|
|
Klaus Farin
So schlimm wie bei den alten Griechen
Wie politisch sind Jugendkulturen
heute?
Seit Sokrates' Zeiten vor rund 2.000 Jahren
heißt es über jede Jugend, sie sei schlimmer,
respektloser, konsumtrotteliger, weniger engagiert und
unpolitischer als die letzte. Es ist mühselig und im
Übrigen ganz sinnlos, dies argumentativ zu widerlegen. Zu
mächtig ist die romantisch verklärte Verehrung der
eigenen Jugendzeit, die vor allem bei Männern mittleren Alters
- die also beim besten Willen nicht mehr zur aktuellen Jugend
gezählt werden können - scheinbar wie ein genetischer
Befehl das Bewusstsein befällt.
Nehmen wir nur als Beispiel die "68er", die
seitdem nachfolgenden Generationen als strahlendes Vorbild
vorgehalten werden: In der Realität gingen damals nur drei bis
fünf Prozent der Studenten demonstrierend auf die Straße
und die "Bravo"-Charts der Jahre 1967 bis 1970 verzeichnen als
beliebteste Künstler der Jugend jener Jahre nicht die Rolling
Stones, Jimi Hendrix oder die Doors, sondern Roy Black.
Es waren Minderheiten, die sich damals
engagierten, auch wenn es ihnen gelang, einer ganzen Generation
ihren Stempel aufzudrücken. Selbstverständlich ist in
einer Gesellschaft, deren existentielle Basis vor allem der
ständig steigende Konsum darstellt, die Mehrzahl der Menschen
passiv, unkritisch, konsum-trottelig. Das gilt auch für die
Jugend. Aktuelle Beobachtungen deuten zwar darauf hin, dass der
Anteil der Engagierten unter den Jugendlichen steigt, nicht etwa
sinkt, dennoch ist es schwieriger geworden, die prinzipiell
Willigen auch zur Tat zu treiben. Jugendliche sind heute kritischer
- vielleicht auch nur ehrlicher - als frühere Generationen:
Sie betätigen sich nicht aus "Pflichtgefühl", sondern
erwarten für ihre Leistungen einen Gegenwert. Damit ist nicht
Geld gemeint, wie Politiker häufig denken; vielmehr erwarten
Jugendliche von den Strukturen, in denen sie sich engagieren, und
den Menschen, mit denen zusammen sie sich engagieren wollen, vor
allem Respekt, Sinn und Spaß.
Dabei bedeutet Respekt, dass sie ernst
genommen werden wollen und gleichberechtigt mitreden und -
entscheiden dürfen - auch wenn ihre Sprache, ihr Stil und ihr
Äußeres nicht die der Älteren sind. Das Engagement
muss ein realistisches Nahziel haben und eine Botschaft, ja, eine
Moral beinhalten und somit in den Augen der Jugendlichen Sinn
machen. Spaß bedeutet, dass der Weg mitunter das Ziel ist:
Jugendliche, die sich heute engagieren, wollen das mit netten
Leuten machen, dabei überhaupt erst neue Leute kennen lernen,
Freundschaften schließen. Das Engagement darf anstrengend
sein, aber nicht langweilig.
Dass der Aufschwung jugendlichen Engagements
an Parteien, Gewerkschaften und Amtskirchen spurlos vorbeiweht,
liegt überwiegend an diesen selbst - an ihrer Erstarrung
zwischen taktischen Geplänkeln, Alt-Herren-Ritualen und der
Forderung nach Anerkennung einer Autorität, die nicht oder nur
historisch begründet wird und nicht tagtäglich neu
verdient werden muss. Und so suchen engagierte Jugendliche sich
Tätigkeiten und Aufgaben jenseits der traditionellen
Strukturen.
Für viele sind Jugendkulturen der ideale
Ort des (politischen) Engagements. Dort kommt alles zusammen, was
Jugendliche fasziniert: Musik, Mode, Körperkult,
Gleichaltrige. Jugendkulturen sind Beziehungsnetzwerke, eine
Gemeinschaft der Gleichen - artificial tribes, künstliche
Stämme und Solidargemeinschaften, deren Angehörige
einander häufig bereits am Äußeren erkennen. Sie
füllen als Sozialisationsinstanzen das Vakuum an Normen,
Regeln und Moralvorräten aus, das die zunehmend
unverbindlichere, entgrenzte und individualisierte
Gesamtgesellschaft hinterlässt.
Keine Jugendkultur zuvor hat so viele Junge
aktiviert wie HipHop. Kreativität und Realness - authentisch
sein - sind dort der einzige Weg, sich Respekt zu verdienen. Auch
die Technoszene, Punks und Skateboarder haben deshalb keine
Nachwuchssorgen, weil sie zumindest von den
Kernszene-Angehörigen ein hohes Maß an Engagement fordern
- und damit gerade für jene (Minderheiten) attraktiv werden,
die genau so etwas suchen. Es sind oft die Kreativsten ihrer
Generation. Denn trotz aller Kommerzialisierung - wo Jugendkulturen
sind, ist die Industrie nicht fern - sind es schließlich die
Jugendlichen selbst, die die Szenen am Leben erhalten. Sie
organisieren die Partys und andere Events, sie produzieren die
Musik, sie geben derzeit in Deutschland mehrere tausend
szene-eigene Zeitschriften - so genannter Fanzines - mit einer
Gesamtauflage von mehr als einer Million Exemplaren jährlich
heraus.
Fast alles, was die Älteren über
"die Jugend" und ihre Kulturen wissen, wissen wir aus den Medien.
Medien sind aber naturgemäß vor allem am Extremen und
Negativen interessiert. Sie leben nun einmal davon, stets das
Außergewöhnliche, Nicht-Alltägliche in den
Vordergrund zu rücken: Jugendliche, die sich seit Monaten
aktiv gegen Rassismus und Rechtsextremismus - oder auch: für
Umweltschutz, Frieden, gegen Gewalt … - engagieren, sind in
der Regel der Lokalzeitung kaum ein paar Zeilen wert; drei
besoffene Neonazis, die "Sieg heil!" gröhlend durch ein Dorf
laufen, erfahren sofort eine bundesweite Medienresonanz. Vor allem,
wenn sie aus dem Osten Deutschlands stammen.
Richtig ist, dass Fremdenphobie in den neuen
Bundesländern stärker grassiert als im weltoffener
sozialisierten westdeutschen Bürgertum. Richtig ist auch, dass
die Gewaltbereitschaft männlicher ostdeutscher Jugendlicher
größer ist als die ihrer westdeutschen Altersgenossen.
Das ist allerdings nicht nur eine Folge ost-/westdeutscher
Prägung (des fast kompletten Fehlens der Mittelschicht in den
neuen Bundesländern), sondern auch der im Osten
vorherrschenden kleinstädtischen Struktur. Hier - und nur hier
- hat eine Handvoll Neonazis die Chance, durch Besetzung
strategisch wichtiger Räume (Bahnhofsvorplatz, Bushaltestelle
vor der Schule) und permanente Zurschaustellung körperlicher
Aggressivität eine ganze Stadt zu "kontrollieren",
unerwünschte "Fremde" zu vertreiben. Und darum geht es der
rechten Szene schließlich: Der militante Neonazismus ist
weniger ein strategisches politisches Konzept, sondern der Versuch
von der bunten Vielfalt
des Lebens verwirrter Untertanengeister, ihr
kleines Stück Umwelt - so weit ihre Blicke und Fäuste
reichen - frei von jeglichem "Fremden" zu halten - seien es die
linken "Zecken", die "multikulturellen" HipHopper und Skateboarder,
Selbstbewusstsein ausstrahlende Frauen oder "die
Ausländer".
Nicht ein wachsendes politisches Interesse,
sondern die extreme Gewaltbereitschaft der rechten Szene
führte in den 90er-Jahren zwangsläufig dazu, dass sich
der kulturelle Alltag vieler Jugendlicher auf die einzige Frage
zuspitzte: Bist du rechts oder links? Definitionsmerkmale für
"rechts" und "links" waren und sind dabei nicht fundierte
politische Positionen, sondern subkulturelle Stilelemente
(Kleidungsmarken, Musikgeschmack) und die Einstellung zu
"Ausländern". Wir wissen aus zahlreichen, oft divergierenden,
Studien, dass 30 bis 45 Prozent der Deutschen fremdenfeindlich
denken - entgegen der öffentlichen Wahrnehmung Jugendliche
signifikant weniger als 35- bis 55-Jährige. Zugleich lehnen
aber neun von zehn Jugendlichen die militante rechte Szene ab,
wollen mit deren Angehörigen nichts zu tun haben. Eine Ursache
für diese Ablehnung der rechten Szene ist die seit Mitte der
90er-Jahre rasant gestiegene Attraktivität alternativer Musik-
und Jugendkulturen. Millionen Jugendliche in Ost und West
fühlen sich heute der HipHop- und Skateboarder-Szene
verbunden, sind Techno-, House-, Punk-, Hardcore-, Reggae- oder
Soul-Fans. Die Rechtsextremen gelten heute nicht mehr als die
Avantgarde von morgen, sondern die letzten Deppen von gestern, die
es immer noch nicht geschafft haben, auf den Zug der Zeit zu
springen.
"Cool Kids can change" - wer nicht zum
Außenseiter werden will, meidet die rechte Szene und wendet
sich angesagteren Jugendkulturen zu, derzeit insbesondere HipHop
und der elektronischen Musik-Party-Szene, aber auch Gothic und Punk
boomen auf kleinerem Level. Deren Image ist traditionell
anti-rechts, anti-rassistisch. Historisch sind fast sämtliche
Jugendkulturen Hybride, multikulturelle Bastarde. Der Boom dieser
Szenen führt nun aber dazu, dass sich ihnen vermehrt auch
Jugendliche anschließen, die zu jenen 30 bis 45 Prozent der
Deutschen gehören, die rassistisch denken. Fan der Grunge-Band
Nirvana und der rechtsextremen Combo Landser zu sein ist für
diese kein Gegensatz mehr, HipHop mit rassistischen Texten,
gewalttätige Gothics und Nazi-Punks sind sehr
randständige, der eigentlichen Identität dieser Szenen
fundamental widersprechende, aber dennoch existierende
Phänomene.
Damit ist der Streit um die korrekte
politische Haltung erneut entfacht. Es geht dabei weniger um
"links" oder "rechts" - Kategorien, mit denen die Mehrzahl der
Jugendlichen ohnehin nichts anfangen kann -, sondern um die Frage:
Wem gehört die Jugendkultur? Auseinandersetzungen, die die
Skinhead-szene schon seit 20 Jahren führt, haben nun auch
Hip-Hop, Techno, Punk, Gothic, Hardcore und viele andere
Jugendkulturen erreicht. Das Eindringen von Rechten in die anderen
- spannenderen - Jugendkulturen sowie die Versuche der rechten
Szene, sich kulturell zu modernisieren - fast jeder kennt
inzwischen die Bilder von Neonazis mit bunten Iro-Frisuren und
Che-Guevara-T-Shirts - haben unfreiwillig eine neue Opposition
geschaffen. Es geht um Besitzstände, um zwischenmenschliche
Umgangsformen und den Wunsch nach gewaltfreien Events, nicht
zuletzt um Grenzziehungen. Und darin sind die Angehörigen von
Jugendkulturen schon immer besonders gut gewesen.
Klaus Farin ist Publizist und Leiter des
Berliner Archivs der Jugendkulturen e.V. (www.jugend
kulturen.de).
Zurück zur Übersicht
|