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Dirk Klose
Leseratten und Bücherwürmer
Die Frankfurter Buchmesse 2005 meldet
Rekordergebnisse
Allen Unkenrufen zum Trotz konnte die 57.
Frankfurter Buchmesse (18.-23. Oktober) auch diesmal wieder mit
Rekordzahlen aufwarten: Die Zahl der Aussteller hat sich ebenso
erhöht wie die Zahl der Besucher. Die Messe ist, wie der neue
Messedirektor Jürgen Boos zur Eröffnung sagte,
"wirtschaftlich weiterhin gut unterwegs". Gastland war diesmal
Korea, genauer: Südkorea, das die Chance nutze, sich als Land
mit ganz eigener kultureller Tradition zu präsentieren. Auch
im kommenden Jahr ist der Blick nach Asien gerichtet, dann wird
Indien Gastland auf der Bücherschau sein.
Als am Sonntagabend die Buchmesse zu Ende
ging, waren nach Angaben der Veranstalter exakt 284.838 Besucher
gekommen. Mit mehr als 7.200 Einzelausstellern aus 101 Ländern
wurde die Vorjahreszahl von 6.700 Ausstellern aus 110 Ländern
noch einmal übertroffen. Mit 380.000 ausgestellten Titeln
waren es 30.000 mehr als 2004.
Messedirektor Boos warnte allerdings davor,
auch für die Zukunft ein anhaltendes Wachstum vorauszusetzen.
Alle wichtigen Verlagshäuser in der Welt seien inzwischen in
Frankfurt vertreten, sehr viel mehr werden es darum nicht mehr
werden. Um dennoch auf Wachstumskurs zu bleiben, will sich die
Messe schon bald als Buchpartner im Ausland präsentieren. Der
Anfang soll bereits im kommenden Jahr in Südafrika gemacht
werden, wo im Juni in Zusammenarbeit mit dem südafrikanischen
Verlegerverband eine neue Buchmesse in Kapstadt starten
soll.
Auflagen und Ärgernisse
Interessante Zahlen gab es zur weltweiten
Buchproduktion. Im vergangenen Jahr sind in der Europäischen
Union 387.000 neue Titel herausgekommen, davon 80.000 in
Deutschland, je 30.000 in Spanien und Italien und 22.000 in
Frankreich. Die EU lag damit vor dem englischsprachigen Raum, der
375.000 Titel aufweist (USA 195.000, Vereinigtes Königreich
85.000) und vor Asien mit 300.000 Titeln (darunter China mit
110.000 und Japan mit 72.000 Titeln). Schließlich eine eher
traurig stimmende Zahl, die schon im Vorjahr von der UNESCO
publiziert und jetzt wieder bestätigt wurde: Im gesamten
arabisch sprechenden Raum mit seinen über 200 Millionen
Menschen werden weniger ausländische Titel in die heimische
Sprache übersetzt als in Griechenland mit seinen knapp
zwölf Millionen Bewohnern.
Bei den Verlagen "führt" Russland mit
6.300 Verlagen vor Japan (4.361), den USA (83.200),
Großbritannien (2.275) und Deutschland (1.827). Für den
gesamten spanisch sprechenden Raum sind 3.500 Verlage ausgewiesen.
In der Bundesrepublik Deutschland gibt es 4.349 Buchhandlungen
(Stand 30.04.2005), das sind 91 weniger als vor einem
Jahr.
Bei den Sachbüchern ist unverkennbar,
dass zu den bisher als vorrangig angesehenen Themen aus Politik,
Zeitgeschichte, Globalisierung und Ökologie immer stärker
auch Fragen des interkulturellen und auch interreligiösen
Dialogs treten. Spätestens seit den Terroranschlägen vom
11. September 2001 steht das Thema "Islam" ganz oben an. Nach der
ersten Publikationswelle, die häufig allzu einseitig
Terrorismus und religiösen Fanatismus thematisierte,
wächst jetzt die Zahl der Publikationen, die überhaupt
erst einmal informieren wollen. Für fast jedes arabische Land
gibt es mittlerweile gute Einführungen zur Geschichte, zur
Kultur und Literatur, auch zu ethnischen Fragen.
Manche Autoren, die vor 30 Jahren bei der
ersten Ölkrise, als auch unverhofft das Interesse an den
islamisch geprägten Ländern wuchs, en vogue waren, sind
es auch heute wieder. Und so wie damals wird jetzt wieder die
Notwendigkeit eines Dialogs zwischen den Religionen gesehen, was
dann sehr schnell zur Analyse der eigenen Wertvorstellungen
führt.
Wie dringlich das Thema "Religionen heute"
geworden ist, zeigt sich auch daran, dass ausgerechnet der Suhrkamp
Verlag, der sich doch nach landläufiger Meinung den
"säkularen" Werten der Aufklärung verpflichtet
fühlt, im kommenden Jahr einen "Verlag der Weltreligionen"
gründen will - übrigens in Ergänzung zu einer
ebenfalls neuen "Edition Unseld", die aktuelle Themen aus Geistes-
und Naturwissenschaften bündeln soll. Man spürt, dass es
an der Zeit ist, religiöse Themen als dringende politische
Fragen einer neuen Weltordnung zu sehen; dass Religion "tot" sei,
möchte heute niemand mehr behaupten.
"Writers in Prison"
Schon Tradition - man muss sagen: eine
bedauerliche Tradition - hat die auf jeder Buchmesse anberaumte
Pressekonferenz des PEN-Zentrums Deutschland zum Thema "Writers in
Prison". Es ist eine Aktion von Kulturschaffenden, überwiegend
von Schriftstellern, für verfolgte oder bedrohte Kollegen in
Ländern, in denen Meinungs- und Pressefreiheit wenig
gelten.
Nach PEN-Angaben sind im ersten Halbjahr 2005
weltweit 28 Schriftsteller und Journalisten getötet worden;
zwölf sind spurlos verschwunden, mehr als 200 Menschen wurden
verfolgt und inhaftiert, über 100 auf andere Weise attackiert
oder bedroht. Immerhin konnte durch entschiedenen öffentlichen
Protest fast der Hälfte der Betroffenen geholfen werden, sei
es, dass Haftstrafen erlassen wurden, sei es, dass Ausreisen
gestattet wurden.
In vielen Ländern ist der Gummiparagraf
der "Diffamierung" Anlass genug, um Verfolgungen einzuleiten oder
harte Haftstrafen auszusprechen. In China, Vietnam und Tunesien
wurden beispielsweise mehrere Internet-Journalisten massiv bedroht,
in mehreren südamerikanischen Ländern verschwanden mutige
Verleger spurlos. In Frankfurt wurden der zynische Ausspruch
iranischer Vernehmungsbeamter zitiert: "Wir erleichtern ihnen den
Tod."
Aufgehende Sonne
Südkorea hatte keine Mühe gescheut,
sich als Land mit reicher kultureller Tradition zu
präsentieren. Der große Saal der Halle 1 war in mildes
Licht getaucht, das den zahlreich aufgestellten großen Steinen
ein geheimnisvolles Aussehen gab und zwölf in Großbild
präsentierte Autoren beleuchtete. An den Steinen konnte man
sich elektronisch über insgesamt 100 Bücher informieren -
Bücher, die nach koreanischen Angaben alles Wichtige über
Geschichte und Kultur des Landes aussagen. Denn als ein Kulturland,
weniger als einer der prosperierenden "global player" in der
heutigen Weltwirtschaft präsentierte sich das
fernöstliche Land; man spürte förmlich, wie sehr es
sich gegen seine übermächtigen Nachbarn Japan und China
behaupten wollte. Voller Stolz zeigte man die berühmte
"Jikij"-Schrift von 1387, die mittels eines erstmals technischen
Buchdrucks, also gut 100 Jahre vor Guten- berg, verfasst wurde.
Heute steht sie in der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes.
Zur Messeeröffnung war der
südkoreanische Ministerpräsident Lee Hae Chan gekommen.
Er beklagte eine "Distanz" zwischen den Kulturen des Ostens und des
Westens, die trotz aller technologischen Fortschritte
weiterbestehe; ja, die gewaltige Informationsmenge der heute
digital verbundenen Gesellschaften führe eher zu einem
Desinteresse "am großen geistigen Erbe anderer Kulturen". Er
würdigte die Buchmesse zugleich als "große geistige
Seidenstraße", die Begegnungen zwischen den Völkern
ermögliche.
Zwischen den Stühlen
Mit Orhan Pamuk erhielt nach Yasar Kemal
(1997) zum zweiten Mal ein türkischer Autor den Friedenspreis
des deutschen Buchhandels. Wie es sich für einen richtigen
Schriftsteller gehört, sitzt Pamuk zwischen allen
Stühlen. In seiner Heimat sieht er sich angesichts seiner
weltoffenen Haltung angefeindet, ja inzwischen von der Justiz
bedroht; in Frankfurt gab es nach der Preisrede in der Paulskirche
wegen des vehement vorgetragenen Plädoyers für einen
EU-Beitritt der Türkei manches Stirnerunzeln. Pamuk hatte
gewarnt: "In Europa eine Türkenfeindlichkeit zu schüren
führt leider dazu, dass sich in der Türkei ein
europafeindlicher, dumpfer Nationalismus entwickelt." Es gelte,
eine Entscheidung zwischen Frieden und Nationalismus zu
treffen.
Unendlich viele Eindrücke der Buchmesse
sind jetzt zu verarbeiten. Im koreanischen Pavillon war ein
bedenkenswerter Satz zu lesen: "Seit alten Zeiten hegten die
Koreaner die Auffassung: Ein Tag ohne Lektüre hinterlässt
einen schalen Geschmack." Bei dem breiten und interesanten Angebot
dieses Herbstes liegt es an jedem Leser selbst, welchen Geschmack
er während der kommenden Wochen im Munde
spürt.
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