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Dr. Wolfgang Gaiser, Martina Gille, Johann de
Rijke, Dr. Sabine Sardei-Biermann
Politik und Jugend - eine reformbedürftige
Beziehung
Was ist dran am Bild der politikmüden
Jugend? Eine Antwort des Deutschen Jugend Instituts (DJI)
München
In der Öffentlichkeit wird der Jugend
häufig Politikverdrossenheit, Desinteresse an Politik und
mangelndes Engagement attestiert. Gelegentlich wird ihr sogar der
Verlust demokratischer Orientierungen angelastet. Was stimmt an
diesen Zuschreibungen und Befürchtungen? Ist die Lebensphase
Jugend ein politikfreier Raum?
Tatsächlich ist Politik als
Lebensbereich für Jugendliche und junge Erwachsene deutlich
weniger wichtig als Freundeskreise, Familie, Schul- und
Berufsausbildung sowie Arbeit und Beruf; letztere Bereiche werden
von über 90 Prozent als wichtig eingestuft, während
Politik nur von 42 Prozent als wichtig erachtet wird (siehe linke
Grafik). Dies ergeben die Daten des Jugendsurvey des Deutschen
Jugendinstituts (DJI) in München, der auch für die
meisten anderen hier verwendeten Ergebnisse die Grundlage ist. Der
Jugendsurvey ist eine vom Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderte,
repräsentative Befragung unter rund 7.000 jungen Menschen im
Alter von 16 bis 29 Jahren, die in den Jahren 1992, 1997 und 2003
durchgeführt wurde.
Allerdings könnte dieses Ergebnis auch
eher als Ausdruck jugendspezifischer Lebensverhältnisse
verstanden werden und weniger als mangelnde Wertschätzung der
Politik; es zeigt die besondere Bedeutung sozialer Netze und der
Ausbildungs- und Arbeitsmarktintegration im Jugend alter. Dass
Politik für junge Menschen durchaus ein relevanter Bezugspunkt
ist, zeigt sich daran, dass immerhin ein Fünftel ein starkes
Interesse an Politik bekundet und zwei Fünftel ein mittleres
Interesse. Dabei nimmt das Interesse an Politik mit dem Alter zu.
Repräsentative Bevölkerungsumfragen zeigen darüber
hinaus, dass das Politikinteresse der über 30-Jährigen
noch deutlich größer ist. Das Verständnis für
Politik ist Ergebnis eines längerfristigen
Sozialisationsprozesses, in dessen Verlauf sich junge Menschen
zunehmend mehr Wissen aneignen und in öffentliche Räume
hineinwachsen, und es setzt eine gewisse Lebenserfahrung
voraus.
Dementsprechend schätzen Jugendliche und
junge Erwachsene ihre eigene politische Kompetenz nicht sehr hoch
ein. Allerdings steigen in ihrer Selbstwahrnehmung ihre politischen
Fähigkeiten mit dem Alter deutlich. Während von den 16-
bis 17-Jährigen erst 26 Prozent der Aussage "Ich verstehe eine
Menge von Politik" zustimmen, sind dies unter den 27- bis
29-Jährigen schon 39 Prozent. Von besonderer Bedeutung
für das politische Interesse und die subjektive politische
Kompetenz ist das Bildungsniveau: Bildung fördert sehr
deutlich Interesse an und das Verständnis für Politik.
Auch die Geschlechtszugehörigkeit spielt eine Rolle: Junge
Männer äußern mehr politisches Interesse als junge
Frauen.
Dass politische Themen junge Menschen im
Alltag aber durchaus immer wieder beschäftigen, zeigt sich
daran, dass fast die Hälfte von ihnen sehr oft oder oft im
Freundes- und Bekanntenkreis, mit ihrem Partner beziehungsweise
ihrer Partnerin und mit Mitschülern oder Kommilitonen
Gespräche über politische Fragen führen. Politik ist
also sehr wohl ein Bereich, der für die Mehrheit der jungen
Menschen zu ihrer Lebenswelt gehört.
Veränderungstendenzen seit Anfang der 90er-Jahre sind dabei
kaum festzustellen, allenfalls Schwankungen beim politischen
Interesse aufgrund spezifischer Anlässe wie zum Beispiel
Wahlen.
Welche Einstellungen gegenüber dem
politischen System werden von Jugendlichen und jungen Erwachsenen
vertreten? Gibt es einen nennenswerten Anteil junger Menschen, die
dem System der Bundesrepublik kritisch gegenüberstehen? Die
empirischen Ergebnisse zeigen, dass die Idee der Demokratie von
fast allen jungen Menschen befürwortet wird. Trotz dieser
grundsätzlichen Zustimmung ist in Ostdeutschland eine graduell
geringere Befürwortung festzustellen: Der Anteil derjenigen,
die der Idee der Demokratie nur "etwas" zustimmen, die also eine
gewisse Distanz zu dieser politischen Ordnungsvorstellung zum
Ausdruck bringen, ist in den östlichen Bundesländern
deutlich größer. Bedenklich ist die nachlassende
Zustimmung zur Idee der Demokratie seit Anfang der 90er-Jahre in
West- und noch ausgeprägter in Ostdeutschland und die
Tatsache, dass diese Tendenz insbesondere bei den Gruppen, die nur
ein vergleichsweise niedriges Bildungsniveau erreicht haben und
durch Modernisierungsprozesse verunsichert sind, zu beobachten
ist.
Im Gegensatz zur grundsätzlichen
Befürwortung eines demokratischen Systems ist die
Zufriedenheit der jungen Menschen mit der Alltagswirklichkeit der
Demokratie in der Bundesrepublik sehr viel geringer. Nur gut zwei
Drittel in Westdeutschland und ungefähr die Hälfte in
Ostdeutschland äußern sich in dieser Hinsicht als sehr,
ziemlich oder etwas zufrieden. Darüber hinaus hat die
Zufriedenheit mit der realen Demokratie in West- und Ostdeutschland
seit Anfang der 90er-Jahre erheblich abgenommen. Diese Entwicklung
entspricht in etwa Veränderungstendenzen, wie sie für die
bundesdeutsche Bevölkerung generell festgestellt worden
sind.
Bei der Abnahme der Demokratiezufriedenheit
der jungen Menschen lassen sich wieder ausgeprägte
Bildungseffekte nachweisen: Der Rückgang geht insbesondere auf
diejenigen mit Hauptschulabschluss oder mittlerer Reife
zurück. Als noch bedeutsamer als das Bildungsniveau erweisen
sich darüber hinaus die Zufriedenheit mit den eigenen
Lebensverhältnissen, Orientierungsunsicherheiten und
Einschätzungen der Gerechtigkeit der sozialen Unterschiede
sowie des "gerechten Anteils", den man selbst vom
gesellschaftlichen Wohlstand erhält.
Die insgesamt recht große
Unzufriedenheit mit der realen Demokratie hängt unter anderem
auch damit zusammen, dass das Vertrauen der jungen Menschen in die
Reaktionsbereitschaft des politischen Systems und seiner Akteure
nicht sehr groß ist. Etwa drei Viertel der jungen Menschen
glauben, dass die Politiker nur daran interessiert sind,
gewählt zu werden und sich "nicht viel darum kümmern, was
Leute wie ich" denken. Ein sehr geringes Vertrauen wird auch den
Institutionen der etablierten Politik wie der Bundesregierung, dem
Bundestag und den Parteien entgegengebracht. Viel größer
ist dagegen das Vertrauen, wenn es um die Einschätzung
staatlicher Institutionen geht, die vom alltäglichen Prozess
der Politik unabhängiger sind beziehungsweise diesem als
Kontrollinstanz gegenüberstehen, wie zum Beispiel das
Bundesverfassungsgericht und die Polizei. Dabei sind die
Bewertungen solcher Institutionen durchaus nicht jugendspezifisch,
sondern lassen sich ähnlich auch bei Erwachsenen
finden.
Trotz der sehr häufig skeptischen
Einschätzungen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen
gegenüber der Politik, ist ihre Bereitschaft zu politischer
Partizipation durchaus beträchtlich (siehe rechte Grafik). Die
Beteiligung an Wahlen steht dabei mit Abstand an erster Stelle.
Für vier Fünftel kommt die Beteiligung an
Unterschriftensammlungen in Frage, für drei Fünftel die
Beteiligung an genehmigten Demonstrationen und für fast ebenso
viele die Mitarbeit in einem Mitbestimmungsgremium in Schule,
Ausbildungsstätte oder Betrieb. Etwas geringer ist die
Bereitschaft zur Beteiligung an Dis-kussionen in öffentlichen
Versammlungen und an gewerkschaftlichen Streiks.
Diese verschiedenen Formen politischer
Partizipation werden auch tatsächlich häufig genutzt; an
erster Stelle steht wieder die Beteiligung an Wahlen. Zwei Drittel
der jungen Menschen haben bereits an Unterschriftensammlungen, etwa
ein Drittel an einer genehmigten Demonstration teilgenommen.
Veränderungstendenzen seit Anfang der 90er-Jahre sind bei den
Bereitschaften zu politischer Aktivität in unterschied- lichem
Maße vorhanden: Bei Unterschriftensammlungen und genehmigten
Demonstrationen etwa hat es kaum einen Rückgang gegeben, bei
der Bereitschaft zu einem gewerkschaftlichen Streik hingegen schon.
Insgesamt kann man aber nicht von einem massiven Rückgang
sprechen.
Informelle politische Gruppierungen, die
spezifische soziale Probleme thematisieren und häufig mit
Mitteln öffentlichen Protests agieren - häufig als "Neue
Soziale Bewegungen" bezeichnet - , haben gerade bei jungen Menschen
eine hohe Anziehungskraft. So wird Umweltschutzgruppen,
Friedensinitiativen, Menschenrechtsgruppen und
Tierschutzinitiativen viel Sympathie entgegengebracht; etwa drei
Viertel der jungen Menschen befürworten diese Gruppierungen.
Mit etwas Abstand folgen Dritte-Welt-Initiativen,
Selbsthilfegruppen und Initiativen in der Region, dem Stadtteil
oder der Nachbarschaft. Die tatsächliche Beteiligung, zum
Beispiel durch aktive Mitgestaltung, ist bei den jeweiligen
Gruppierungen nicht sehr hoch; dennoch ist insgesamt fast ein
Viertel der jungen Menschen in einer solchen Gruppe aktiv. Dieser
Anteil ist seit 1992 etwa gleich geblieben. Dafür, dass die
"Politikverdrossenheit" in der Lebensphase Jugend zu einer
abnehmenden Beteiligung führen könnte, gibt es insofern
keine empirischen Hinweise.
Insgesamt gesehen beteiligen sich
Mädchen und junge Frauen am politischen Leben fast in gleichem
Ausmaß wie ihre männlichen Altersgenossen. Nur
Parteiarbeit und politische Ämter sind nach wie vor eher
"Männersache". Bei anderen Formen spielen
Geschlechterunterschiede dagegen kaum eine Rolle. Im Hinblick auf
geäußerte Sympathien und auch die aktive Beteiligung bei
den "Neuen Sozialen Bewegungen" zeigen sich junge Frauen
gleichermaßen engagiert wie junge Männer. Die
ökologischen und sozialen Ziele und die flexiblen Strukturen
solcher eher informellen Gruppierungen schaffen offensichtlich
bessere Beteiligungsmotivationen und Zugangschancen für
Mädchen und junge Frauen.
Bildungseffekte sind beim Zugang junger
Menschen zur Politik erheblich: Eine längere und
anspruchsvollere Bildungsphase verbindet sich nicht nur mit
höherem politischem Interesse und größerer
politischer Kompetenz, sondern auch mit stärkerer Beteiligung
bei informellen Gruppierungen, insbesondere den Umweltschutz-,
Menschenrechts- und Selbsthilfegruppen sowie bei den Friedens- und
Dritte-Welt-Initiativen. Bei anderen Partizipationsformen sind
Bildungseffekte teils niedrig - am geringsten beim Wählen -
aber teils auch deutlich feststellbar, beispielsweise beim Spenden
für politische Zwecke, beim Schreiben von Briefen an Politiker
und der Teilnahme an Demonstrationen. Das politische Interesse
selbst hat einen starken Einfluss auf politische Partizipation: Als
bedeutsam erweisen sich auch Wertorientierungen, die
Meinungsfreiheit und Mitbestimmung betonen, sowie politisch
orientierte soziale Netze.
Auch wenn es eine Vielfalt von
Möglichkeiten der politischen Teilnahme für junge
Menschen gibt, sind sie generell gesehen mit ihren
Möglichkeiten zur politischen Einflussnahme äußerst
unzufrieden (siehe mittlere Grafik). Fast die Hälfte von ihnen
bringt große Unzufriedenheit zum Ausdruck und nur ein Zehntel
ausgesprochene Zufriedenheit. Dabei ist die Unzufriedenheit in
Ostdeutschland sowie bei den unteren Bildungsgruppen besonders
hoch. Selbst von denjenigen, die ein starkes politisches Interesse
bekunden oder sich eine hohe politische Kompetenz zuschreiben, ist
es gut ein Drittel, das mit seinen politischen
Einflussmöglichkeiten sehr unzufrieden ist.
Etwas geringer ist die Unzufriedenheit bei
jungen Erwachsenen, wenn es um die eigenen politischen Rechte und
Freiheiten geht. In dieser Hinsicht äußert sich ein
knappes Viertel als sehr unzufrieden und ungefähr ein Viertel
als zufrieden. Davon, dass mehrheitlich Zufriedenheit zum Ausdruck
gebracht wird, kann aber auch in dieser Hinsicht nicht gesprochen
werden. Beides deutet darauf hin, dass im Verhältnis von
Jugend und Politik Veränderungsbedarf besteht.
Für weitere Informationen zum
Jugendsurvey: www.dji.de/jugendsurvey
Die Autoren arbeiten als Wissenschaftler am
Deutschen Jugend Institut (DJI) in München und sind dort
für die Durchführung des Jugendsurveys
verantwortlich.
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