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Bernd Jürgen Wendt
Ein friedfertiger Lord
Hitlers englische Freunde
Es mag zunächst überraschen, dass sich
der renommierte britische Zeithistoriker und Hitler-Biograph Ian
Kershaw so eingehend mit einem Mann beschäftigt, der gewiss
nicht zu den Führungspersönlichkeiten
Großbritanniens gehört hat. Im Gegenteil: Nach seinem
doppelten politischen Absturz 1935 - im Juni als Luftfahrtminister
(1931-1935) mit anerkannten Verdiensten um den Aufbau der Royal Air
Force und im November als Lordsiegelbewahrer und konservativer
Führer des Oberhauses - hat Lord Londonderry im politischen
Leben Großbritanniens keine herausragende Rolle mehr
gespielt.
Bis zu seinem Tod im Jahre 1949 hat der Lord
nicht zuletzt durch eine Flut von Briefen alles daran gesetzt, sein
ihm durch zahlreiche Deutschlandbesuche und persönliche
Begegnungen mit Hitler, Göring, Ribbentrop und anderen
NS-Größen anhaftendes Stigma als naiver
"Nazi-Engländer" und "Bewunderer des Führers" loszuwerden
sowie sein Image als politischer Versager reinzuwaschen. Er wollte
seinen guten Ruf wiederherstellen und vor allem mit seinem, wie er
meinte, Hauptwidersacher, dem britischen Premier Baldwin,
abrechnen.
Für die Wahl seines Themas führt
der Autor überzeugende Gründe ins Feld. Er will der
Beschwichtigungs- oder "Appeasement"-Politik gegenüber Berlin
mit ihrem Höhepunkt in München 1938 biografisch "etwas
mehr Farbe" geben und zeigen, wie die Londonderry-Briefe und sein
Wirken beispielhaft ein Prisma darstellen, "in dem sich in
lebendigen Farben die Geisteshaltungen, die wechselnden
Einstellungen und die politische Unentschlossenheit einer mit dem
wachsenden Problem der nationalsozialistischen Bedrohung
konfrontierten Gesellschaft widerspiegeln".
Kershaw hat mit seinem interessanten
historisch-politischen Buch zugleich der Familie Londonderry, einem
noch im 19. Jahrhundert wurzelnden hochadeligen politischen
Establishment, ein Denkmal gesetzt. Der Einfluss des Hochadels war
nach dem Ersten Weltkrieg mit der Demokratisierung der Politik und
der Verbürgerlichung ihrer Führungsschichten rapide
gesunken.
Aus Trotz über seine Entlassung und um
es "den Stümpern im Außenministerium zu zeigen", hatte
Londonderry 1936 eine Doppelstrategie entwickelt: Er wollte
einerseits durch persönliche Kontakte mit der Führung in
Berlin wie viele andere auch - etwa der Weltkriegspremier Lloyd
George und der Zeitungszar Lord Rothermere - ein Bündnis
schmieden, "die Deutschen in hilfreiche Partner im Weltenplan
verwandeln", ihnen die Rückkehr in die Genfer
Abrüstungskonferenz ebnen und dadurch auf Dauer den Frieden
sichern. Zum anderen wollte er aber auch, gleichsam als
Rück-versicherung und Abschreckung, einen hohen britischen
Rüstungsstand vor allem in der Luft schaffen.
Das Missverständnis war gegenseitig:
Londonderry hat den aggressiven und expansiven Charakter der
NS-Außenpolitik wohl nie durchschaut. Und Hitler verfiel dem
Irrtum, sich ausgerechnet durch Londonderry den Zugang nach
Whitehall für ein Bündnis zu deutschen Bedingungen, also
freie Hand auf dem Kontinent, öffnen zu können. Zwar
kritisiert Kershaw mit einigem Recht das "Appeasement" unter
Chamberlain als unmoralisch gegenüber der Tschechoslowakei,
als eine Politik des Taktierens ohne eine langfristige Strategie
und als fortgesetzte Kapitulation gegenüber deutschen
Erpressungen, um dann aber rein theoretisch denkbare und von ihm
eingehend diskutierte andere Optionen für den schwierigen
Umgang mit dem Diktator als undurchführbar zu verwerfen: ein
Bündnis mit ihm auf Kosten Frankreichs, ein
Präventivkrieg zum Sturz des NS-Regimes, eine politische
Eindämmung in einem zerstrittenen Europa und eine massiv
abschreckend wirkende britische Aufrüstung.
"Schwachkopf Charlie"
Als aristokratischer Grande, nordirischer
Grundherr und schottischer Bergwerksbesitzer verdankte Lord
Londonderry Macht, Ansehen und Karriere im wesentlichen dem
Reichtum, der Patronage, den Privilegien und persönlichen
Beziehungen etwa zu seinem entfernten Cousin Winston Churchill, der
freilich einmal vom "Schwachkopf Charlie Londonderry" sprach. Das
Haus Londonderry war mit seinen glanzvollen Empfängen ein
gesellschaftlicher Mittelpunkt in der britischen Hauptstadt. Stolz
sah sich Londonderry als Abkomme Lord Castlereaghs, einer der
Architekten der Wiener Ordnung von 1815. Ihm wollte er
nacheifern.
Leider verstrickt sich der Autor bei der
Frage nach einem Ende des "Appeasement" beim deutschen Einmarsch in
Prag 1939 in Widersprüche. Auch können geschliffene
Formulierungen und treffende Analysen nicht über eine
bisweilen etwas ermüdende Weitschweifigkeit des Buches
hinwegtäuschen.
Ian Kershaw
Hitlers Freunde in England.
Lord Londonderry und der Weg in den
Krieg.
Aus dem Englischen Von K.-D.
Schmidt.
Deutsche Verlags-Anstalt, München
2005; 546 S, 29,90 Euro
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