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Das Parlament
Nr. 44 / 31.10.2005

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Klaus Farin

So schlimm wie bei den alten Griechen

Wie politisch sind Jugendkulturen heute?
Seit Sokrates' Zeiten vor rund 2.000 Jahren heißt es über jede Jugend, sie sei schlimmer, respektloser, konsumtrotteliger, weniger engagiert und unpolitischer als die letzte. Es ist mühselig und im Übrigen ganz sinnlos, dies argumentativ zu widerlegen. Zu mächtig ist die romantisch verklärte Verehrung der eigenen Jugendzeit, die vor allem bei Männern mittleren Alters - die also beim besten Willen nicht mehr zur aktuellen Jugend gezählt werden können - scheinbar wie ein genetischer Befehl das Bewusstsein befällt.

Nehmen wir nur als Beispiel die "68er", die seitdem nachfolgenden Generationen als strahlendes Vorbild vorgehalten werden: In der Realität gingen damals nur drei bis fünf Prozent der Studenten demonstrierend auf die Straße und die "Bravo"-Charts der Jahre 1967 bis 1970 verzeichnen als beliebteste Künstler der Jugend jener Jahre nicht die Rolling Stones, Jimi Hendrix oder die Doors, sondern Roy Black.

Es waren Minderheiten, die sich damals engagierten, auch wenn es ihnen gelang, einer ganzen Generation ihren Stempel aufzudrücken. Selbstverständlich ist in einer Gesellschaft, deren existentielle Basis vor allem der ständig steigende Konsum darstellt, die Mehrzahl der Menschen passiv, unkritisch, konsum-trottelig. Das gilt auch für die Jugend. Aktuelle Beobachtungen deuten zwar darauf hin, dass der Anteil der Engagierten unter den Jugendlichen steigt, nicht etwa sinkt, dennoch ist es schwieriger geworden, die prinzipiell Willigen auch zur Tat zu treiben. Jugendliche sind heute kritischer - vielleicht auch nur ehrlicher - als frühere Generationen: Sie betätigen sich nicht aus "Pflichtgefühl", sondern erwarten für ihre Leistungen einen Gegenwert. Damit ist nicht Geld gemeint, wie Politiker häufig denken; vielmehr erwarten Jugendliche von den Strukturen, in denen sie sich engagieren, und den Menschen, mit denen zusammen sie sich engagieren wollen, vor allem Respekt, Sinn und Spaß.

Dabei bedeutet Respekt, dass sie ernst genommen werden wollen und gleichberechtigt mitreden und - entscheiden dürfen - auch wenn ihre Sprache, ihr Stil und ihr Äußeres nicht die der Älteren sind. Das Engagement muss ein realistisches Nahziel haben und eine Botschaft, ja, eine Moral beinhalten und somit in den Augen der Jugendlichen Sinn machen. Spaß bedeutet, dass der Weg mitunter das Ziel ist: Jugendliche, die sich heute engagieren, wollen das mit netten Leuten machen, dabei überhaupt erst neue Leute kennen lernen, Freundschaften schließen. Das Engagement darf anstrengend sein, aber nicht langweilig.

Dass der Aufschwung jugendlichen Engagements an Parteien, Gewerkschaften und Amtskirchen spurlos vorbeiweht, liegt überwiegend an diesen selbst - an ihrer Erstarrung zwischen taktischen Geplänkeln, Alt-Herren-Ritualen und der Forderung nach Anerkennung einer Autorität, die nicht oder nur historisch begründet wird und nicht tagtäglich neu verdient werden muss. Und so suchen engagierte Jugendliche sich Tätigkeiten und Aufgaben jenseits der traditionellen Strukturen.

Für viele sind Jugendkulturen der ideale Ort des (politischen) Engagements. Dort kommt alles zusammen, was Jugendliche fasziniert: Musik, Mode, Körperkult, Gleichaltrige. Jugendkulturen sind Beziehungsnetzwerke, eine Gemeinschaft der Gleichen - artificial tribes, künstliche Stämme und Solidargemeinschaften, deren Angehörige einander häufig bereits am Äußeren erkennen. Sie füllen als Sozialisationsinstanzen das Vakuum an Normen, Regeln und Moralvorräten aus, das die zunehmend unverbindlichere, entgrenzte und individualisierte Gesamtgesellschaft hinterlässt.

Keine Jugendkultur zuvor hat so viele Junge aktiviert wie HipHop. Kreativität und Realness - authentisch sein - sind dort der einzige Weg, sich Respekt zu verdienen. Auch die Technoszene, Punks und Skateboarder haben deshalb keine Nachwuchssorgen, weil sie zumindest von den Kernszene-Angehörigen ein hohes Maß an Engagement fordern - und damit gerade für jene (Minderheiten) attraktiv werden, die genau so etwas suchen. Es sind oft die Kreativsten ihrer Generation. Denn trotz aller Kommerzialisierung - wo Jugendkulturen sind, ist die Industrie nicht fern - sind es schließlich die Jugendlichen selbst, die die Szenen am Leben erhalten. Sie organisieren die Partys und andere Events, sie produzieren die Musik, sie geben derzeit in Deutschland mehrere tausend szene-eigene Zeitschriften - so genannter Fanzines - mit einer Gesamtauflage von mehr als einer Million Exemplaren jährlich heraus.

Fast alles, was die Älteren über "die Jugend" und ihre Kulturen wissen, wissen wir aus den Medien. Medien sind aber naturgemäß vor allem am Extremen und Negativen interessiert. Sie leben nun einmal davon, stets das Außergewöhnliche, Nicht-Alltägliche in den Vordergrund zu rücken: Jugendliche, die sich seit Monaten aktiv gegen Rassismus und Rechtsextremismus - oder auch: für Umweltschutz, Frieden, gegen Gewalt … - engagieren, sind in der Regel der Lokalzeitung kaum ein paar Zeilen wert; drei besoffene Neonazis, die "Sieg heil!" gröhlend durch ein Dorf laufen, erfahren sofort eine bundesweite Medienresonanz. Vor allem, wenn sie aus dem Osten Deutschlands stammen.

Richtig ist, dass Fremdenphobie in den neuen Bundesländern stärker grassiert als im weltoffener sozialisierten westdeutschen Bürgertum. Richtig ist auch, dass die Gewaltbereitschaft männlicher ostdeutscher Jugendlicher größer ist als die ihrer westdeutschen Altersgenossen. Das ist allerdings nicht nur eine Folge ost-/westdeutscher Prägung (des fast kompletten Fehlens der Mittelschicht in den neuen Bundesländern), sondern auch der im Osten vorherrschenden kleinstädtischen Struktur. Hier - und nur hier - hat eine Handvoll Neonazis die Chance, durch Besetzung strategisch wichtiger Räume (Bahnhofsvorplatz, Bushaltestelle vor der Schule) und permanente Zurschaustellung körperlicher Aggressivität eine ganze Stadt zu "kontrollieren", unerwünschte "Fremde" zu vertreiben. Und darum geht es der rechten Szene schließlich: Der militante Neonazismus ist weniger ein strategisches politisches Konzept, sondern der Versuch von der bunten Vielfalt

des Lebens verwirrter Untertanengeister, ihr kleines Stück Umwelt - so weit ihre Blicke und Fäuste reichen - frei von jeglichem "Fremden" zu halten - seien es die linken "Zecken", die "multikulturellen" HipHopper und Skateboarder, Selbstbewusstsein ausstrahlende Frauen oder "die Ausländer".

Nicht ein wachsendes politisches Interesse, sondern die extreme Gewaltbereitschaft der rechten Szene führte in den 90er-Jahren zwangsläufig dazu, dass sich der kulturelle Alltag vieler Jugendlicher auf die einzige Frage zuspitzte: Bist du rechts oder links? Definitionsmerkmale für "rechts" und "links" waren und sind dabei nicht fundierte politische Positionen, sondern subkulturelle Stilelemente (Kleidungsmarken, Musikgeschmack) und die Einstellung zu "Ausländern". Wir wissen aus zahlreichen, oft divergierenden, Studien, dass 30 bis 45 Prozent der Deutschen fremdenfeindlich denken - entgegen der öffentlichen Wahrnehmung Jugendliche signifikant weniger als 35- bis 55-Jährige. Zugleich lehnen aber neun von zehn Jugendlichen die militante rechte Szene ab, wollen mit deren Angehörigen nichts zu tun haben. Eine Ursache für diese Ablehnung der rechten Szene ist die seit Mitte der 90er-Jahre rasant gestiegene Attraktivität alternativer Musik- und Jugendkulturen. Millionen Jugendliche in Ost und West fühlen sich heute der HipHop- und Skateboarder-Szene verbunden, sind Techno-, House-, Punk-, Hardcore-, Reggae- oder Soul-Fans. Die Rechtsextremen gelten heute nicht mehr als die Avantgarde von morgen, sondern die letzten Deppen von gestern, die es immer noch nicht geschafft haben, auf den Zug der Zeit zu springen.

"Cool Kids can change" - wer nicht zum Außenseiter werden will, meidet die rechte Szene und wendet sich angesagteren Jugendkulturen zu, derzeit insbesondere HipHop und der elektronischen Musik-Party-Szene, aber auch Gothic und Punk boomen auf kleinerem Level. Deren Image ist traditionell anti-rechts, anti-rassistisch. Historisch sind fast sämtliche Jugendkulturen Hybride, multikulturelle Bastarde. Der Boom dieser Szenen führt nun aber dazu, dass sich ihnen vermehrt auch Jugendliche anschließen, die zu jenen 30 bis 45 Prozent der Deutschen gehören, die rassistisch denken. Fan der Grunge-Band Nirvana und der rechtsextremen Combo Landser zu sein ist für diese kein Gegensatz mehr, HipHop mit rassistischen Texten, gewalttätige Gothics und Nazi-Punks sind sehr randständige, der eigentlichen Identität dieser Szenen fundamental widersprechende, aber dennoch existierende Phänomene.

Damit ist der Streit um die korrekte politische Haltung erneut entfacht. Es geht dabei weniger um "links" oder "rechts" - Kategorien, mit denen die Mehrzahl der Jugendlichen ohnehin nichts anfangen kann -, sondern um die Frage: Wem gehört die Jugendkultur? Auseinandersetzungen, die die Skinhead-szene schon seit 20 Jahren führt, haben nun auch Hip-Hop, Techno, Punk, Gothic, Hardcore und viele andere Jugendkulturen erreicht. Das Eindringen von Rechten in die anderen - spannenderen - Jugendkulturen sowie die Versuche der rechten Szene, sich kulturell zu modernisieren - fast jeder kennt inzwischen die Bilder von Neonazis mit bunten Iro-Frisuren und Che-Guevara-T-Shirts - haben unfreiwillig eine neue Opposition geschaffen. Es geht um Besitzstände, um zwischenmenschliche Umgangsformen und den Wunsch nach gewaltfreien Events, nicht zuletzt um Grenzziehungen. Und darin sind die Angehörigen von Jugendkulturen schon immer besonders gut gewesen.


Klaus Farin ist Publizist und Leiter des Berliner Archivs der Jugendkulturen e.V. (www.jugend kulturen.de).

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