Die Jugendlichen verstehen die Spielregeln
nicht
Interview mit Klaus Hurrelmann, Professor an der
Universität Bielefeld
Klaus Hurrelmann hat die 14. Shell-Jugendstudie
2002 mitkonzipiert und -koordiniert. Er ist Professor für
Sozial- und Gesundheitswissenschaften an der Universität
Bielefeld. Derzeit arbeitet er unter anderem an den Vorbereitungen
für die nächste Shell-Jugendstudie, die im September 2006
erscheinen wird.
Das Parlament: Herr Hurrelmann, kann
man von "den Jugendlichen" als einer homogenen Gruppe
sprechen?
Klaus Hurrelmann: Nein. Die
Shell-Studie unterscheidet vier große Typen, das heißt
unterschiedliche Möglichkeiten, sich mit der
gegenwärtigen Situation zu arrangieren. Die "selbstbewussten
Macher", die besonders ehrgeizig sind, und die "pragmatischen
Idealisten", die stärker auf eine Humanisierung der
Gesellschaft setzen. Das erste ist die Leistungs-, das andere die
Engagementelite. 2002 konnte man etwa 55 bis 60 Prozent in diese
beiden Gruppen einordnen. Beide sind karriereorientiert. Zudem gibt
es die "robusten Materialisten" und die "zögerlichen
Unauffälligen": Beide Gruppen schauen skeptisch in die
Zukunft. Letztere reagieren auf ungünstige Situationen vor
allem mit Resignation und Apathie, erstere demonstrieren zumindest
äußerliche Stärke.
Das Parlament: Ab welchem Alter kann
man Jugendliche überhaupt als politisch bezeichnen?
Klaus Hurrelmann: Die Lebensphase
Jugend beginnt mit der Pubertät und hat sich im Lebenslauf
nach vorne verlagert: in den vergangenen 100 Jahren um etwa drei
Jahre. Der Eintritt in diese Phase ist auch für die
intellektuelle und soziale Entwicklung bedeutend. Mit etwa
zwölf Jahren ist eine stabile intellektuelle Basis erreicht,
auch eine grundsätzliche soziale und moralische
Urteilsfähigkeit ist gegeben. Von diesem Alter an ist es
möglich, politische Urteile zu treffen; es wäre auch
möglich, sich an Wahlen zu beteiligen. Das muss aber nicht
heißen, dass die Jugendlichen politisch sind.
Das Parlament: Laut der jüngsten
Shell-Studie blickt die "heutige junge Generation wieder
optimistisch auf ihre persönliche Zukunft". Die Daten für
die Studie sind Anfang 2002 erhoben worden. Muss diese Aussage
jetzt, nach fünf Jahren wirtschaftlicher Krise, revidiert
werden?
Klaus Hurrelmann: Meine
persönliche Einschätzung ist: Die karriereorientierte
Einstellung herrscht weiter vor. Diese Orientierung gilt aber nur
für die ersten beiden oben genannten Gruppen. Die beiden
anderen Gruppen hatten die gleiche Karriere-orientierung, konnten
sie aber nicht umsetzen. Wahrscheinlich werden sie noch
stärker resigniert beziehungsweise frustriert sein.
Das Parlament: Das heißt: Die
Schere geht auf.
Klaus Hurrelmann: Ja. Eine Schere der
Spaltung in eine Gruppe - bisher eine Mehrheit -, die durchkommt,
die sich mit diesen derzeit schwierigen Bedingungen fantastisch
arrangiert, die flexibel ist, die sich überhaupt nicht beirren
lässt. Und dann in eine zweite Gruppe, die das nicht schafft,
und sich entweder zurückzieht und enttäuscht ist, oder
sich zurück-zieht und aggressiv wird, weil sie nicht den
Anschluss an die Gesellschaft findet.
Das Parlament: Ist diese letzte Gruppe
eine, die mit der Demokratie weniger oder gar nicht zufrieden
ist?
Klaus Hurrelmann:
Eindeutig.
Das Parlament: Ist diese Gruppe
gewachsen? Statistiken zeigen ja, dass das Thema Arbeitsmarkt und
Arbeitslosigkeit auch unter Jugendlichen als das drängendste
politische Problem angesehen wird.
Klaus Hurrelmann: Schon die Studie
2002 zeigte, dass ein Zusammenhang besteht zwischen dem
Gefühl, keinen Anschluss zu haben und der Zustimmung zur
Demokratie. Meine Prognose ist: Diese Gruppe ist gewachsen. Sie ist
überall dort besonders stark, wo die wirtschaftlichen
Bedingungen ungünstig sind. Und ich denke, sie wird sich
über kurz oder lang stärker akzentuieren als bisher; zum
Beispiel durch die Wahl von Protestparteien.
Das Parlament: Wie groß ist diese
Gruppe?
Klaus Hurrelmann: Bei der letzten
Shell-Studie umfasste sie gut 20 Prozent aller Jugendlichen. Die
Hälfte davon äußerte ihre Enttäuschung in einer
politisch relevanten Weise, also durch Fremdenfeindlichkeit,
Befürwortung von Gewalt und primitiven politischen Macht- und
Hierarchiestrukturen. Das kann sich aber schnell auf die ganze
Gruppe von 20 Prozent ausdehnen. So groß ist etwa auch das
Potenzial von Protestwählern am rechten und nun durch die
Linkspartei auch am linken Rand.
Das Parlament: Die Studie zeigt, dass
besser gebildete Jugendliche sich eher als politisch interessiert
bezeichnen.
Klaus Hurrelmann: Bildung ist ein
wichtiger Mechanismus: Sie fördert, genauso wie das
Gefühl, in der Schule erfolgreich zu sein oder gute Arbeit zu
haben, die Kompetenz, die Logik des politischen Systems zu
verstehen. Auch die Bereitschaft zu partizipieren, also sich
einzumischen, wächst dadurch. Man kann daraus lernen, dass man
durch die Verbesserung von Bildungsangeboten in den beiden
problematischen, abgehängten Gruppen echte Chancen bestehen,
deren Partizipation und Akzeptanz der Demokratie zu
verbessern.
Das Parlament: Bildung und damit auch
politische Bildung sind in Deutschland also
Elitenphänomene?
Klaus Hurrelmann: Ja. In Deutschland
ist die gute, herausragende Bildung gegenwärtig leider immer
noch ein Elitenphänomen. Es ist uns ja nicht gelungen, unser
schulisches und universitäres Bildungssystem wirklich
nachhaltig zu öffnen für ökonomisch schwächere
Gruppen: Wie die Pisa-Studien zeigen, hängt der Bildungserfolg
sehr stark von der sozialen Herkunft ab. Das ist für eine
demokratische Gesellschaft keine gute Nachricht.
Das Parlament: Das Vertrauen von
Jugendlichen in staatliche Organisationen, die parteipolitisch
unabhängig sind, etwa Gerichte, sowie in nichtstaatliche
Organisationen, wie etwa Greenpeace, ist tendenziell hoch. Beide
Arten von Institutionen werden gerade nicht von den Bürgern
gewählt. Misstrauen die Jugendlichen ihrer eigenen
Mitwirkungsmöglichkeit?
Klaus Hurrelmann: Diese politische
Institutionen, die sich nicht dem Wahlakt unterwerfen müssen,
werden von Jugendlichen gar nicht die Frage gestellt. Ihnen wird
ein Bonus entgegengebracht, weil sie diese gefestigte Position
verkörpern. Und: Die Nichregierungsorganisationen sind
monothematisch orientiert. Aus anderen Untersuchungen wissen wir,
dass Einrichtungen mit nur einem Zweck und einem Thema eine
größere Resonanz haben.
Das Parlament: Mit dem Wahlakt hat das
also nichts zu tun?
Klaus Hurrelmann: Ich glaube, dass bei
der Bundestagswahl im September die Wahlbeteiligung unter
Jungwählern höher war, als wir das vorher angenommen
haben. Denn eine Situation wie in diesem Wahlkampf spricht
Jugendliche an. Es gab eine Zuspitzung von Fragen; es gab zwei
wirklich bemerkenswerte politische Persönlichkeiten an der
Spitze, mit denen man sich identifizieren konnte. Ich glaube, dass
durch diesen Wahlkampf ein bisschen Vertrauen unter Jugendlichen
für politische Zusammenhänge gewonnen wurde.
Das Parlament: Gilt das auch für
die Situation direkt nach der Wahl: dieses Patt, dieses Taktieren,
das Feilschen um die Macht?
Klaus Hurrelmann: Nein, das spricht
sie nicht an. Grund dafür ist aber die Unkenntnis des
parlamentarischen Systems. Dieses Prozedere ist durch
Machtansprüche gekennzeichnet. Sie als illegitim darzustellen,
ist völlig undemokratisch. Demokratie bedeutet, dass das Volk
die Elite selbst wählen kann. Es handelt sich um einen ganz
natürlichen Wettbewerb um die Fragen: Was wollte der
Wähler sagen? Welche Elite wollte er an der Spitze haben? Das
Verständnis davon, die Kenntnis der Spielregeln, die dahinter
stehen, die sind auch bei der jungen Generation nicht genug
verbreitet. Das müsste viel stärker in den Schulen und
auch in den Medien vermittelt werden.
Das Parlament: Parteien genießen
allgemein wenig Vertrauen unter Jugendlichen, die Shell-Studie
spricht sogar von "Parteienverdrossenheit". Ähnlich schlecht
steht die Bundesregierung da. Beides sind Institutionen, die
politische Bildungsarbeit machen und die so versuchen, junge
Menschen in das politische System zu integrieren. Ist das vor
diesem Hintergrund nicht völlig
überflüssig?
Klaus Hurrelmann: Diese
größere Zurück-haltung von Jugendlichen bei Wahlen,
also die im Vergleich zur älteren Bevölkerung geringere
Wahlbeteiligung, ist nicht angenehm. Das mangelnde politische
Interesse - es ist ja so niedrig, wie schon seit den 50er-Jahren
nicht mehr - ist auch nicht erfreulich. Es geht also darum, die
Jugendlichen politikfähig zu machen, ihnen Interesse und
Gefallen am demokratischen System nahe zu bringen. Gleichzeitig
muss die Politik selbst jugendfähig gemacht werden. Sie muss
einen Stil wählen, Themen wählen, Kommunikationsformen
wählen, die diese junge Generation ansprechen; auch diese
Forderung richtet sich an die Parteien. Sie sind laut Grundgesetz
Einrichtungen, die zur politischen Willensbildung beitragen, also
stehen sie auch im Zentrum. Vielleicht gelingt es uns aber in der
Zukunft, die Parteien besser als bisher bei dieser Aufgabe zu
unterstützen.
Das Parlament: Wer könnte diese
Funktion übernehmen?
Klaus Hurrelmann: Vor allem die
öffentlichen Bildungseinrichtungen sind in dem Zusammenhang
gefordert. Wir brauchen eine Diskussion über politische
Bildung in Schulen, aber auch schon in Kindergärten. Wie sieht
es hier mit Möglichkeiten aus, politische Meinungen zu schulen
und politische Entscheidungsstrukturen zu beobachten? Man kann
Demokratie nicht nur durch Wissensweitergabe vermitteln, sondern
vor allem, indem demokratisch gelebt wird. Das müssen die
Schulen, auf allen Ebenen, intensiver als bisher machen. Ein
informativer, aufklärender Politik-Unterricht hat
Grenzen.
Das Parlament: Was schlagen Sie
vor?
Klaus Hurrelmann: Man muss zum
Beispiel darüber nachdenken, wie die Schülermitbestimmung
weiter entwickelt werden kann; welche Möglichkeit es gibt, aus
der Schule einen demokratisch gestaltbaren Raum zu formen. Ich
denke an den Ausbau der Mitbeteiligung an Schulgremien, eine
Mitsprache vielleicht sogar bei der Auswahl neuer Lehrer. Die
Schule sollte ein kleiner demokratischer Lebensraum für sich
sein. Dieses Muster gilt auch für andere Einrichtungen: In den
Kommunen sollten weitere Jugendforen und Jugendparlamente
eingerichtet werden. Den Jugendlichen muss deutlich gemacht werden,
dass Mitbestimmungsmöglichkeiten durchaus bestehen. Für
uns Ältere ist parlamentarische Demokratie eine politische
Errungenschaft. Aber die junge Generation geht mit ihrem eigenen
neugierigen, aber auch skeptischen Blick an diese Muster heran und
muss erst einmal mit ihnen vertraut werden, Gefallen und Spaß
an ihnen finden.
Das Parlament: Ihre Forderungen nach
stärkerer Demokratisierung ähneln denen der 70er- und
80er-Jahre, als die Jugendlichen als noch sehr viel politischer
galten. Glauben Sie nicht, dass diese starke Politisierung von
Jugendlichen ein Zeitgeist-Phänomen war?
Klaus Hurrelmann: Nein, das glaube ich
nicht. Ein stärkeres Ausmaß an politischer Beteiligung
kommt zustande, wenn sich die junge Generation durch bestimmte,
großflächige Themen provoziert fühlt. Das letzte war
in Deutschland die Umweltbewegung. Davor gab es den Protest gegen
die alten patriarchalischen Strukturen der Bundesrepublik, die
68er. Solch dominante Einzelthemen gibt es derzeit nicht. Ich kann
mir aber sehr gut vorstellen, dass wir eine solche Situation schon
in wenigen Jahren wieder erleben. Mögliche Themen ergeben sich
aus der wirtschaftlichen Krise. Sie wird von Jugendlichen zwar
wahrgenommen, sie leiden darunter, aber sie formen sie nicht um in
eine Art von Protest. Wenn es ihr gelingt, diese Probleme politisch
zu thematisieren, dann könnte hier ein neuer
Kristallisationspunkt für politisches Interesse entstehen. Ich
staune, dass die Jugend-organisationen der Parteien an diesem Thema
nicht sehr viel dichter dran sind.
Das Parlament: Sie haben selbst drei
erwachsene Kinder. Sind Sie mit deren politischer Sozialisation
zufrieden?
Klaus Hurrelmann: Ja, doch. Ich habe
versucht, zu Hause politische Themen zu diskutieren. Die Forschung
zeigt, wie bedeutsam es ist, dass von Vater und Mutter Themen als
politisch erkannt und als solche debattiert werden und dass man die
schwierige Auseinandersetzung demonstriert und akzeptiert, dass
dabei die Kinder mitmachen und eventuell anderer Auffassung sind.
Ein Aha-Erlebnis für mich in einer der früheren
Wahlkämpfe war, das meine Kinder die Positionierung der Eltern
so interessant fanden, dass beide in die Fenster ihrer Kinderzimmer
auf die Straße heraus Wahlschilder gehängt haben - und
zwar nicht die von den Parteien, von denen sie erkennen konnten,
dass die Eltern sie wählen würden, sondern von einer
anderen. Das fand ich klasse. Das war ein Signal, dass sie das
Spielelement, dass in einem Wahlkampf vorhanden ist, verstanden
hatten und Spaß daran fanden, dass hier ein Wettbewerb nach
sportlichen Kriterien stattfindet.
Das Interview führte Bert Schulz
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