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Klaus Dreher
Authentische Erfahrung gegen "Legenden"
Der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl hat
den zweiten Band seiner "Erinnerungen" vorgelegt
Helmut Kohl erweist sich beim Verfassen seiner
Memoiren als genauso fleißig wie in den besten Zeiten seiner
Regierung: In nur anderthalb Jahren schaffte er es, den zweiten
Teil seiner "Erinnerungen" zu schreiben. Sie umfassen die
Zeitspanne vom Tag seiner Wahl zum Bundeskanzler am 3. Oktober 1982
bis zur Vollendung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990. Nicht
viel länger brauchte der inzwischen 75-Jährige für
den ersten Teil, der von der Kindheit in einem bescheidenen
Beamtenhaushalt in Ludwigshafen bis zur Kanzlerwahl reicht, die er
als Höhepunkt seines Lebens beschreibt.
Dass Helmut Kohl dabei sein Licht nicht unter
den Scheffel stellt und sich immer wieder selbst rechtfertigt,
liegt in seiner Natur. Er mag sich gesagt haben, da er zur Zeit
nicht gerade mit Lobeshymnen überschüttet wird,
müsse er sich am besten selbst loben. Zu bestaunen ist aber
nicht nur die gewaltige physische Arbeitsleistung des Altkanzlers,
sondern auch sein Wille, gegen den Strom zu schwimmen und seine
Memoiren zu einer Zeit zu verfassen und der Öffentlichkeit zu
präsentieren, die ihm nicht gerade freundlich gesonnen
ist.
Noch immer verübeln ihm Politiker und
Journalisten seine Parteispendenaffäre. Bei all den
Jubiläen zu den Jahrestagen der Einheit ist er nicht in
Erscheinung getreten, obgleich er die Hauptperson bei diesem
Prozess war. Mittlerweile begegnet er der anhaltenden Ablehnung in
der Öffentlichkeit mit Trotz: Seine Teilnahme an den
Feierlichkeiten zum Wiederaufbau der Dresdener Frauenkirche sagte
er ab und gab stattdessen lieber im Südwestrundfunk ein
Interview zu seinen "Erinnerungen".
Leider entpuppt sich der Umfang seiner
Memoiren zugleich als Lesebremse. Es gehört eine ordentliche
Portion Geduld und Langmut dazu, sich durch die über 1.000
Seiten des zweiten Bandes durchzuarbeiten; zusammen mit dem ersten
Teil sind mittlerweile 1.600 Blatt zusammengekommen; der Rest bis
zur Abwahl im Herbst 1998 wird kaum kürzer
ausfallen.
Sichtlich ist ihm der Stoff über den
Kopf gewachsen, denn ursprünglich hatte er vor, seine
gesammelte Autobiografie in einem handlichen Band zusammenzufassen.
Offenbar hatten aber weder der Autor noch der Verlag die Kraft und
die Autorität, diesen Mammutschmöker zu kürzen; ein
beherzter Lektor hätte das Konvolut auf die Hälfte
stutzen können, ohne dem Leser etwas Wichtiges vorzuenthalten.
So wirkt das Buch, als sei es Kohl mehr auf die vollständige
Aufzählung aller Begebenheiten angekommen als darauf, die
Schwerpunkte seiner Tätigkeit sauber
herauszuarbeiten.
Es will nicht so recht mit der
Ankündigung des Altkanzlers zusammenpassen, er habe beim
Verfassen der Memoiren vor allem an die Nachwelt gedacht. Sein Ziel
sei es gewesen, dass in späteren Zeiten ein Student der
Politologie oder Geschichte, der erfahren wolle, was während
seiner Kanzlerschaft geschehen sei, zu seinen Werken greife und
nachschlage. Offenbar mochte Kohl die Arbeit an seinem Denkmal
nicht den Historikern überlassen, denen er nicht zuzutrauen
scheint, dass sie die Vorurteile seiner Zeitgenossen
zurechtrücken.
Nach wie vor behauptet Kohl, über ihn
sei so viel Unwahres geschrieben und erfunden worden, dass er der
Legendenbildung mit seinen authentischen Erfahrungen entgegenwirken
müsse. Da er einige von ihnen schon beschrieben hat,
verschieben sich stellenweise die Proportionen. So umfasst der
Text, der der deutschen Wiedervereinigung von der Öffnung der
Grenze zu Ungarn bis zum Beitritt der neuen Länder zur
Bundesrepublik gewidmet wird, lediglich magere 150 Blatt. Man
hätte annehmen dürfen, dass er in Kohls Autobiografie den
breitesten Raum einnehmen würde. Aber der Stoff war wohl mit
dem Band: "Ich wollte Deutschlands Einheit", der 1996 vorab
erschien, verbraucht.
In den "Erinnerungen" findet sich mithin zum
Thema Wiedervereinigung statt einer genauen Darstellung seines
Handelns nur eine flüchtige Zusammenfassung und ein Hinweis
auf das frühere Buch. Die Lücke fällt umso mehr ins
Gewicht, als er schreibt, er habe in der Zwischenzeit viele neue
Erkenntnisse gewonnen. So habe er erst später erfahren, dass
der französische Präsident Mitterrand mit ihm "eine Art
Doppelspiel" gespielt habe.
In Gesprächen mit ihm habe der
französische Präsident den Eindruck erweckt, er verfolge
den Einigungsprozess wohlwollend, die britische Premierministerin
Margaret Thatcher aber, die sich scharf und deutlich gegen die
Wiedervereinigung abgrenzte, beruhigte er mit den Worten: "Machen
wir uns keine Sorgen." Paris und London könnten die Deutschen
ermuntern, die Einigung voranzutreiben "im Bewusstsein, dass die
zwei Großen uns davor bewahren". Er meinte den sowjetischen
Generalsekretär Michail Gorbatschow und den amerikanischen
Präsidenten George Bush.
Dem Buch lässt sich entnehmen, dass zu
Beginn des Einigungsprozesses alle Staatsmänner im Dunkeln
tappten, einschließlich Kohl, der zuerst einer
deutsch-deutschen Konföderation das Wort redete und sich dann
in den Absichten seines Freundes Mitterrand täuschte, bei dem
die Freundschaft dort endete, wo seine Furcht vor einem
übermächtigen Nachbarn im Osten begann. Mit den
heftigsten Vorwürfen überschüttet der Altkanzler die
damalige britische Premierministerin Thatcher, die seinem Charme
nicht erlag und mit der er auch nicht - wie mit Mitterrand,
Gorbatschow und Erich Honecker - Kriegs- und Jugenderlebnisse
austauschen konnte. Einer der geringsten Vorwürfe an ihre
Adresse lautet, sie habe immer nur die Interessen ihres Landes
vertreten und sich mithin niemals um gesamteuropäische Belange
gekümmert.
Noch schärfer fällt seine
Abrechnung mit den innerparteilichen Widersachern, Konkurrenten,
Gegnern und Kritikern aus. Zwar ist er im Vergleich zu früher
etwas gnädiger gestimmt, die Altersmilde hat auch ihn
gestreift, aber er kann es immer noch nicht verwinden, dass sich
einige seiner Parteifreunde aus seinem Schatten gelöst und
eigene Wege beschritten haben, die sich naturgemäß von
den seinigen entfernten.
Da kommt der Groll darüber zum
Vorschein, dass ihm der CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß an
politischer Phantasie und rhetorischer Brillanz überlegen war.
Er räumt in einer langen Passage ein, dass Strauß ein
"politischer Stratege, ein Militärexperte, ein Finanz- und
Wirtschaftsexperte von hohen Graden" gewesen sei, versteigt sich
dann aber zu der Behauptung, er sei "feige" gewesen. "Wann immer es
ihm möglich erschien, ließ er gerne andere eingreifen. Es
fehlte ihm an Kraft, selbst an der Front zu kämpfen, wenn er
es mit einem ebenbürtigen Gegner zu tun hatte."
Das Urteil mag richtig sein. Richtiger
wäre es gewesen, wenn Kohl hinzugefügt hätte, dass
er selbst im Umgang mit Strauß häufig ebenfalls zum
Mittel der indirekten Verleumdung griff. Strauß erkannte
während ihrer ständigen Auseinandersetzungen sehr gut,
dass Kohl, um ihn zu diskreditieren, morgens ein Gerücht in
die Welt setzte, um es abends zu dementieren, und dass er
Parteifreunde vorschickte, wenn es galt, ihm unerfreuliche
Botschaften zu überbringen.
Etwas neben der Wahrheit liegt Kohl auch mit
seiner Bemerkung, er habe Strauß "gerne in dem Glauben"
gelassen, "Einfluss auf die Regierungskoalition zu nehmen",
während in Wahrheit sein Einfluss "gegen null" tendiert habe.
In Wirklichkeit musste Kohl bei allen großen Entscheidungen,
auch den Personalentscheidungen, auf Strauß Rücksicht
nehmen, oft auch zum Besseren für die Sache, um die es
ging.
Den Dauerkonflikt mit Richard von
Weizsäcker schildert Kohl so einseitig, selbstgerecht und aus
der Sicht des enttäuschten Förderers, dass sein Blick auf
die Realitäten getrübt erscheint. Zutreffend ist Kohls
Schilderung, er habe Weizsäcker bereits in den 60er-Jahren
für die CDU entdeckt und habe das Fundament für dessen
politische Karriere gelegt. Richtig ist aber auch, dass er ihm
danach ständig Steine in den Weg legte, als es um das Amt des
Bundespräsidenten ging: Er wollte es ihm verwehren, weil er
die Konkurrenz fürchtete.
Zur Wahl 1969 trug er Weizsäcker zum
ersten Mal die Kandidatur für das Amt an, versuchte dann aber,
ihn wieder davon abzubringen, als er merkte, dass Strauß den
früheren Außenminister Gerhard Schröder
unterstützte. 1974 ermutigte Kohl seinen Parteifreund, als
"Zählkandidat" gegen Walter Scheel anzutreten, als der die
Mehrheit in der Bundesversammlung hatte. 1979, als die Union die
Mehrheit stellte, schlug sich Kohl auf die Seite von Strauß
und half, Karl Carstens zu nominieren.
Um Weizsäcker und seinen Anhang zu
neutralisieren, lobte er ihn nach Berlin, wo Weizsäcker derart
erfolgreich war, dass er den SPD-Senat stürzte und sich zum
Regierenden Bürgermeister wählen ließ. Als er ein
Jahr vor der Wahl 1984 Interesse zeigte, sich um die Nachfolge von
Carstens zu bewerben, setzte Kohl alle Hebel in Bewegung, um ihn
davon abzuhalten - wie man weiß, ohne Erfolg. Damit begann
jene Rivalität zwischen dem Präsidenten und dem Kanzler,
die Kohl vorhergesehen hatte.
Bis jetzt, so kann man den "Erinnerungen"
entnehmen, schmerzt es Kohl, dass sie gegeneinander ausgespielt
wurden und dass Weizsäcker immer die bessere Figur machte. Und
er gibt sich geradezu verletzt und gekränkt darüber, dass
er vor Weizsäckers berühmter Rede zum Kriegsende am 8.
Mai 1985 selbst eine Rede zu diesem Thema gehalten hatte
(selbstverständlich die bessere!), die aber von der
Öffentlichkeit nicht wahrgenommen wurde. In den Memoiren kann
man sie nachlesen. Und vollends bringt es ihn aus der Fassung, dass
Weizsäcker in seiner Berliner Amtszeit auf eigene Faust
Deutschlandpolitik betrieb und sich mit Erich Honecker traf und
dass er abermals nach dem Fall der Mauer eigene Vorstellungen
über das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten
entwickelte. Das erscheint dem Exkanzler im Rückblick als ein
Privileg, das nur ihm zustand.
Kein gutes Haar lässt Kohl auch an den
"Putschisten", jenen Parteifreunden, die versuchten, ihn beim
Bremer Parteitag im September 1989 zu stürzen. Über den
damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten
Lothar Späth, der ihn im Parteivorsitz ablösen sollte,
spottet er, Späth habe versucht, sich in der Zeit seiner
Bewerbung als Außen-, Sicherheits- und Deutschlandpolitiker zu
profilieren, "um seine Defizite auf diesen Feldern auszugleichen".
Bei seinen diversen Auslandsreisen habe Späth "allerdings
nicht den Anschein … erweckt, als würde sich ein neuer
Staatsmann in Szene setzen".
Was Kohl verschweigt ist, dass er den
"Putsch" auslöste, indem er dem damaligen
CDU-Generalsekretär Heiner Geißler brüsk den Stuhl
vor die Tür setzte und sich weigerte, ihn im Amt des
Generalsekretärs zu bestätigen. Nach der Parteisatzung
war das sein gutes Recht, aber es gab keinen objektiven Grund, ihn
abzulösen, außer dem, dass der Kanzler Kohl zu diesem
Zeitpunkt die gesamte Macht an sich ziehen und die Partei vollends
seinem Regiment unterordnen wollte.
In Kohls Augen hatte die Partei, die für
ihn bis dahin Priorität vor der Regierung hatte und den
langfristigen Kurs vorgab, nunmehr die umgekehrte Aufgabe: Er
wollte sie zum Instrument der Bundesregierung machen, die keine
andere Funktion hatte, als der Regierung zuzuarbeiten. Geißler
versuchte lange Zeit gegenzusteuern, um die Eigenständigkeit
der CDU zu erhalten, aber den Zwiespalt hielten beide auf Dauer
nicht aus. Kohl setzte sich am Ende durch, nicht zuletzt deswegen,
weil er noch immer in der Partei stark verankert war und weil sich
Späth zwar eine Weile in der Gunst der Medien sonnte, aber
sich nicht traute, offen gegen Kohl anzutreten.
Nicht viel besser als Lothar Späth
kommen in Kohls Darstellung dessen Bundesgenossen, die
"Umstürzler" Rita Süssmuth, Norbert Blüm, Kurt
Biedenkopf, Walther Leisler Kiep und - wiederum - Richard von
Weizsäcker davon. Besonders scharf rechnet er mit einem seiner
ältesten Weggefährten, dem damaligen Arbeits- und
Sozialminister Blüm, ab. Er behauptet nun, er habe sich in
"seinem Charakter getäuscht".
Kohl bewegt sich in den "Erinnerungen"
vorwiegend in dem Muster, das seine Regierungszeit bestimmte. Man
kann an diesem Punkt auf seinen großen Vorgänger Otto von
Bismarck verweisen, mit dem er gern verglichen wird. Dessen
Sekretär Lothar Bucher beklagt die subjektive Einfärbung
in den "Gedanken und Erinnerungen" seines Auftraggebers. Die Schuld
daran, dass etwas missriet, wies Bismarck "immer den anderen" zu,
er selbst wollte "an nichts, was misslungen ist, beteiligt gewesen
sein".
Selbstverständlich ist Kohl zu
beschlagen und erfahren, als dass er sich bei einer massiven
Verfälschung der Ereignisse ertappen ließe. Aber er
greift gelegentlich zu dem Mittel, nur die halbe Wahrheit und dabei
deren für ihn günstigsten Anteil zu erzählen. Bei
der Schilderung der Affäre Wörner-Kießling von 1984
schreibt er, der Verteidigungsminister Manfred Wörner habe dem
Militärischen Abschirmdienst MAD zu sehr
"vertraut".
Die ganze Wahrheit ist, dass Wörner,
statt sich auf die Seite des Generals zu stellen, ungeprüft
die Behauptung des MAD übernahm, Günter Kießling sei
homosexuell. Schlimmer noch, als sich bereits abzeichnete, dass die
Behauptung falsch war, versteifte er sich auf die Vorwürfe und
tat alles, um Kießling, der sein Ehrenwort verpfändete,
der Lüge zu bezichtigen. Kohl hätte also sehr wohl einen
Grund gehabt, ihn aus dem Amt zu entlassen.
Ähnlich verfährt er, wenn er
behauptet, seine Gegner hätten aus seinem Satz von der "Gnade
der späten Geburt" eine Kampagne gegen ihn konstruiert. In
Wirklichkeit weckte er bei seinem Besuch in Israel 1984 das
Misstrauen der Gastgeber, weil er und seine Delegation den Eindruck
hinterließen, sie wollten als Vertreter einer neuen
Generation, die noch nicht in die Verbrechen der
Nationalsozialisten verstrickt war, einen "Schlussstrich" ziehen.
Immerhin hat er daraus gelernt und verstanden, sich mit solchen
Äußerungen zu zügeln. In den "Erinnerungen" setzt er
sich außerdem gründlicher und intensiver mit dem
Nationalsozialismus auseinander als in früheren
Schriften.
Als Fazit der "Erinnerungen" lässt sich
festhalten, dass Kohl sich selbst treu geblieben ist. Das bedeutet
auch, dass er häufig mehr Subjektivität in Anspruch
nimmt, als es Memoiren üblicherweise zulassen. So bleibt das
Bild eines Staatsmanns, der als eine der bedeutenden
Persönlichkeiten des vorigen Jahrhunderts in die Geschichte
eingehen wird. Dabei weist er, während seiner aktiven Zeit wie
beim Schreiben seiner Memoiren, all die Stärken und
Schwächen, die hellen und dunklen Seiten auf, die einen
starken Charakter ausmachen.
Helmut Kohl
Erinnerungen, 1982 - 1990.
Droemer Verlag, München 2005; 1088
S., 29,90 Euro
Klaus Dreher stammt aus Mannheim und hat schon als junger
Journalist und später als langjähriger Leiter des Bonner
Büros der "Süddeutschen Zeitung" über Jahrzehnte den
politischen Weg Helmut Kohls über die Anfänge in
Ludwigshafen und Mainz bis in die Kanzlerschaft in Bonn
journalistisch begleitet.
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