|
|
Jeannette Goddar
Der Politik fremdgeblieben
Jugendliche Einwanderer müssen noch viel
stärker beteiligt werden
Demokratische Errungenschaften der westlichen
Welt wie Wahlen und Mitbestimmung bringen Jugendlichen mit
Migrationshintergrund wenig, wenn sie sie nicht selbst anwenden
können. Sie erhöhen eher den Frust und tragen zum
Rückzug in die eigene Community bei. Nur eine Integration, die
die Chancen der tatsächlichen politischen Beteilung jenseits
von Wahlen erhöht, kann die Zuspitzung von Konflikten
verhindern, sagt der Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer.
Es gab mal einen Lehrer, der versucht hat,
Sükran für Politik zu interessieren. Er erzählte dem
türkischen Mädchen, von dem er offenbar meinte, dass sie
in einer Art Diktatur aufwachgewachsen sei, von den politischen
Errungenschaften der westlichen Welt: Demokratie,
Zivilgesellschaft, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Toleranz,
Religionsfreiheit. Das sind so in etwa die Stichworte, von denen
die heute 21-jährige Sükran meint, dass sie in dem
Gespräch vor etwa fünf Jahren gefallen seien. Bei einem
Reizwort ist sie sich ganz sicher, dass es fiel - und das baldige
Ende der Unterhaltung einläutete: das Wahlrecht, das es jedem
ermöglicht mitzuentscheiden, von wem das Land regiert werden
soll. Sükran durfte nämlich nicht nur mit 16 nicht
wählen - die gebürtige Berlinerin hat auch mit 21 in
Deutschland kein Stimmrecht.
Zwar könnte sie sich einbürgern
lassen, aber auch nach der Reform des
Staatsbürgerschaftsrechts nur, wenn sie ihren türkischen
Pass abgibt. Das will oder kann sie nicht - aus "Gründen der
Sentimentalität", wie sie sagt: "Ich komme aus einer
türkischen Familie. Meine Eltern, meine Großeltern, und
die Generationen davor haben ihr Leben in Anatolien verbracht. Das
streicht man doch nicht einfach so aus meinem Leben."
Ein typischer Fall? Vielleicht. Fest steht
jedenfalls: Von den 14 Millionen Menschen in Deutschland mit einem
so genannten "Migrationshintergrund", die also entweder selbst aus
dem Ausland stammen oder mindestens ein Elternteil
ausländischer Herkunft haben, besitzt die Hälfte einen
deutschen Pass - und die andere Hälfte nicht.
Nun mag man Wählen nicht für die
einzige Möglichkeit der Mitbestimmung halten; gerade junge
Menschen gehen ohnehin seltener zur Wahl als Erwachsene. Dennoch
darf es wohl als verbrieft gelten, dass das Gefühl,
"Bürger zweiter Klasse" mit weniger Rechten zu sein, für
viele ein Grund ist, sich einerseits an Wahlen nicht zu beteiligen.
Einschlägige Studien werfen ein deutliches Licht darauf, dass
Kinder aus Zuwandererfamilien mit deutscher Politik nicht einmal
dann viel zu tun haben wollen, wenn sie niemals woanders als in
Deutschland gelebt haben. Sie interessieren sich weniger für
politische Fragen, sind seltener politisch aktiv und auch in
Vereinen oder Institutionen der Jugendarbeit seltener anzutreffen.
Und obwohl es bei einigen Zuwanderergruppen deutliche Anzeichen
für einen verstärkten Rückzug in die eigene
Community gibt, ist auch der Grad der Selbstorganisation niedriger
als bei ihren deutschen Altersgenossen.
Ein Bericht des Bundesjugendkuratoriums -
eines Beratungsorgans der Bundesregierung - konstatiert
"Unterrepräsentierung" von Jugendlichen. Sie resultiere auch
daraus, dass ihnen "wichtige Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und
politischer Partizipation vorenthalten" blieben: "Angebote der
außerschulischen, kulturellen und politischen Institutionen
erreichen ausländische Jugendliche häufig nicht und/oder
sind auch gar nicht auf sie ausgerichtet." Ein bizarres Licht auf
die mangelnde Ausrichtung wirft übrigens ein Blick auf die
erst vor wenigen Jahren beendete Politik der Bundeszentrale
für politische Bildung: Dort hatte man ausländische
Jugendliche schon deswegen nicht im Blick, weil man per Definition
nur für die Bildung deutscher Bürger zuständig
war.
Fragt man Experten wie den Bielefelder
Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer, ist der Zusammenhang zwischen der
zunehmenden Desintegration ausländischer Jugendlicher, ihrer
mangelnden Teilhabe an der Gesellschaft und immer
unübersehbareren Konflikten mit der Mehrheitsgesellschaft
augenfällig. Schon vor mehreren Jahren hat Heitmeyer für
eine Studie deutsche und ausländische Schüler und
Erwachsene in Müns-ter, Duisburg und Wuppertal befragt. Eine
der zentralen Erkenntnisse war, dass die Gefahr der Ethnisierung
von Konflikten besonders groß ist, wenn Menschen erstens
wenige oder keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt und zweitens das
Gefühl haben, politische Partizipation sei nicht möglich
oder sinnlos. "Es gibt Gruppen ausländischer Jugendlicher die
sich von der deutschen Gesellschaft abgekoppelt haben", sagt der
Sozialforscher. Integration - und zwar als wechselseitiger Prozess
- sei der einzige Weg, eine Zuspitzung der Konflikte zu verhindern.
Für die deutsche Seite heiße das vor allem, die
"Beteiligungschancen" zu verbessern. Heitmeyer:
"Alibi-Veranstaltungen werden nicht reichen. Ein kommunales
Wahlrecht für Nicht-EU-Ausländer wäre ein
wesentlicher Schritt, aber auch andere Instrumente zur politischen
Beteiligung wären sinnvoll."
Vor einer Zuspitzung der ethnischen Konflikte
in den Großstädten warnen Sozialforscher wie Heitmeyer
allerdings nicht in erster Linie, weil die dort lebenden
Jugendlichen sich häufig nicht für Politik interessieren
- sondern weil sie als Folge mangelnder Integration in
übergroßer Zahl in deprivierten Verhältnissen leben:
in heruntergekommenen Stadtteilen, mit wenig Bildung und oft ohne
Zugang zum deutschen Ausbildungssystem.
Tatsächlich werden Migranten - und zwar
jugendliche wie erwachsene - in Deutschland selbst in dem Ressort,
das sie am meisten betrifft, kaum gehört: in der Migrations-
und Integrationspolitik. Der Niederländer Ruud Koopmans, bis
vor einem Jahr am Wissenschaftszentrum Berlin für
Sozialforschung tätig, hat die politische Beteiligung von
Migranten in Deutschland und England verglichen und kommt zu einem
klaren Ergebnis: In Deutschland nehmen sie nur halb so viele von
der Öffentlichkeit wahrgenommene integrationspolitische
Einmischungen vor wie in England. Dafür wenden sie sich
doppelt so häufig Organisationen zu, die ausschließlich
mit der Politik ihres Heimatlandes beschäftigt sind. Koopmans:
"Die Tatsache, dass Deutschland Zuwanderer als Fremde behandelt,
hat enorme Auswirkungen auf ihre Identität und ihre Haltung
gegenüber der Gesellschaft, in der sie nur zu Gast sein
sollen." Positiv vermerkt wird allerdings auch, dass mit der Reform
des Staatsbürgerschaftsrechts Schluss ist mit dem Grundsatz,
dass nur Deutscher ist, wer Deutsche Eltern hat.
Bis dahin wird politische Partizipation
vielleicht bleiben, was sie heute ist: eine Ausnahme, die, wenn sie
stattfindet, von der Mehrheitsgesellschaft oft begieriger
aufgenommen wird als von den Communities, aus denen sie
erwächst. Als einige, allerdings nicht mehr ganz jugendliche
Migranten vor wenigen Jahren die Gruppe "Kanak Attak"
gründeten, wurde ihnen ein Interesse zuteil, das in keinem
Verhältnis zur personellen Überschaubarkeit der Truppe
stand. Endlich, freute sich die liberale deutsche
Öffentlichkeit und vor allem die Presse, traute sich da
jemand, ähnlich wie die selbst ernannten "Nigger" in den USA,
ein Schmähwort zum stolzen Label umzudeuten und sich
selbstbewusst der deutschen Gesellschaft
entgegenzuwerfen.
Gegen exotische Wahnvorstellungen
Die Forderungen von Kanak Attak sprachen eine
klare Sprache: Jenseits aller ethnischen Barrieren forderte die
Gruppe ein Recht auf Leben fern von Identitätspolitiken,
Zuschreibungen, exotischen Wahnvorstellungen. Das Motto: "Uns
hängt die alte Leier vom Leben zwischen den Stühlen zum
Hals heraus. Wir halten den Quatsch vom lässigen Zappen
zwischen den Kulturen für windigen, postmodernen Kram. Wir
fragen nicht nach Herkunft und Pass, sondern wenden uns gegen die
Frage nach Herkunft und Pass."
Inzwischen ist es wieder ziemlich ruhig
geworden um Kanak Attak. Was es aber immerhin gibt - und was zu
einem Stück Normalität in einer globalen Welt geworden
ist -, sind jene Kinder der zweiten Generation der Einwanderer, die
ihre kulturellen Einflüsse ganz natürlich in eine bunter
gewordene Gesellschaft tragen. Sie bringen, wie der Kieler Autor
Feridun Zaimoglu, die "Kanak Sprak" als neudeutsche Sprache mit
verschiedenen Wurzeln in die Literatur ein. Sie drehen Filme wie
Fatih Akin, der die Geschichte von Einwandererkindern in das neue
Zusammenleben deutscher Großstädte übersetzt. Oder
sie erzählen wie Wladimir Kaminer Geschichten von Menschen,
die sich trotz mancher Verwirrung ihren Platz in der Gesellschaft
suchen und ihren Lebenswelt kreativ, selbstbewusst und bikulturell
gestalten.
Die Menschen, von denen in diesen Geschichten
die Rede ist, und die sich zwar langsam, aber sicher einen Teil der
Öffentlichkeit erkämpfen, sind rein statistisch
längst mehr Regel als Ausnahme: Fast jeder dritte Jugendliche
in Deutschland wird in einer Familie groß, in der mindestens
ein Mitglied aus dem Ausland stammt. In den Kulturhauptstädten
Frankfurt, Hamburg und Berlin wird es bald jeder zweite
sein.
Jeannette Goddar arbeitet als freie
Journalistin in Berlin.
Zurück zur Übersicht
|