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"Es gibt vieles an der Politik, was nicht
glaubwürdig ist"
Interview mit Anna Lührmann (Bündnis
90/Die Grünen), der jüngsten Abgeordneten des
Bundestags
Die meisten Abgeordneten im Deutschen Bundestag
sind Hinterbänkler. Kaum einer kennt sie. Für die
jüngste Abgeordnete im Deutschen Bundestag trifft das nicht
zu. In nur drei Jahren hat die 22-jährige Hessin aus Hofheim
am Taunus es verstanden, sich einen Namen zu machen - innerhalb und
außerhalb der grünen Fraktion. Ihr Ansehen ist so
groß, dass die Altprofis ihrer Partei sie sogar vor einem Jahr
in den Haushaltssausschuss geschickt haben, dahin, wo normalerweise
nur erfahrene Hasen mitreden dürfen und können. Anna
Lührmanns Devise heißt: Machen statt meckern. Schon in
der Grundschule hat sie sich in einem "Greenteam" und später
in der Schülervertretung engagiert. Schließlich ging sie
zur Grünen Jugend Hessen und wurde deren Sprecherin. Sie
glaubt, dass die junge Generation "nicht politikverdrossen, aber
parteienverdrossen" ist.
Das Parlament: Sie sind vor drei
Jahren in den Bundestag gewählt worden. Haben sich Ihre
Erwartungen an die Politik bestätigt oder ist die
Realität ganz anders, als Sie sich vorgestellt
hatten?
Anna Lührmann: Im Großen und
Ganzen stimmte mein Bild. Was aber nicht gestimmt hat, war mein
Eindruck, man könnte als einzelner Abgeordneter nicht so viel
bewegen. Das sehe ich nicht mehr so. Wenn man anpackt und Mitglied
einer Regierungsfraktion ist, kann man ziemlich viel
verändern. Daher hat sich mein Bild von Politik eher
verbessert.
Das Parlament: Der Bundestag ist
für eine damals 19-Jährige kein normaler Arbeitsplatz mit
genau definiertem Tätigkeitsfeld. Muss man den Bundestag als
System erst mal begreifen?
Anna Lührmann: Ich hatte das
Glück, dass mir einige Kollegen Tipps gegeben haben, Matthias
Berninger zum Beispiel. Er hatte die Erfahrung schon hinter sich,
wie es ist, als junger Mensch ins Parlament zu kommen. Aber
eigentlich muss man selber seinen Stil finden. Man muss wissen, was
man will, und auch klar gemacht haben, in welchen Ausschuss man
möchte. Abgeordnete können sehr unterschiedliche Dinge
tun und einen sehr unterschiedlichen Stil pflegen. Die einen
arbeiten sich in die Kulturpolitik ein, die anderen verbringen das
Wochenende auf dem Schützenfest im Wahlkreis, andere
interessieren sich für Auswärtige Politik und sind
ständig auf Reisen.
Das Parlament: War es ein Vorteil oder
eher ein Nachteil, dass Sie als sehr junge Frau in den Bundestag
kamen?
Anna Lührmann: Ein Vorteil. Und
zwar nicht die Jugendlichkeit an sich, sondern das Phänomen,
jüngste Abgeordnete zu sein. Das hat von Anfang an viel
Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Ich stach gleich aus der Masse
heraus, und das hat mich bekannt gemacht. Man kann dann viel
leichter und schneller Themen setzen. Es ist auch ein Vorteil, wenn
man mit ein bisschen frischem Wind herein kommt. Man hat dann oft
mehr Biss als Leute, die schon 20 Jahre in der Kommunalpolitik
gearbeitet haben. Ein Nachteil ist, dass man von einigen Kollegen,
die viel älter sind, schon ein bisschen schief angeguckt wird.
Gott sei Dank hat sich das relativ schnell gelegt.
Das Parlament: Wurden Sie schief
angeguckt, weil Sie deren Tochter sein könnten?
Anna Lührmann: Ja, genau so. Die
Vernünftigen haben dann aber schnell begriffen, dass ich auch
inhaltlich gut mitreden kann. Wenn ich im Haushaltsausschuss,
dessen Mitglied ich seit einem Jahr bin, inhaltlich CDU-Abgeordnete
angreife, kommen von einigen allerdings immer noch Kommentare wie:
"Wer hat Ihnen denn das schon wieder aufgeschrieben?" Wenn ich ein
60 Jahre alter Mann wäre, würden die Kollegen sich solche
Kommentare nicht trauen. Aber letztlich sind das Bemerkungen, mit
denen ich gut leben kann. Denn in Wahrheit ist das eine schwache
Replik. Mit so einem Kommentar geben sie ja indirekt zu, dass mein
Angriff inhaltlich stark ist.
Das Parlament: Und die eigene
Fraktion?
Anna Lührmann: Von denen brauche
ich Anerkennung. Und die haben sie mir auch gegeben, indem sie mich
vor einem Jahr in den Haushaltsausschuss geschickt haben. Dort
werden normalerweise nur alte Hasen Mitglied.
Das Parlament: Welches Image haben Sie
versucht zu prägen?
Anna Lührmann: Da war ich in den
ers-ten Jahren unschlüssig und habe mich in verschiedenen
Richtungen ausprobiert. Am Anfang war ich ein bisschen zu angepasst
und bin zu brav 'rumgelaufen. Ich habe immer probiert, das
Grünsein und Jungsein ein bisschen überzukompensieren. In
den vergangenen zwei Jahren habe ich einen Stil gefunden, der
da-rauf ansetzt, eine Sprache zu sprechen, die auch junge Menschen
verstehen. Ich betone jetzt auch stärker, dass ich ein ganz
normaler junger Mensch bin, der in einer WG wohnt und gleichaltrige
Freunde hat. Darüber habe ich auch im Wahlkampf probiert,
junge Leute anzusprechen.
Das Parlament: Also nach dem Motto:
Ich bin eine von Euch?
Anna Lührmann: Ja, auf jeden
Fall. Das ist ganz wichtig, dass die jungen Wähler etwas
Gemeinsames im Lebensgefühl bemerken. Auf meiner Homepage kann
man auch merken, dass Politik zu machen nicht automatisch bedeutet,
langweilig und schrecklich zu werden. Um junge Menschen zu
erreichen, habe ich auf meiner Internetseite auch meine
Lieblingsmusik, meine Lieblingsfilme und Lieblingsbücher
angegeben. Es sind Inhalte, mit denen ich betone, ich bin genauso
wie die anderen jungen Leute - außer in dem Punkt, dass ich
ein bisschen mehr Geld verdiene.
Das Parlament: Hat sich in punkto Geld
eine Diskrepanz eingestellt zu Gleichaltrigen, zu Ihren
Freunden?
Anna Lührmann: Nee. Ich zahle
auch nicht mehr Miete als andere Studenten. Ich fahre auch mit
Freunden in Urlaub, die kein Geld haben. Das meiste von meinem Geld
lege ich für später zurück. Ich will mich nicht
jetzt schon an einen zu hohen Lebensstandard
gewöhnen.
Das Parlament: Sie machen oft
Veranstaltungen mit jungen Leuten. Wie begegnen Ihnen die
Jugendlichen?
Anna Lührmann: Die meisten sind
total überrascht, dass ich die Abgeordnete bin. Das habe ich
gerade im Wahlkampf wieder erlebt. Wenn die Leute zu einem
Infostand kommen, an dem ich angekündigt bin, fragen sie: "Ja,
wo ist denn die Kandidatin?" Ich entspreche nicht dem Klischeebild.
Aber ich glaube, dann stellen die Jugendlichen mir auch Fragen, die
sie anderen Politikern nicht stellen würden. Was macht man den
ganzen Tag? Was kann man bewirken? Wie viel verdient man? Das sind
typische Dinge, die junge Leute wissen wollen. Ich probiere einen
Bezug zu ihrer Lebensrealität herzustellen und erzähle,
dass ich in die Politik gekommen bin, weil ich den Unterricht total
langweilig fand. Ich rate den Schülern, sich erst mal in der
Schülermitverantwortung zu engagieren, sich ein konkretes Ziel
zu stecken. Oft kriege ich dann ein zustimmendes Kopfnicken. Und
eines zeigen alle Umfragen: Die junge Generation ist nicht
politikverdrossen, aber parteienverdrossen. Und strukturell
ermüden Parteien ihre aktiven jungen Mitglieder immer wieder
mit ewig langen Gremiensitzungen. Und da-rauf hat nun wirklich
niemand Lust.
Das Parlament: Aber ohne Sitzungen
geht es auch nicht...
Anna Lührmann: Aber man kann die
unterschiedlich gestalten. Es gibt Flip-Charts, man kann gestraffte
Tagesordnungen machen und sich mit den Redebeiträgen kurz
fassen. Ich probiere immer wieder Tipps zu geben: "Setzt Euch ein
konkretes Projekt. Guckt, dass ihr das mit zwei, drei Leuten
zusammen macht. Zieht es durch." Ich habe beispielsweise auch
versucht, in unserem Wahlkreis eine Grüne Jugend zu
gründen. Das klappte nicht, was eben auch daran lag, dass wir
zu oft Sitzungen ansetzten und die Leute die Ergebnisse nicht
gesehen haben. Einer jungen Frau, die ich damals motivieren wollte,
bin ich jetzt am Wochenende zufällig über den Weg
gelaufen. Sie hat jetzt bei uns in der Gegend ein Jugendfestival
organisiert. Das ist toll. Sie ist zwar letztlich leider nicht bei
den Grünen gelandet. Aber egal: Sie macht etwas.
Das Parlament: Früher waren
Jugendorganisationen von Parteien oft alles auf einmal: Clique,
Lebensratgeber, Freizeitverein, Zeltlagerveranstalter. Die
örtlichen Parteigliederungen haben versucht, Politik in den
Alltag hinein zu tragen und etwas anzubieten, was jungen Leuten
Spaß macht. Wie muss politische Bildung heute an junge
Menschen herangetragen werden?
Anna Lührmann: Das Wichtigste ist
für junge Leute, dass bei einer Aktion, bei einem Projekt etwa
herauskommt. Kaum einer hat auf ein Seminar mit theoretischen
Erörterungen Lust, denen nichts folgt. Deshalb ist jenseits
von Parteiarbeit wichtig, an den Schulen das Mitbestimmungsrecht zu
stärken. Durch den demokratischen Prozess der Wahl in der
Schule lernen die Schüler, was es heißt mitzubestimmen
und konkret etwas zu verändern. Selbstbestimmtes Handeln
stärkt demokratisches Verständnis.
Das Parlament: Wie müssen die
Angebote der Parteien strukturiert sein?
Anna Lührmann: Das Schlimmste
ist, wenn zu Beginn der Streit über Satzungen steht. Das ist
meist der Anfang vom Ende. In unserem Wahlkreis haben wir in einer
Kneipe eine Art Stammtisch zu unterschiedlichen Themen gemacht. Das
ist bei den Leuten angekommen. Auch viele Nicht-Grüne haben
mitdiskutiert. Es ging beispielsweise um Schulpolitik, um
Elterngeld oder um Arbeitsplätze. Im Wahlkampf hatten wir das
Motto: Mach mit! Bei einer Aktion haben wir Bio-Limonade im Wald an
Jogger verteilt und sind mit denen ins Gespräch gekommen. Das
war sehr nett. Die Leute fanden das spannend, weil man im Wald nun
wirklich keine Wahlkämpfer erwartet, auch keine
grünen.
Das Parlament: Kann man politisches
Interesse und politische Bildung über das Internet
wecken?
Anna Lührmann: Das ist sogar mit
das wichtigste Medium überhaupt. Deshalb habe ich auch
verschiedene Buttons wie "Annas-MOBLOG" oder auch "Wer ist Anna?",
"Was will Anna?" auf meiner Homepage. Da kann man sehen, was ich
mache. Außerdem beteilige ich mich an anderen Weblogs, wo ich
das politische Geschehen kommentiere und mit vielen anderen Usern
ins Gespräch komme. Viele Jugendliche mailen mir auch und
wollen zum Beispiel Tipps haben, wie man in der Politik aktiv
werden kann. Das finde ich toll und schreibe natürlich
zurück.
Das Parlament: Medien und Buchautoren
erfinden immer wieder neue Generationen und neue Labels für
ihre Erfindung. Was treibt Ihre Generation um?
Anna Lührmann: Derzeit geht es
seit langem wieder um sehr grundsätzliche Fragen. Ich war in
Göttingen und Kassel bei großen Schülerkongressen,
wo die Frage im Mittelpunkt stand: Ist dies wirklich ein gerechtes
System? Wollen wir immer mehr arbeiten? Wollen wir immer flexibler
sein? Da gab es viele Teilnehmer, die anfingen, sich diese Fragen
zu stellen. So vor vier, fünf Jahren haben mich und andere
diese Fragen überhaupt nicht interessiert. In einer Gruppe von
jungen Grünen, die "Realismus und Substanz" heißt, haben
wir ein Papier geschrieben, das sich mit der Zukunft des
Sozialstaats beschäftigt. Momentan sind es noch mehr Fragen
als Antworten. Wir fragen uns, wie man besser - das heißt
gerechter - mit demographischem Wandel umgeht? Wie kann man
Globalisierung gestalten? Wie will man Verteilungsgerechtigkeit in
der Zukunft herstellen?
Das Parlament: Ist dieses Nachdenken
das Resultat der andauernden ökonomischen Krise, von der sehr
viele Menschen betroffen sind?
Anna Lührmann: Ich denke, das hat
damit etwas zu tun. Und für junge Menschen ist es wirklich
nicht einfacher geworden. Im Gegenteil.
Das Parlament: Ist Politik für
Sie nach wie vor glaubwürdig?
Anna Lührmann: Es gibt vieles an
der Politik, was nicht glaubwürdig ist. Gerade, wenn immer
wieder Skandale hoch kommen und irgendwelche Abgeordneten sich
bereichert haben und anderen Interessen gedient haben, als sie
öffentlich vorgegeben haben. Aber ich stelle mich dann
trotzdem immer wieder hin und sage, dass es der großen Masse
der Politiker darum geht, etwas für das Land zu verbessern.
Aber ich merke natürlich, dass es ein
Glaubwürdigkeitsproblem gibt. Ich versuche dann gegenüber
Jugendlichen zu kontern, indem ich sage: "Okay, dann mach Du es
doch mal besser."
Das Interview führte Annette Rollmann
Annette Rollmann arbeitet als freie Journalistin in
Berlin.
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