Ursula Homann
Die Pluralität der Untergänge
Jürgen Engler präsentiert
apokalyptische Texte
Ursprünglich nannte man Apokalypse eine Schrift, die
Weltlauf und Weltende prophetisch voraussagte. Der wichtigste Text
der apokalyptischen Literatur ist zweifellos die Offenbarung des
Johannes, die 96 n. Chr. entstand. Lange verband man mit einer
Apokalypse die Erwartung, dass eine als unerträglich
empfundene Welt zerstört und ein tausendjähriges Reiches
voll Glückseligkeit anbrechen würde.
Heute indes bezeichnet man als Apokalypsen große
Katastrophen, die jede menschliche Vorstellungskraft
übersteigen und unzählige Opfer fordern, wie etwa den
Tsunami in Südostasien im Dezember 2004, von dem es seinerzeit
hieß, er sei "eine Katastrophe apokalyptischen
Ausmaßes".
Obgleich inzwischen die für die Apokalypse typischen
religiösen Glaubensformen mit der Säkularisierung der
Gesellschaft weitgehend aus der westlichen Vorstellungswelt
verschwunden sind, so ist doch unser Zeitgefühl oft
apokalyptisch gestimmt. Aber nicht nur heute, auch in anderen
Epochen hat es immer wieder kollektive Angst- und Wunschträume
gegeben, die sich selbst in der Literatur spiegeln. Nicht wenige
Texte malen wahre Schreckensbilder aus und sind von einer
ähnlich gewaltigen Sprach- und Bildkraft wie die Offenbarung
des Johannes.
Der Literaturwissenschaftler Jürgen Engler hat
Textauszüge aus literarischen Visionen und Fantasien, die den
Weltuntergang im Lichte der jeweiligen geschichtlichen Erfahrung
beschwören, zu einer fesselnden Anthologie zusammengestellt
und mit hilfreichen Kommentaren versehen. Es ist in der Tat
erstaunlich, was und wen er alles ausgegraben hat. Man ist
überrascht, wie viele Dichter sich über ein
mögliches Weltende Gedanken gemacht haben.
Die Sammlung beginnt mit Jean Pauls "Rede des toten Christus vom
Weltgebäude herab, dass kein Gott sei". Allerdings wollte der
Autor hiermit nur die Notwendigkeit des Gottesglaubens
bekräftigen. Zwei Jahrhunderte später hat Günter
Grass in seinem Roman "Die Rättin" Jean Pauls Schreckensvision
mit einer "Unheilsprophetie säkularen Ausmaßes"
aktualisiert. Arnold Zweig wiederum liest in seinem Essay
"Ausklang: Nochmals der Novellist" die Erzählung "Das Erdbeben
von Chili" von Heinrich von Kleist aus der Sicht des 20.
Jahrhunderts und rät dem Leser, das Erdbeben durch die
Luftbombardements von Rotterdam, Warschau oder Dresden zu
ersetzen.
Während vor dem Ersten Weltkrieg nicht wenige Deutsche im
patriotischen Hochgefühl schwelgen und wie Ernst Jünger
den Krieg als Vater aller Dinge preisen, zeigen expressionistische
Lyriker wie der früh verunglückte Georg Heym, Georg Trakl
und Jakob van Hoddis eine besondere Sensibilität für die
Gefahren des kommenden Krieges. Auch das Frühwerk von Johannes
R.Becher ist apokalyptisch geprägt.
Mit der Atombombe wurde eine Massenvernichtungswaffe entwickelt,
die apokalyptische Szenarien zur realistischen Bedrohung werden
lassen. Etliche Dichter und Schriftsteller reagierten auf die neuen
Gefahren: Günter Eich, Günter Kunert, Wolfgang Weyrauch -
eins seiner Gedichte gilt japanischen Fischern, deren
Fanggründe durch die amerikanische Atombombenversuche
verseucht wurden - sowie Richard Pietraß, Thomas
Rosendörfer, Jens Rehn und andere.
Christa Wolf bedenkt in "Störfall" angesichts des Unfalls
im Reaktor von Tschernobyl die Segnungen und Gefahren von
Wissenschaft und Technik. Durs Grünbein zählt dagegen
allem Anschein nach auch die Genetiker zu den Vorreitern der
Apokalypse. Weder in Christoph Ransmayrs "Die letzte Welt" noch im
letzten Roman von Friedrich Dürrenmatt "Durcheinandertal" ist
irgendeine Spur von einem "Gelobten Land" auszumachen. Düstere
Prosa breitet sich offensichtlich immer mehr aus.
Hoffnungsbotschaften sucht man jedenfalls bei den meisten Autoren
vergebens.
Nicht alle apokalyptischen Vorstellungen wie etwa die vom
atomaren Weltkrieg sind bisher Wirklichkeit geworden. An die Stelle
jäher Zerstörung trat schleichender Verfall, den Hans
Magnus Enzensberger als "Apokalypse in Zeitlupe" beschreibt.
Überdies haben wir es heutzutage nicht mit der Apokalypse als
einem einmaligen Ereignis zu tun, sondern eher mit einer
"Pluralität der Untergänge".
Was aber ist eine apokalyptische Katastrophe ohne Bildschirm?
Die Bilder vom Einsturz der Twin Towers in New York am 11.
September 2001 haben sich durch Fernsehbilder tief ins
Gedächtnis eingegraben. Ulrich Peltzer und Kathrin Röggla
thematisieren in ihren Texten den Zusammenhang von Katastrophe und
globaler medialer Kommunikation.
Manche Autoren haben künftige Katastrophen sogar
vorweggenommen. "Der blaue Kammerherr" von Wolf von
Niebelschütz aus dem Jahr 1949 ist beispielsweise ein
Vorschein späteren ökologisch-apokalyptischen Denkens und
Argumentierens. Bekannter ist Frank Schätzings
wissenschaftlich-phantastischer Roman "Der Schwarm", in dem der
Autor schon vor einigen Jahren die verheerenden Wirkungen eines
Tsunamis drastisch ausgemalt hat.
Unseren eigenen Untergang pfeifen die Spatzen von den
Dächern, glaubt Enzensberger und fordert Respekt und
Bescheidenheit vor dem Unbekannten. "Dann werden wir weitersehen."
Vielleicht bleibt uns nach all den früheren hochtrabenden
Utopien tatsächlich nichts anderes übrig als eine vage
Hoffnung darauf, dass wir, allen Schreckensbildern zum Trotz, doch
noch irgendwie davon kommen.
Jürgen Engler (Hrsg.)
Apokalypse. Schreckensbilder in der deutschen Literatur von Jean
Paul bis heute.
Schwartzkopff Buchwerke, Berlin 2005; 354 S., 14,50 Euro
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