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Karl Otto Sattler
"Der Berg hat zweieinhalb Jahre gekreißt und
gebar eine Maus"
Einführung eines Eurodistricts bleibt
hinter den Erwartungen zurück
Erste Pläne für einen Europa-Distrikt
wurden schon in den 50er Jahren geboren. Ursprünglich sollte
dieser als Sitz für supranationale, europäische
Behörden fungieren. Nach dem Vorbild des amerikanischen
Bundesstaates Washington D.C. gab es Überlegungen für
einen europäischen Sonderdistrikt mit Straßburg als
Europäischer Hauptstadt. Frankreichs Staatspräsident
Jacques Chirac und Bundeskanzler Gerhard Schröder versuchten
im Jahr 2003, die Vision eines Eurodistrikts politisch neu zu
beleben. Doch in der Realität fehlt es der Idee der
grenzüberschreitenden Zusammenarbeit weiterhin an
Schubkraft.
Kai Littmann hat allen Grund, zufrieden zu
sein. Die 120 französischen und deutschen Mitglieder des
"Bürgerforums Eurodistrikt", dessen Vorsitzender der in
Straßburg lebende Badener ist, entwickeln nicht nur
schöne Ideen für die transnationale Zusammenarbeit am
Oberrhein, sondern packen auch handfest an. So betreibt ein
elsässisch-badisches Team inzwischen ein Internet-Radio und
will nun eine UKW-Frequenz beantragen. In Straßburg wurden
aufgrund einer Initiative der Assoziation jüngst in einer
Vorschule zwei bilinguale Klassen eingerichtet, aus denen die erste
"Eurodistrikt-Schule" mit zweisprachigem Unterricht vom
Kindergarten bis zum Abitur erwachsen soll. "Wir sind momentan auch
dabei, in Straßburg bei einem Kaufhaus alle Waren auf
Französisch und Deutsch zu etikettieren", erzählt
Littmann.
Gleichwohl ist der aktive Grenzpendler
ziemlich enttäuscht. Und zwar wegen der offiziellen Politik:
"Das Dokument ist sehr dünn, man ist zu kurz gesprungen,
Konkretes wurde nicht beschlossen", klagt Littmann, "nicht einmal
zu einem gemeinsamen Sprecher hat es gereicht." Die Kritik richtet
sich gegen das, was jetzt im historischen Rathaus der
elsässischen Hauptstadt auf staatlicher Ebene als
"Eurodistrikt" aus der Taufe gehoben wurde: Hinter diesem
schön klingenden Titel verbirgt sich nicht viel mehr als die
Etablierung eines Gremiums namens "Eurodistriktrat". Er setzt sich
aus badischen und elsässischen Mandatsträgern zusammen,
die politisch und rechtlich unverbindliche Anstöße
für grenzübergreifende Projekte in der Verkehrs-,
Wirtschafts-, Bildungs-, Umwelt- oder Gesundheitspolitik geben
soll.
"Der Berg hat zweieinhalb Jahre gekreißt
und gebar eine Maus", könnte man in Anlehnung an das bekannte
Sprichwort sagen. Ursprünglich sollte der Eurodistrikt am
Oberrhein als Pilotmodell in der gesamten EU der transnationalen
Kooperation vor Ort neue Qualität verschaffen. Mittlerweile
hat sich die Geschichte dieser Idee indes als Lehrstück
entpuppt: als Beispiel für die Diskrepanz zwischen
ambitionierten Planern in den Hauptstädten und der
bescheidenen Umsetzung ihrer Ideen in der Praxis. Und das Thema
offenbart, mit welchem Problem europäische Politik im Alltag
nach wie vor zu kämpfen hat: der mangelnden Bereitschaft,
Kompetenzen abzutreten.
Im Jahr 2003 begingen Deutschland und
Frankreich feierlich den 40. Jahrestag des Elysée-Vertrags.
Bei diesem Jubiläum sorgten Staatspräsident Jacques
Chirac und Kanzler Gerhard Schröder für politischen und
medialen Wirbel: Sie riefen Straßburg und den badischen
Ortenaukreis mit der Grenzstadt Kehl zum Experimentierfeld für
die Gründung des ersten "Eurodistrikts" aus. Straßburg
mit den dort ansässigen Institutionen vom Europarat über
den Menschenrechtsgerichtshof bis hin zum EU-Parlament versprach
die nötige Symbolkraft. Erstmals sollten eine deutsche und
eine französische Gebietskörperschaft mit gemeinsamen
Verwaltungsstrukturen ausgestattet werden. Alternativ wurde
zumindest ein badisch-elsässischer Zweckverband als
abgespeckte Variante einer einheitlichen Adiministration
diskutiert.
Die damalige Pariser Europaministerin Noelle
Lenoir skizzierte schon die Vision eines "gemeinsamen Etats und
gemeinsamer Kommunalwahlen" für Straßburg und die
Ortenau. Straßburgs Bürgermeisterin Fabienne Keller,
Robert Grossmann als Präsident des Straßburger
Stadt-Umland-Verbandes und Kehls OB Günther Petry begannen mit
ihren deutschen und französisichen Kollegen zu verhandeln. Ein
regelrechtes Fieber brach los. Colmar und Mülhausen im
Südelsass sowie Freiburg bereiten ihrerseits einen eigenen
Eurodistrikt vor. Auch der Stadtverband Saarbrücken, dem die
Landeshauptstadt und Umlandgemeinden angehören sowie
lothringische Grenzlandkommunen machten sich ans Werk.
Aber ist so etwas wie ein Eurodistrikt
überhaupt nötig? Schließlich preist man sich von
Saarbrücken über Karlsruhe und Straßburg bis
Freiburg schon seit jeher als "europäische Herzregion". Kehls
OB Petry sieht den Oberrhein als "Versuchsküche Europas". So
organisierten Straßburg und Kehl eine binationale Gartenschau
am Rheinufer: Deren Prunkstück, eine imposante neue
Fußgänger- und Radlerbrücke, bringt die
Verbundenheit nun dauerhaft zum Ausdruck. Die Kommunalparlamente
Freiburgs und Mülhausens sowie Waldkirchs und des
elsässischen Schlettstadts treffen sich regelmäßig
zu Sitzungen. Die Bücherbusse der Freiburger und
Mülhauser Bibliotheken fahren auch in die Partnerstadt, an
Schulen beider Orte werden gemeinsame Umweltpreise verliehen. Die
Rheinanliegergemeinden Hartheim (deutsch) und Fessenheim
(französisch) bauten eine Brücke. Die Präfektur in
Colmar und das südbadische Regierungspräsidium
organisieren Katastrophenschutzübungen für den Fall eines
Unglücks im Atomkraftwerk Fessenheim. Karlsruhe lässt
seine Straßenbahn bis in die elsässische Nachbarschaft
fahren, die Saarbrücker Stadtbahn pendelt bis ins
lothringische Saargemünd. Die Beispiele ließen sich
fortsetzen. Doch die grenzübergreifende Kooperation ist
zeitraubend: In jedem Einzelfall müssen die
Gebietskörperschaften miteinander verhandeln, häufig
Landesregierungen, regionale Verwaltungen oder Präfekturen
einschalten und zudem mühsam Brüsseler
Subventionstöpfe anzapfen - und sei es nur für die
zweisprachige Ausschilderung eines Radwanderweges zwischen
Schwarzwald und Vogesen.
Da hätte ein Eurodistrikt als
administrative Struktur mit Entscheidungskompetenzen einen echten
Schub bringen können. Doch wie schon so oft ist auch dieses
Mal der Versuch gescheitert, Hoheitsrechte auf eine supranationale
Instanz zu verlagern. Der Eurodistrikt-rat Straßburg/Ortenau,
in dem sich regionale Politiker treffen, hat weder einen Etat noch
ein Büro. Die badischen und elsässischen Vertreter
ließen es sich zudem nicht nehmen, jeweils einen eigenen
Sprecher zu wählen.
Aufgabe des Gremiums ist es, die
transnationale Kooperation "voranzutreiben und zu
unterstützen". Befürwortet die Kommission gemeinsame
Vorhaben, müssen diese aber trotzdem noch einmal von den
betroffenen Gebietskörperschaften gebilligt und finanziert
werden - so wie bisher.
Wenn Freiburg, Colmar und Mülhausen
Anfang 2006 den Vertrag über ihren Eurodistrikt unterzeichnen,
dann dürfte dies nicht viel mehr sein als eine politische
Willensbekundung zur Vertiefung der Zusammenarbeit. Im
saarländisch-lothringischen Gebiet soll ein Gutachten die
Perspektiven der binationalen Agglomeration untersuchen. Christof
Kiefer ist skeptisch: "Einheitliche Verwaltungsstrukturen wird es
wohl nicht geben." Einen grenzübergreifenden Zweckverband
hält der Sprecher des Stadtverbands Saarbrücken eventuell
für denkbar, aber auch nur "mit begrenzten Kompetenzen etwa
bei der Raumordnung und
Flächennutzungsplänen".
Während der Vorarbeiten für den
Eurodistrikt Straßburg/Ortenau wurde eine Fülle
nützlicher Ideen dis-kutiert: einheitliche Autokennzeichen,
günstige Ortstarife beim Telefonieren über die Grenze,
die gemeinsame Nutzung medizinischer Großgeräte, der
Ausbau der Verkehrswege über den Rhein, eine abgestimmte
Wirtschaftsförderung, transnational gültige
Krankenkassenchipkarten und vieles mehr. Ob der Eurodistriktrat
diese Projekte zu verwirklichen vermag, steht freilich
dahin.
Das Bürgerforum setzt derweil schon mal
Stein auf Stein. In Kehl hat die Initiative neuerdings ein
"Bürgerbüro Eurodistrikt" eröffnet als Anlaufstelle
für alle, die mitmachen wollen - wobei Straßburger sogar
zu ihrem Ortstarif anrufen können. Kai Littmann: "Wir wollen
das offizielle Papier mit Leben erfüllen."
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