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Christoph Seils
Jugend Europas begegnet sich in großer
Offenheit
Der Austausch mit Osteuropa nimmt stetig zu -
deutsche Teenager fahren dennoch lieber in den Westen
Im September dieses Jahres war Anne Kahn das
erste Mal in Polen. Mit acht Schülern des
Elisabethen-Gymnasiums in Frankfurt am Main nahm die Lehrerin
für Politik und Geschichte in den Städten Posen und
Krakau an einem einwöchigen deutsch-polnischen Seminar teil.
40 polnische und 32 deutsche Schüler aus sechs Schulen
diskutierten über Krieg und Vernichtung, Umsiedlung und
Vertreibung, besuchten gemeinsam das Konzentrationslager Auschwitz.
Wenn Anne Kahn nun die Frage beantworten soll, was sie an dieser
deutsch-polnischen Begegnung am meisten beeindruckt hat, dann
erzählt sie, wie wenig sie sich früher für Polen
interessiert habe und wie viel Neues sie und ihre Schüler
über den östlichen Nachbarn gelernt hätten.
Es hat sich gelohnt", sagt die
Gymnasiallehrerin und fügt hinzu: "Es ist in jedem Fall
sinnvoll, die Begegnungen fortzusetzen." Das nächste Treffen
der sechs Schulen soll im kommenden Jahr in Potsdam
stattfinden.
Gefördert wurde das Seminar vom
Deutsch-Polnischen Jugendwerk (DPJW). Es war eine von etwa 4.300
geförderten Schüler- und Jugendbegegnungen mit knapp
170.000 Teilnehmern in diesem Jahr. Das Interesse an Polen nimmt
seit der Gründung des Jugendwerkes im Jahr 1991 kontinuierlich
zu. "Unsere Arbeit trägt Früchte", sagt
DPJW-Geschäftsführerin Doris Lemmermeier. Mehr noch. In
diesem Jahr erlebt das DPJW einen regelrechten Boom. "Es gibt einen
riesigen Ansturm auf unserer Fördertöpfe", sagt die
Geschäftsführerin und betrachtet diese Entwicklung trotz
alle Freude auch mit gewisser Sorge. "Mit diesem Boom geraten wir
an die Grenzen unserer finanziellen Möglichkeiten."
Nicht nur der Jugendaustausch mit Polen nimmt
stetig zu. Insgesamt gibt es immer mehr bi-, tri- und multilaterale
Austauschprogramme mit den osteuropäischen Staaten.
Schwerpunkte sind die Nachbarländer Polen und Tschechien, aber
auch die Nachfrage nach Austauschprogrammen mit den neuen
EU-Ländern Lettland, Estland Litauen, Ungarn und Slowakei
sowie mit der Ukraine und Russland steigt. So hat sich
beispielsweise die Zahl der Teilnehmer am Schüleraustausch mit
den neuen ost- und südosteuropäischen EU-Ländern
zwischen 1999 und 2003 von 29.000 auf 60.000 mehr als verdoppelt.
Insgesamt geht die Bundesregierung davon aus, dass im Jahr 2003
etwa 190.000 Schüler, Jugendliche und Studenten aus den
dortigen Ländern am staatlich geförderten Jugendaustausch
teilgenommen haben. Wie viele Jugendbegegnungen darüber hinaus
von zahlreichen nichtstaatlichen Organisationen und Stiftungen
gefördert wurden, darüber wird keine Statistik
geführt.
Die Trägerlandschaft ist
vielfältig. Ihre Zahl geht in die Hunderte. Es gibt viele
Fördertöpfe und Ansprechpartner bei den
Bundesländern, dem Bund und der Europäischen Union sowie
die unterschiedlichsten Programme für Schüler,
Jugendgruppen, Auszubildende oder Studenten (siehe Kasten). So
fördert zum Beispiel der Pädagogische Austauschdienst der
Kultusministerkonferenz (PAD) den Schüleraustausch. Im Rahmen
ihres Kinder- und Jugendplans unterstützt die Bundesregierung
den Internationalen Jugendaustausch mit Osteuropa. Jugend, Sokrates
und Leonardo da Vinci heißen die Austauschprogramme der
Europäischen Union. Für Studenten ist der DAAD der
wichtigste Ansprechpartner. Nur für den Jugendaustausch mit
den unmittelbaren östlichen Nachbarländern Polen und
Tschechien gibt es spezielle Einrichtungen, die den Austausch
fördern und Kontakte vermitteln. Neben dem DPJW ist dies
"Tandem", das Koordinierungszentrum Deutsch-Tschechischer
Jugendaustausch.
Die Koordinierung von Jugendbegegnungen ist
trotz des Booms nicht immer einfach. In Deutschland gibt es ein
umfangreiches Netz von Trägern der Jugendarbeit, in Tschechien
beispielsweise befindet sich dieses noch im Aufbau. "Da fehlen 40
Jahre Entwicklung", sagt "Tandem"-Leiter Stephan Kruhl.
Darüber hinaus seien die alten Strukturen aus der Zeit des
realen Sozialismus teilweise diskreditiert. Vorbild für alle
Austauschprogramme nach Osteuropa ist das Deutsch-Französische
Jugendwerk (DFJW). 1963 wurde dieses vom damaligen Bundeskanzler
Konrad Adenauer und dem französischen Präsidenten Charles
de Gaulle gegründet. Bis heute erhält das DFJW mehr als
doppelt soviel Geld wie das DPJW. Kein Wunder also, dass auch die
Teilnehmerzahlen doppelt so hoch sind.
Doch das ist nicht der einzige Grund: Auch
wenn der Austausch mit Osteuropa stark zunimmt, geht der große
Trend beim Jugendaustausch in Deutschland immer noch eindeutig in
Richtung Westen. Das mag daran liegen, dass deutsche Schüler
wesentlich häufiger Englisch und Französisch als
Polnisch, Tschechisch oder Russisch lernen. Es hat wohl aber auch
damit zu tun, dass diese Länder angesagter sind. So nahmen im
Jahr 2003 beispielsweise 35.000 Schüler am Austausch mit
Frankreich teil, 10.000 am Austausch mit Großbritannien.
Lediglich 16.000 fuhren nach Polen.
In Osteuropa selbst liegt das Reiseziel
Deutschland, in dem man sein Schüleraustauschjahr oder sein
Studium verbringen kann, ganz vorn: Schon heute besuchen mehr
Schüler aus osteuropäischen EU-Staaten Deutschland als
junge Menschen aus Frankreich und England. 26.000 Schüler
kamen 2003 von dort nach Deutschland, aus Frankreich und England
waren es 20.000 beziehungsweise 4.000. Dass hat nicht nur seine
Ursache darin, dass sich die osteuropäische Länder am
westeuropäischen Wohlstand orientieren, sondern wiederum auch
an der Sprachkompetenz. Zwar hat Englisch in den
osteuropäischen Ländern Deutsch als erste Fremdsprache
abgelöst, aber noch immer ist Deutsch in Polen, Tschechien,
Ungarn oder Russland sehr populär.
So ist denn auch die fehlende Sprachkenntnis
der deutschen Teilnehmer wohl insgesamt eines der größten
Hemmnisse beim Schüler- und Jugendaustausch mit Osteuropa.
Viele geplante Begegnungen reduzieren sich auf eine touristische
Reise, wenn sich die Teilnehmer nicht verständigen
können. Auch dort, wo Übersetzer eingesetzt werden, kommt
es nur mühsam zu persönlichen und unmittelbaren
Kontakten. Doch für das DPJW gilt, dass auch jeder teilnehmen
kann, der lediglich seine Muttersprache beherrscht, erklärt
Doris Lemmermeier. Die fehlenden Sprachkenntnisse seien für
sie "kein Problem sondern eine Herausforderung". Aber auch das
deutsch-tschechische Koordinierungszentrum "Tandem" läßt
die Jugendlichen mit dem Problem mangelnder Sprachkompetenz nicht
allein: Das Zentrum hat ein Sprachanimationsprogramm entwickelt.
Mit diesem sollen Jugendliche in einem relativ kurzen Zeitraum
zumindest Ansätze einer Sprachfähigkeit
erwerben.
Wenn heute das Erlernen der Fremdsprache ein
wichtiger Punkt ist, stand nach dem Zweiten Weltkrieg ein anderes
Ziel der Jugendbegegnungen im Mittelpunkt: Die Versöhnung
zwischen den so genannten Erzfeinden Deutschland und Frankreich.
Beide Länder sind heute europäische Partner wie auch
Polen und Tschechien.
In der Folge haben sich die Ziele des
Jugendaustausches längst verändert. "Versöhnung
steht heute nicht mehr im Mittelpunkt", sagt "Tandem"-Leiter
Stephan Kruhl, selbst über heikle Themen wie Völkermord
und Vertreibung würden die Jugendlichen inzwischen mit
großer Offenheit sprechen. Wichtiger seien die interkulturelle
Kompetenz und die dadurch entstehende internationale
Verständigung. Ähnlich sieht es auch
DPJW-Geschäftsführerin Doris Lemmermeier: "Unsere
Motivation kommt nicht mehr nur aus der Vergangenheit, sondern es
geht heute genauso darum, gemeinsam die europäische Gegenwart
und Zukunft zu gestalten."
Das DPJW würde gerne mehr trinationale
Begegnungen zwischen Deutschland, Polen sowie den östlichen
Nachbarländern Russland, Weißrussland und Ukraine, die
nicht der EU angehören, fördern. Die östliche
EU-Außengrenze soll für Jugendbegegnungen
durchlässig sein.
Natürlich hätte auch "Tandem"
nichts gegen mehr Geld und flexiblere Fördertöpfe
einzuwenden. Aber die Frage, ob mehr deutsche Jugendliche ihren
Blick nach Tschechien richten, ist für Stephan Kruhl vor allem
auch eine Imagefrage: "Wir müssen mehr Interesse wecken", sagt
er. "Wir müssen darauf hinarbeiten, dass immer mehr
Jugendliche sagen: ,Tschechien ist cool.'"
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