"Das traditionelle Ehrenamt liegt Frauen
weniger"
Interview mit der Wissenschaftlerin Sibylle
Picot über geschlechtsspezifische Unterschiede im politischen
Engagement
Jungs gehen zum Sportverein oder zur Feuerwehr,
wenn sie sich engagieren wollen, Mädchen helfen lieber
schwächeren Menschen im Rahmen der Kirche. Diese Unterschiede
ermittelten die Shell-Jugendstudie 2002 und der vom
Bundesfamilienministerium in Auftrag gegebene zweite
Freiwilligensurvey 2004. Sibylle Picot hat im Auftrag von Infratest
Sozialforschung an beiden Studien mitgearbeitet.
Das Parlament: Wenn man das
gesellschaftliche Engagement von Jugendlichen untersucht, stellt
man dann geschlechtsspezifische Unterschiede fest?
Sibylle Picot: Die gibt es auf jeden
Fall. Jungen und junge Männer sind etwas häufiger
engagiert als Mädchen und junge Frauen. Bei männlichen
Jugendlichen ging die 1999 festgestellte sehr hohe Engagementquote
leicht - um zwei Prozentpunkte - zurück, bei weiblichen
Jugendlichen blieb sie stabil. Allerdings sind immer noch mehr
männliche Jugendliche engagiert: 2004 waren es 38 Prozent,
unter weiblichen Jugendlichen lag die Quote bei 33
Prozent.
Das Parlament: Wie ist
gesellschaftliches Engagement definiert worden?
Sibylle Picot: Die Zahlen entstammen
dem Freiwilligensurvey, einer großen Vergleichsstudie
über freiwilliges Engagement, die 1999 und 2004
durchgeführt wurde. Dort wird gefragt, ob Menschen
außerhalb von Beruf und Familie in bestimmten Bereichen wie
zum Beispiel im Sport, in der Musik, im sozialen oder kirchlichen
Bereich Aufgaben übernehmen beziehungsweise freiwillige
Tätigkeiten ausüben.
Das Parlament: Wie unterscheidet sich
die Art des Engagements bei jungen Männern und jungen
Frauen?
Sibylle Picot: Das kann man auf Basis
des Freiwilligensurveys beantworten oder auch auf Basis der
Shell-Studie, die etwas anders an dieses Thema herangeht. Dort wird
gefragt, ob sich Jugendliche in ihrer Freizeit für soziale
oder politische Ziele einsetzen oder für andere Menschen aktiv
werden. Die Ergebnisse sind nicht direkt vergleichbar,
ergänzen sich aber recht gut. In beiden Studien zeigt sich,
dass das Engagement von Mädchen und jungen Frauen mehr zu tun
hat mit "Compassion", mit Hilfe für Schwächere und
stärker bezogen ist auf andere Menschen. Jungen engagieren
sich häufiger im Sportverein, bei der freiwilligen Feuerwehr
und auch im Politikbereich - dort mehr als doppelt so oft.
Quantitativ entscheidend ist aber das höhere Engagement im
sportlichen Bereich.
Das Parlament: Wie sieht es mit den
Strukturen des Engagements aus?
Sibylle Picot: Was die
Organisationsform angeht, sind männliche Jugendliche
häufiger in Vereinen und Parteien aktiv. Das Engagement
weiblicher Jugendlicher ist deutlich häufiger in Kirche und
Schule, also in einem institutionellen Umfeld in großer
Nähe zu ihrem privaten Lebensbereich. Was lockere
Organisationsformen angeht, kann man keine geschlechtsspezifische
Präferenz feststellen. Generell sind Formen der
Selbstorganisation bei Jugendlichen beliebter als bei
Älteren.
Das Parlament: Spielt die Kirche
wieder eine größere Rolle bei Jugendlichen?
Sibylle Picot: Das Engagement im
Rahmen der Kirche hat bei Jungen und Mädchen zugenommen, aber
mit stärkerer Tendenz bei den jungen Frauen. Es geht dabei um
mehr als eine Organisationsform, denn auch die Bindung an die
Kirche ist besonders bei weiblichen Jugendlichen stärker
geworden. Diese Entwicklung ist sehr bemerkenswert. Sicherlich wird
hier auch ein Bedürfnis nach Orientierung und Sicherheit
erkennbar.
Das Parlament: Die Eigenschaften
scheinen immer noch recht klassisch verteilt: bei den jungen Frauen
mehr Sensibilität und Mitleiden, bei den jungen Männern
Abenteuerlust und Wagemut.
Sibylle Picot: Es gibt jedoch auch
noch genug Beispiele jenseits von Stereotypen. Zudem gibt es
Annäherungen bei den Geschlechtern. Beispielsweise gibt es
inzwischen deutlich mehr weibliche Jugendliche in einer typisch
männlichen Domäne, den freiwilligen Feuerwehren und
Rettungsdiensten, und es gibt mehr männliche Jugendliche in
sozialen Tätigkeiten als früher. Doch es gibt eindeutige
Interessensunterschiede, die auch im Zeitvergleich bestehen
bleiben.
Das Parlament: Gibt es
Erklärungsversuche für die bleibenden Unterschiede beim
Engagement?
Sibylle Picot: Erst einmal ist gegen
diese Unterschiede ja prinzipiell nichts einzuwenden. Bedenklich
finde ich jedoch, wenn junge Frauen viel seltener als junge
Männer in Leitungs- und Vorstandsfunktionen vertreten sind.
Sie sind auch noch seltener als früher in
Führungspositionen vertreten, der Unterschied ist noch
größer geworden.
Das Parlament: Frauen wählen also
mehr die Helferrollen mit viel Arbeit, und die Ehre dann ist eher
für die Männer reserviert?
Sibylle Picot: Gewählte
Ämter und Vorstandspositionen sind typischer für das eher
traditionelle Ehrenamt. Und das liegt jungen Frauen offenbar
weniger. Sie scheinen mehr an Teamarbeit interessiert. Für
alle Frauen gilt, dass sie vor allem dann leitende Positionen
ausüben, wenn sie einen hohen Bildungsstatus haben.
Das Parlament: Männliche
Jugendliche nehmen beim Engagement häufiger
Führungspositionen ein, während junge Frauen lieber auf
gleicher Ebene im Team arbeiten. Heißt das, dass Jungen auch
in ihrer Freizeit eher karrierebezogen und machtorientiert denken,
während Mädchen das soziale Gemeinschaftserlebnis
suchen?
Sibylle Picot: Im Gegenteil.
Mädchen zeigen ein höheres Maß an
Interessensorientierung. Wir haben untersucht, ob Jugendliche die
Erwartung haben, dass ihr Engagement für die eigene berufliche
Situation nützlich ist, ob sie ihre Probleme damit lösen,
berechtigte eigene Interessen vertreten oder ihre Kenntnisse und
Erfahrungen erweitern können. Diese Punkte werden von
Mädchen zunehmend stärker eingebracht als von Jungen. Die
Zunahme der Interessensorientierung geht zu Lasten der Orientierung
an Geselligkeit und Spaß und nicht zu Lasten der
Gemeinschaftsorientierung. Das Motiv, damit etwas für die
Gemeinschaft zu tun, bleibt in ähnlichem Umfang bestehen. Das
stärker zweckrationale Verständnis des Engagements ist
übrigens bei jungen Frauen aus den alten Bundesländern
und jungen Männern aus den neuen Bundesländern
stärker verbreitet. Das zeigt, dass der Problemdruck, dem
junge Menschen heute ohne Zweifel stärker ausgesetzt sind,
offenbar unterschiedlich wahrgenommen wird und sich unterschiedlich
zeigt.
Das Parlament: Werden eher junge
Männer oder eher junge Frauen von Außenstehenden zum
Engagement motiviert?
Sibylle Picot: Beim Zugang zum
Engagement gibt es eine interessante Veränderung. Bei den
Daten von 1999 waren es häufiger Jungen, die zum Engagement
ermuntert wurden. Das hat sich geändert, inzwischen werden
Mädchen und junge Frauen sogar etwas häufiger durch
Dritte geworben oder gefragt.
Das Parlament: Gibt es Unterschiede
beim Umgang mit dem Internet zwischen jungen Frauen und
Männern? Schreckt Frauen die Technik ab?
Sibylle Picot: Das Internet wird von
Frauen weniger genutzt als von Männern. Das gilt besonders bei
Frauen über 25 Jahre, bei jugendlichen Engagierten sind die
Unterschiede geringer. Mädchen und junge Frauen nutzen vor
allem die kommunikativen Funktionen und schätzen besonders die
Möglichkeit, ihre Organisation oder Gruppe mit ihrem Anliegen
auf diese Weise publik machen zu können. Junge Männer
gehen experimenteller mit dem Medium um, beschäftigen sich
stärker mit den technischen Möglichkeiten und initiieren
häufiger auch eigene Projekte.
Das Parlament: Welche Rolle spielt das
Interesse für Politik? Die Shell-Studie hat festgestellt, dass
es bei Mädchen und jungen Frauen immer noch weniger stark
ausgeprägt ist.
Sibylle Picot: Es ist richtig, dass es
immer noch einen großen Unterschied gibt zwischen dem
politischen Interesse bei jungen Männern und jungen Frauen. Da
gibt es zwischen 1999 und 2004 wenig Veränderung, wie der
Freiwilligensurvey zeigt. Mädchen und junge Frauen geben nur
zu 19 Prozent an, stark an Politik interessiert zu sein, Jungen und
junge Männer zu einem Drittel. Das wirkt sich beim Engagement
speziell im Bereich Politik, beim Mitmachen in politischen
Parteien, aus. Ansonsten hat das Interesse für Politik auf das
freiwillige Engagement einen weniger großen Einfluss als der
Bildungsstatus. Die Bildung ist der ausschlaggebendere, der
wichtigere Faktor.
Das Parlament: Hat die Tatsache, dass
die Bereitschaft zum Engagement bei jungen Männern
rückläufig ist, auch mit der sozialen Situation zu tun?
Denken viele junge Männer, sie müssten sich in erster
Linie um ihre eigene berufliche Situation kümmern?
Sibylle Picot: Ich kann das nicht
belegen, halte es aber für eine sehr wahrscheinliche
Hypothese. Man darf aber nicht vergessen, dass das Engagement bei
männlichen Jugendlichen mit 38 Prozent immer noch stark
ausgeprägt ist. Der Rückgang um zwei Prozentpunkte ist
ein sehr geringer. Jugendliche gehören zu den Altersgruppen
mit dem häufigsten Engagement. Es gibt Vorurteile, Jugendliche
würden sich nicht genug engagieren und nicht genug zur
Gemeinschaft beitragen. Das können wir nicht
bestätigen.
Das Parlament: Wenn man also das
Engagement von Jugendlichen noch mehr steigern wollte, müsste
man für mehr Bildung und weniger sozialen Druck
sorgen?
Sibylle Picot: Das wäre kein
schlechter Ansatz. Ich finde es aber ebenso wichtig, dass man auch
die geringer gebildeten sozialen Schichten, die Jugendlichen mit
weniger hohem Schulabschluss dazu bringt, sich stärker zu
engagieren. Es darf sich nicht eine Tendenz fortsetzen, nach der es
die besser sozial integrierten und besser ausgebildeten
Jugendlichen sind, die sich verstärkt engagieren. Hier muss
man entgegenwirken, indem man sich überlegt, wie man die
anderen stärker motiviert und einbezieht.
Das Interview führte Ulrike Schuler
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