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Karl-Otto Sattler
Tastende Schritte im europäischen
Labyrinth
In Brüssel und Straßburg eröffnen
sich viele Chancen für junge Leute, die sich auf EU-Ebene
engagieren wollen
Noch nie in der deutschen Geschichte war eine
junge Generation so international geprägt wie heute: Studieren
im Ausland und Reisen über offene Grenzen sind eine
Selbstverständlichkeit. Politisch wahrt man gegenüber
Europa jedoch Distanz, bei Jungwählern ist die Beteiligung an
EU-Urnengängen dürftig. Bei konkreten Projekten jenseits
traditioneller Organisationen und Strukturen bekunden
Heranwachsende indes sehr wohl politisches Interesse. Und jenen
jungen Leuten, die in Brüssel und Straßburg mitmischen
wollen, eröffnen sich durchaus Chancen - in Parteien wie in
unabhängigen Bewegungen.
Klaus Löffler darf als Experte in Sachen
Europa gelten. Er leitet das Informationsbüro des
EU-Parlaments in Deutschland, kennt sich bestens aus im
komplizierten Brüsseler Institutionengeflecht, ihm sind
Kommissare und Straßburger Volksvertreter nicht fremd, und er
weiß um die taktischen Winkelzüge der EU-Politik.
Zuweilen muss aber auch dieser Routinier passen. Löffler: "So
ganz verstehe ich das auch nicht." Die Rede ist von dem
Phänomen, dass unter allen Bevölkerungsschichten
ausgerechnet die junge Generation die größte Distanz zur
europäischen Politik pflegt.
Der sichtbarste Befund der Misere: Bei den
Wahlen zum EU-Parlament 2004 lag die Beteiligung unter
jüngeren Semestern noch einmal niedriger als die allgemein
ohnehin schon geringe Quote. Löffler: "Wir haben ein echtes
Mobilisierungsproblem." Aber auch jenseits von Urnengängen
kommen junge Leute als machtvoller Faktor bei der Gestaltung der
Brüsseler und Straßburger Politik kaum vor. Die
Jugendverbände der Parteien haben zwar auf Bundes- und
gelegentlich auch auf regionaler Ebene Europa- und internationale
Arbeitskreise eingerichtet. Doch der Nachwuchs profiliert sich
innerhalb der eigenen Parteien wie nach außen vor allem mit
innenpolitischen Themen. Einzig die Jungen Europäischen
Föderalisten (JEF) mit ihren bundesweit rund 3.000 Mitgliedern
können als dauerhaft präsente Organisation auf diesem
Feld gelten. Doch selbst die JEF, deren Zentrale in Berlin
residiert, segeln trotz ihres vielfältigen Engagements
für die zügige Schaffung der europäischen Einheit
meist im Windschatten öffentlicher Resonanz.
Nun ist es nicht so, dass die Jugend mit
Europa nichts im Sinn hätte. Ganz im Gegenteil. Reisen in
fremde Länder, im Ausland studieren und Praktika absolvieren,
an kulturellen Austauschprogrammen teilnehmen. Noch nie war das
Leben einer jungen Generation so international geprägt wie
heute: "Aber der politische Funke", bedauert Klaus Löffler,
"will nicht so recht überspringen."
Das war einmal anders. In den
Nachkriegsjahren waren es junge Leute, die in ihrer
Europabegeisterung Schlagbäume niederrissen und so die
Politiker des Kontinents auf Trab brachten. Mittlerweile aber sind
die EU-Binnengrenzen weitgehend offen, Fotos der
Schlagbaum-Attacken zieren historische Publikationen. Der
27-jährige Philipp Scharff hat als Geschäftsführer
des "Europäischen Jugendparlaments", einer Bildungsinitiative,
viel mit Gymnasiasten zu tun: "In der Welt der 16- bis
18-Jährigen taucht Europa nicht mehr als Friedensprojekt auf."
Kein Wunder, wo doch auf EU-Terrain seit Jahrzehnten kein Krieg
mehr geführt wurde.
"Vielleicht", sinniert Löffler, "ist
Europa ja das Opfer seines Erfolgs geworden." So ähnlich
formuliert es auch Alexander Alvaro (FDP), der mit 30 Jahren zu den
jüngsten deutschen Abgeordneten in Straßburg zählt:
"Das Reisen ohne Grenzkontrollen, die gemeinsame Währung und
manch anderes sind für Heranwachsende etwas
Selbstverständliches, das muss nicht mehr erkämpft
werden." Das undurchschaubar anmutende Institutionengefüge und
die komplizierte EU-Gesetzgebung zwischen Kommission, Parlament,
Ministerrat und der Runde der Regierungschefs wirke gerade auf
junge Menschen nicht sehr anziehend.
Die EU, sagt Christian Wenning, sei im Grunde
immer noch ein "Eliteprojekt", das sich weithin in einer eigenen
Welt abspiele: "Das schreckt besonders junge Leute ab." Für
das schwache politische Interesse eines großen Teils der
Jugend an der EU hat der JEF-Vorsitzende noch eine andere
Erklärung: "Es liegt keine politische Spannung in der Luft."
Im Straßburger Parlament und vor Wahlen zu dieser
Volksvertretung "findet keine Politisierung statt", kritisiert
Wenning. Es gebe auf europäischer Ebene "keine
Links-Rechts-Konfrontation, keine Richtungskämpfe". Der
31-Jährige sagt: "Dabei ist doch der politische Konflikt
identitätsstiftend." In der Tat: Funkensprühende Debatten
kochen auf EU-Ebene nur selten hoch. Aber gerade Jüngere
möchten, "dass die Fetzen fliegen, dass man sich an etwas
reiben kann", meint Klaus Löffler.
Ist also Resignation angesagt angesichts
einer europapolitisch eher apathischen jungen Generation? So wollen
Alvaro, Wenning, Löffler und Scharff keineswegs verstanden
werden. Und Anja Weisgerber ebenfalls nicht. Die CSU-Abgeordnete
aus Schweinfurt möchte "nicht in ein verbreitetes Klagelied
einstimmen". Bei Diskussionen in Schulen, berichtet die
29-Jährige, stoße sie auf lebhafte Neugierde. In den
Europa-Arbeitskreisen der Jungen Union werde "inhaltlich viel
gemacht". Sie sei überrascht gewesen, erzählt Weisgerber,
wie viele Anfragen besonders von jungen Bürgern sie wegen der
Krisen um EU-Verfassung und EU-Finanzen erhalten habe.
Auch andere Beobachtungen zeugen nicht
unbedingt von Desinteresse. Dass "die Mitarbeiterstäbe in der
Brüsseler Kommission und beim EU-Parlament erstaunlich jung
und qualifiziert sind", wie der FDP-Abgeordnete Alvaro gelernt hat,
kommt nicht von ungefähr. Gewiss: Jüngere begeistern sich
für EU-Wahlen nur mäßig, das klassische
europapolitische Engagement von Parteien, Verbänden oder
Parlamenten lassen sie eher links liegen - obwohl dort letztlich
die Weichen gestellt werden. Indes strömen auf Kirchentagen
junge Besucher in großer Zahl zu Europa-Workshops. Die JEF
können sich über mangelnde Teilnahme an ihren Seminaren
nicht beklagen. Wenn die EU-Volksvertretung Redakteure von
Schülerzeitungen zur Berichterstattung einlädt, ist die
Resonanz enorm.
Projekte sind sehr beliebt
Europa weckt offenbar dann Neugierde, wenn
kein dauerhafter Einsatz in einer festen Organisation gefordert
wird, sondern das Mitmachen bei temporären themenbezogenen
Aktionen lockt. "Auch wir erleben", resümiert Philipp Scharff,
"dass das politische Engagement bei jungen Leuten zunehmend
projektbezogener wird". Dazu passt die Idee des "Europäischen
Jugendparlaments", hinter dem unabhängige Vereine in 30
Ländern mit einem internationalen Dachverband stehen,
anscheinend genau. Der in Berlin bei der Heinz-Schwarzkopf-Stiftung
ansässige Geschäftsführer: "Der Andrang ist
groß, wir brauchen kaum zu trommeln."
Bei diesem "schulbasierten Projekt" (Scharff)
handelt es sich nicht um ein gewähltes Parlament, sondern um
eine "Parlamentssimulation" im Rahmen interkultureller Begegnungen:
Auf nationaler Ebene konkurrieren Gymnasialklassen bei
Aufsatz-Wettbewerben zu europäischen Fragen, den Siegern winkt
die Teilnahme bei jährlich zwei internationalen Treffen. Dort
werden dann in Ausschüssen und in Plenen Resolutionen zu
diversen Themen von der Agrar- über die Forschungs- und
Jugend- bis zur Außenpolitik erarbeitet und an die
Straßburger Volksvertretung geschickt. "Leider reagieren
bislang nur wenige Abgeordnete", berichtet Scharff.
Brüssel will den Nachwuchs ja durchaus
politisch ansprechen, die EU lässt für Programme so
manche Million springen. In der Praxis müsse man sich aber "an
der Erlebniswelt junger Leute orientieren", mahnt Scharff:
"Benötigt werden nicht noch mehr Werbeartikel, Broschüren
und Filme, daran fehlt es nicht." Alexander Alvaro sieht in erster
Linie die EU-Abgeordneten in der Pflicht: "Wichtig ist es, in
Schulen zu gehen." Der Abgeordnete aus Düsseldorf appelliert
an seine Kollegen, mehr als bisher Schülern und Studenten
Praktika im Parlamentsbetrieb zu ermöglichen. Auch Christian
Wenning von der JEF fordert die EU-Volksvertreter auf, sich
stärker persönlich an junge Menschen zu wenden: "Eine gut
gestaltete Homepage reicht nicht."
"JEF, JEF und nochmals JEF": Wenning
empfiehlt Jüngeren, die sich politisch auf EU-Ebene engagieren
wollen, seine - überparteiliche - Organisation als erste
Adresse: Gleichaltrige aus anderen Ländern kennenlernen,
Fortbildung bei Seminaren, Tuchfühlung mit Politikern, sich in
Netzwerke einklinken - man kann sich auf vielfältige Weise
einbringen. Und dann die "Gipfelstürme": Zuweilen machen
JEF-Mitstreiter aus vielen Ländern bei Demonstrationen am
Rande von Treffen der Regierungschefs Dampf für den
schnelleren Aufbau eines föderalen Europas, manchmal gehen ein
paar Hundert, zuweilen ein paar Tausend Menschen auf die
Straße.
Die einstige grüne Prominente Petra
Kelly hatte sich ihre ersten politischen Sporen ebenso bei der JEF
verdient wie Jo Leinen, jetzt SPD-Abgeordneter im EU-Parlament und
zuvor Umweltminister im Saarland. Der CDU-Grande Wolfgang
Schäuble findet sich ebenfalls in den JEF-Annalen.
Chancen zum Durchstarten können auch die
Jugendverbände der Parteien eröffnen: Dort sind die
Zirkel, die sich mit Europapolitik befassen, meist nicht gerade
überlaufen. Er sei "nicht ganz unschuldig", erzählt
Alexander Alvaro verschmitzt, dass die Jungen Liberalen
europapolitisch fit wurden, etwa mit Kritik an der Speicherung von
Fluggastdaten oder an biometrischen Daten in Ausweispapieren. Nach
solch programmatischer Arbeit fiel dann die Wahl auf ihn, als die
JuLis 2004 einen Kandidaten für die Wahl zum EU-Parlament
suchten.
Der Blick darf aber nicht auf traditionellen
Organisationen und Strukturen verharren. Wer als
Globalisierungskritiker bei Attac oder als Öko-Fighter bei
Greenpeace gegen die Politik der EU zu Felde zieht, engagiert sich
ebenfalls europapolitisch. Gleiches trifft auf junge Gewerkschafter
zu, die mit älteren Kollegen in Brüssel gegen die
EU-Dienstleistungsrichtlinie wegen der Gefahr des Sozialdumpings
marschieren.
Apropos Demonstration: Mitte November wird
das Straßburger Parlament eine besondere Manifestation
erleben. Die internationale Raver-Szene ruft auf zum Protest gegen
das in vielen Ländern immer härter werdende Vorgehen der
Polizei gegen Techno-Events. Unrühmliche Schlagzeilen
provozierte im Sommer etwa ein brutaler Einsatz der tschechischen
Polizei gegen die Teilnehmer eines solchen Festivals.
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