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Mirko Heinemann
Statt um Nicaragua geht es nun um
Ausbildungsplätze
Warum sich junge Leute in Gewerkschaften
engagieren
Blickt man vom sechsten Stock der
Ver.di-Vertretung Berlin-Brandenburg über die Hausdächer
hinweg in den Himmel, gerät man ins Träumen. Die
Realität am Boden ist da ernüchternder: Hier, im Raum
6.02, tagt an diesem Nachmittag der Bezirksjugendvorstand. Das
Interesse ist gering. Nur sechs der 17 Vertreter sind gekommen.
Die vier Frauen und zwei Männer arbeiten
beim Berliner Senat, bei der BfA, bei der Post, der Stadtreinigung
und bei den Verkehrsbetrieben. In ihren Betrieben sind sie zu
"Jugend- und Auszubildendenvertretern", kurz JAV, gewählt
worden. Die JAV sind das Bindeglied zwischen der
Geschäftsleitung und den Auszubildenden, sie können bis
zur Vollendung des 26. Lebensjahrs gewählt werden. Für
die Betreuung von Kollegen werden sie im Betrieb von ihrer
sonstigen Arbeit freigestellt, doch der Termin bei der Gewerkschaft
fällt in ihre Freizeit.
"Natürlich ist es keine Pflicht, sich in
der Gewerkschaft zu engagieren, aber es hilft sehr", sagt Melanie
Wolf. Die 27-jährige Vorsitzende der Jugendvertretung bei den
Berliner Verkehrsbetrieben hat 1998 eine Ausbildung als
Industriekauffrau begonnen und sich zwei Jahre später erstmals
in ihrem Betrieb zur Wahl gestellt. "Ich bin kein Mensch, der auf
der Couch sitzt und meckert. Ich möchte auch etwas
verändern", sagt sie.
Mitglied in der Gewerkschaft war Wolf damals
schon. Anfangs war es vor allem die Rechtschutzversicherung, die
ihr wichtig war. Mit ihrem Engagement als Jugendvertreterin kam der
direkte Kontakt zur Arbeitervertretung zustande. Sie belegte
Seminare zur Betriebsarbeit bei Ver.di und nutzte das Angebot, sich
in juristischen Fragen beraten zu lassen. Und sie nahm am
"JAV-Stammtisch" teil, dem regelmäßigen Treffen der
Jugend- und Ausbildungsvertreter, das Ver.di ausrichtet. "Hier
hatte ich das Gefühl, nicht alleine zu sein mit meinen
Problemen in der JAV."
Alles Weitere ging fast automatisch. Das
Engagement von Melanie Wolf fiel bei Ver.di auf. Bald wurde sie
gefragt, ob sie nicht als Bezirksjugendvorstand kandidieren wolle.
Die junge Angestellte sagte zu. Fortan widmete sie einen immer
größeren Teil ihrer Freizeit der Gewerkschaft. Sie wurde
Gast im Arbeitskreis Tarifpolitik, kurz darauf erhielt sie eines
der elf Jugendmandate in der Bundestarifkommission.
Die junge Frau ist eloquent, sie wirkt
kompetent und offen. Sie wäre die ideale Besetzung für
einen Posten in der Politik. Doch Wolf sagt: "Die Mitarbeit in
einer Partei schließe ich total aus." Parteien und ihre
Programme kommen der jungen Frau "fest gefügt" vor; immer gebe
es Punkte, die gegen ihre Überzeugungen verstoßen. Bei
den Gewerkschaften hingegen habe sie "das Gefühl, etwas
bewirken zu können". Parteiarbeit dagegen erscheint ihr
abstrakt, sie habe keine Hoffnung, dort etwas zu
bewegen.
Die meisten Bezirksjugendvertreter, die sich
bei Ver.di Berlin-Brandenburg engagieren, wirken gar nicht mehr
jugendlich. Gewerkschaften definieren das Ende der Jugend bei 28
Jahren, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft gewährt
gar eine Frist bis 35. "Wir brauchen dringend Nachwuchs", sagt
Katja Boll, hauptamtliche Jugendsekretärin bei Ver.di
Berlin-Brandenburg.
Gerade im Dienstleistungsbereich sei die
Situation "schwierig", stimmt Christian Kühbauch zu. "In viele
Betriebe kommen wir gar nicht mehr hinein", sagt der
Bundesjugendsekretär beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB).
So manche Handelskette will nicht nur die Gewerkschaft vor der
Tür halten, sondern unterbindet sogar die Gründung von
Betriebsräten. "Dazu", so Kühbauch, "kommen die zunehmend
weit verzweigten Strukturen der modernen Betriebe. Kollegen
verschiedener Abteilungen arbeiten nicht mehr an einem Ort
zusammen." Ausgeprägter sei diese Entwicklung nur noch im
Baugewerbe, wo Kollegen auf wechselnden Baustellen arbeiten. "An
diese Menschen kommen wir höchstens noch über die
Berufsschulen heran."
Die Berufsschulen sind zu wichtigen
Kontaktbörsen geworden. Der DGB führt dort mit kleinen,
ehrenamtlichen Teams von Menschen im Alter von 17 bis 24 Jahren
Projekttage durch, in deren Rahmen Mitglieder geworben werden.
Außerdem entsendet der Gewerkschaftsbund so genannte "Teamer",
die politische Bildungsarbeit leisten. Oftmals sind dies Studenten,
die im Rahmen ihres Politikstudiums ihre Fertigkeiten üben und
sich in praktischer Arbeit erproben möchten. Die Teamer sind
die Vorhut einer neuartigen, temporären Form von
gewerkschaftlichen Engagements. "Diese Mitarbeiter treten oftmals
gar nicht in eine Einzelgewerkschaft ein, sondern engagieren sich
direkt beim Gewerkschaftsbund", erklärt
Kühbauch.
Auch auf die Jugendorganisationen der
Einzelgewerkschaften kommen wechselhafte Zeiten zu. Dabei stehen
sie, gemessen an den Gesamtzahlen, nicht einmal schlecht da.
Während die Gewerkschaften in den vergangenen drei Jahren 8,5
Prozent ihrer Mitglieder verloren haben, waren es bei den
Jugendorganisationen lediglich 4,5 Prozent. Von sieben Millionen
Gewerkschaftsmitgliedern in der Bundesrepublik stellen die
Jugendlichen ungefähr 530.000.
Dass es "nicht so schlecht läuft bei der
Jugend", schreibt Kühbauch einer verbesserten
organisatorischen Arbeit zu. So gebe es neue Beratungsangebote im
Internet, außerdem seien die Gewerkschaften heute näher
dran an den Problemen der Jugendlichen. "Drastisch gesagt: Wenn
früher Gewerkschaften für Nicaragua gesammelt haben, dann
wird heute eher die Lage auf dem Ausbildungsmarkt thematisiert." In
einigen Großbetrieben steige sogar der Organisationsgrad, die
IG Bergbau, Chemie, Energie erzielte mit 67 Prozent
Organisationsgrad bei den Auszubildenden in allen Branchen einen
neuen Rekord.
Größtes Problem sind und bleiben
die Bereiche IT und Neue Dienstleistungen. Hoffnungen setzt der DGB
hierbei in neue Projekte wie "Students at Work". Studierende
können bei Problemen im Studentenjob eine Anfrage an die
Homepage im Internet richten. Der DGB übernimmt die
Anfangsberatung und lotst die Gesprächpartner zu den
Ansprechpartnern bei den Gewerkschaften weiter. "Das Projekt kommt
bei den studentischen Arbeitnehmern sehr gut an - auch weil es in
der Anmutung modern wirkt." Ähnlich erfolgreich ist eine
Beratungs-Website für Auszubildende, die pro Jahr 4.000
Anfragen erhält.
Einen kleinen Aufschwung in Sachen Jugend
erlebt ausgerechnet die durch den Strukturwandel in der Arbeitswelt
schwer gebeutelte IG Metall. Bundesweit sind hier 200.000 junge
Mitglieder organisiert, bei insgesamt 2,6 Millionen
IG-Metall-Mitgliedern. "Wir hatten in diesem Jahr allein in Berlin
bereits über 300 Neueintritte", erklärt Karoline
Kleinschmidt. Für die vergangenen drei Jahre verzeichnet die
Berliner IG-Metall-Gewerkschaftssekretärin regen Zulauf,
außerdem sieht sie ein gestiegenes Interesse junger Menschen
an der Gewerkschaftsarbeit. Themen wie Ausbildungskrise und Agenda
2010 scheinen die Jugendlichen zu politisieren. "Die Gewerkschaften
sind nah an ihrem Alltag dran."
Unsicherer geworden sei die Verweildauer in
der Gewerkschaft, ebenso die Verlässlichkeit von ehrenamtlich
engagierten Mitgliedern. Patchwork-Biografien, Karriere-Knicks -
auch in der Industrie gehört eine abnehmende
Arbeitsplatzsicherheit zum Lebensgefühl der Azubis. "Sie
wissen nicht, wo sie in 15 Jahren sind", sagt Kleinschmidt. "Die
meisten wollen erst einmal die drei Jahre Ausbildung hinter sich
bringen. Danach ist oft alles unklar. Werde ich übernommen
oder arbeitslos? Soll ich womöglich studieren?"
Auch deshalb sei eine Karriere innerhalb der
Gewerkschaft für junge Leute oft noch kein Thema. Solche
Fragen stellten sie sich laut Kleinschmidt erst im Laufe eines
längeren Berufslebens. "Die Jugendlichen sind heute
außerdem viel stärker europäisch ausgerichtet, sie
denken viel internationaler", erklärt die
Gewerkschaftssekretärin. "Sie sind der Auffassung, dass die
Arbeitssituation im Land nicht getrennt von der Globalisierung
diskutiert werden kann." Daher ist Mehrfach-Engagement unter jungen
Gewerkschaftern weit verbreitet. Viele sind gleichzeitig Mitglied
bei Nichtregierungsorganisationen. Vor allem die
globalisierungskritische Bewegung Attac erfreut sich bei ihnen
großer Beliebtheit.
Mirko Heinemann arbeitet als freier Journalist in
Berlin.
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