Matthias Wissmann
Türen weit öffnen für kritisches
Engagement
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sieht sich die Jugend in
Deutschland einmal mehr mit dem Vorwurf konfrontiert, sie sei zu
"unpolitisch" oder "politikverdrossen" - ein Vorwurf, den sich
bereits viele Generationen vorhalten lassen mussten. So sehr sich
die Beurteilungen über Jahrzehnte hinweg ähneln, so sehr
haben sich jedoch die Umstände geändert. Dies wird
häufig bei der Beurteilung der "Jugend von heute"
unberücksichtigt gelassen.
Das Verhältnis von Jugend und Politik hat sich in den
letzten 30 Jahren differenzierter gestaltet als gemeinhin
angenommen. Die heutige junge Generation ist nicht deswegen als
"unpolitisch" zu bezeichnen, weil sie nicht genauso aktiv politisch
ist wie andere Generationen vor ihr. Der politische Diskurs hat mit
und unter Jugendlichen nur eine andere Wendung erhalten. Es stehen
nicht mehr Ideologien im Vordergrund der Auseinandersetzung, wie
dies noch in der Zeit der 68er-Generation der Fall gewesen ist,
sondern die sachbezogene Diskussion ohne zuviel Voreingenommenheit.
Das seltener gewordene dauerhafte Bekenntnis zu einer Partei hat
seine Ursache in der Veränderung der politischen Begebenheiten
und nicht in der Veränderung der Jugendlichen selbst.
Zwar sind Jugendliche heute mit anderen Problemen und Sorgen
konfrontiert als dies in anderen Jahrzehnten der Fall war. Das
Interesse an Lösungen ist geblieben. Nur die Anforderungen und
Erwartungen sind gestiegen - und damit die Schwelle zur
Enttäuschung gesunken. Daraus darf allerdings kein allgemeines
Desinteresse junger Menschen an der Politik hergeleitet werden. Die
vielfach geäußerte Politikverdrossenheit ist hiermit
nicht gleichzusetzen. Dass eine gewisse Ernüchterung bei
Jugendlichen distanzierend wirkt, führt im Umkehrschluss nicht
zu einem latenten Desinteresse, welches den Vorwurf einer
"unpolitischen Jugend" rechtfertigen würde.
Das zeigt sich gerade an der Jungen Union (JU). Die JU
Deutschlands ist mit rund 130.000 Mitgliedern der größte
politische Jugendverband in Deutschland und Europa. Zwar hatte die
JU im Jahre 1980 einen vorläufigen Mitgliederrekord mit knapp
der doppelten Anzahl der Mitglieder. Doch der Beginn der 80er-Jahre
war die Zeit großer Demonstrationen gegen das sowjetische
Regime und für Abrüstung in Ost und West. Wir empfanden
es damals nicht nur als unser Recht, sondern gar als unsere
Pflicht, auch als jungchristliche Demokraten gegen Diktaturen aus
dem linken ebenso wie aus dem rechten Spektrum zu
demonstrieren.
Aus den absoluten Mitgliedszahlen einen Rück-schluss auf
die gesamtpolitische Einstellung aller Jugendlichen ziehen zu
wollen, wäre deshalb verfehlt, da die generelle Bereitschaft
zu einer festen Parteizugehörigkeit und damit einer
festgelegten Identifikation in den letzten Jahrzehnten in allen
Gesellschaftsteilen zurückgegangen ist. Dies ist nicht
einzelnen Generationen anzulasten. Vielmehr prägen
gesellschaftliche Umstände und politische Ereignisse die
nachfolgenden Generationen. Als die JU unter meiner Führung
einen Mitgliederrekord verzeichnete, war dies eben auch eine Zeit
der Mobilisierung, die gerade die Jugendlichen und jungen
Erwachsenen ergriff. Dies steigert natürlich die Bereitschaft,
seine politischen Überzeugungen durch die Zugehörigkeit
zu einer politischen Organisation zu untermauern und sich in der
Politik aktiv zu engagieren.
Ein weiterer Umstand ist zu bemerken: Zunehmend vollzieht sich
ein Wertewandel bei der jungen Generation. Die Denkweise der
68er-Generation ist den Jugendlichen und jungen Erwachsenen heute
weitgehend fremd. Eine Rückbesinnung auf traditionelle
Wertvorstellungen hat eingesetzt. So messen heute die Jugendlichen
Werten wie Sicherheit, Vertrauen, Verantwortung und
Pflichterfüllung die meiste Bedeutung bei, andere
Wertorientierungen nehmen ab.
Wir leben heute in einer Zeit europäischer Integration und
weltweiten Zusammenwachsens: Enorme Möglichkeiten
eröffnen sich den jungen Menschen. Aber auch die Probleme, mit
denen sie sich auseinanderzusetzen haben, sind andere als noch in
den 70er-Jahren. Weiterbildung und Einstieg ins Berufsleben werden
als größte Herausforderung empfunden. Die Bereitschaft zu
sozialem oder politischem Engagement leidet häufig
darunter.
Für eine Gestaltung der Demokratie ist es aber von
größter Wichtigkeit, dass jede Generation ihre Ideen in
die Politik einbringen kann. Für Parteien und politische
Jugendorganisationen ist es deshalb besonders notwendig, dass sie
ihre Türen weit öffnen für das Engagement gerade
auch kritischer junger Menschen. Viel stärker als bisher
müssen diese Institutionen eine positive Ausstrahlung
gewinnen, die nicht den Eindruck hinterlässt, man müsse
den kritischen Verstand beim Eintritt "an der Garderobe" abgeben.
Schon eine kleine Gruppe engagierter Menschen könnte einen
Orts- oder Kreisverband inspirieren und mobilisieren. Konzepte
moderner Parteiarbeit zu entwickeln, gehört deshalb zu den
großen Aufgaben der Volksparteien und ihrer
Jugendorganisationen.
Matthias Wissmann war von 1973 bis 1983 Vorsitzender der Jungen
Union.
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