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Karl-Otto Sattler
Ein Korsett für die Meinungsfreiheit
Stasi-Vorwurf gegen Stolpe
unzulässig
Wer wollte Manfred Stolpe die Freude verdenken. "Genugtuung"
empfinde er über dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts
(BVerfG), erklärte der bis vor kurzem amtierende
Verkehrsminister. Der SPD-Politiker konnte in Karlsruhe einen
vollen Erfolg verbuchen: Nach der Entscheidung der Richter in den
roten Roben war die Äußerung des Berliner CDU-Politikers
Uwe Lehmann-Brauns aus dem Jahr 1996 unzulässig, zu DDR-Zeiten
sei Stolpe als "IM Sekretär über 20 Jahre im Dienste des
Staatssicherheitsdiensts tätig gewesen". Stolpe, so das
BVerfG, sei durch diesen Vorwurf in seinem
Persönlichkeitsrecht verletzt worden. In der Tat: Die
Stasi-Kontakte des Konsistorialpräsidenten der Evangelischen
Kirche in der DDR waren in den 90er-Jahren hoch umstritten, doch
konnten ihm Spitzelaktivitäten im Auftrag des Geheimdiensts
nicht nachgewiesen werden. Der Bundesgerichtshof (BGH) als
Vorinstanz hatte befunden, die Kritik von Lehmann-Brauns an Stolpe
sei durch das Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt.
Auf den ersten Blick scheint es sich bei diesem Streit um eine
der unzähligen Unterlassungsklagen zu handeln, die landauf,
landab um richtige oder falsche, um tatsächliche oder
vermeintliche ehrenrührige Behauptungen ausgefochten werden.
Im Kern hat das Karlsruher Urteil (AZ: 1 BvR 1696/98) indes das
Zeug, ein Stück Geschichte zu schreiben auf dem Weg hin zu
einer immer restriktiveren Ausformung der Presse- wie der
politischen Redefreiheit zugunsten dessen, was als
Persönlichkeitsrecht eingestuft wird.
Die "Stuttgarter Zeitung" nennt den BVerfG-Spruch "eine
Katastrophe", fürderhin werde aus Furcht vor noch mehr
Unterlassungsklagen "noch weniger geredet und gestritten werden".
Stolpes Prozessgegner Lehmann-Brauns meint, künftig
würden Politiker wie Medienschaffende häufiger als bisher
"die Schere im Kopf" ansetzen müssen. Doch es gibt auch andere
Stimmen. Die FDP-Bundestagsabgeordnete Gisela Piltz findet die
BVerfG-Entscheidung "nachvollziehbar", eine Einschränkung der
Medienfreiheit kann sie nicht erkennen. Der Parlamentarier Wolfgang
Nescovic von der Linkspartei, selbst BGH-Richter, gewinnt dem
Urteil viel Positives ab: Politiker und Journalisten müss-ten
eben differenzierter und zutreffender argumentieren, dem
"kulturellen Verfall", unterschwellig und suggestiv politische
Vorwürfe in die Welt zu setzen, habe Karlsruhe "einen Riegel
vorgeschoben".
Was für Aufregung sorgt, mutet für den Laien wie
juristische Haarspalterei an. Weder das BVerfG noch der BGH, der
nun nach den Karlruher Vorgaben den Fall Stolpe neu bewerten muss,
haben sich mit der Frage befasst, ob der SPD-Politiker Stasi-IM war
oder nicht. Es dreht sich um die Frage, ob und wann "mehrdeutige"
Äußerungen erlaubt sind oder nicht. Die Formulierung von
Lehmann-Brauns, Stolpe habe "im Dienst" der Stasi gestanden,
bedeutet nicht zwingend, dass Stolpe auf der Basis einer
Verpflichtungserklärung im Auftrag des DDR-Geheimdienstes
gearbeitet hat - womit es sich nicht um eine eindeutige
Tatsachenfeststellung, sondern um eine mehrdeutige,
interpretationsfähige Behauptung handelt. Deshalb hatte der
BGH den Angriff des CDU-Politikers auf Stolpe im Sinne der
Meinungsfreiheit für zulässig erklärt.
Karlsruhe hingegen hat jetzt ein System mit einer Art
zweistufiger Redefreiheit entwickelt. Zunächst sind in einem
ersten Schritt mehrdeutige Äußerungen erlaubt, weil
ansonsten die individuelle Meinungsfreiheit wie die
gesellschaftliche Meinungsbildung aus Furcht vor Sanktionen
beeinträchtigt würden, also einschüchternde Effekte
zu befürchten seien. Sofern die so kritisierte Person jedoch
für die Zukunft die Unterlassung solcher Vorwürfe
verlangt, muss diesem Ansinnen Rechnung getragen werden - oder der
Kritiker hat bei erneuten Stellungnahmen zu diesem Thema
darzulegen, dass seine These umstritten ist und ein hieb- und
stichfester, ein gesicherter Tatsachenbeweis fehlt. "Was heute
erlaubt ist, ist morgen verboten", kommentiert die "Stuttgarter
Zeitung".
Lehmann-Brauns sieht in dem BVerfG-Urteil eine massive
Einschränkung der Meinungsfreiheit und einen Bruch mit der
bisherigen Karlsruher Rechtsprechung. Bislang habe man im Prinzip
alles sagen dürfen, sofern man nicht absichtlich die
Unwahrheit und eine falsche Behauptung von sich gegeben habe. Nun
müsse man jedes Wort auf die Goldwaage legen. Und
unabhängig vom konkreten Streit mit Stolpe fragt
Lehmann-Brauns: "Will man denn eine politische Auseinandersetzung
ohne Polemik? Das gehört doch dazu!"
Aus Sicht von Silke Stokar geraten durch den BVerfG-Spruch nicht
in erster Linie Politiker in Bedrängnis. "Mit Sorge"
betrachtet die innenpolitische Sprecherin der grünen
Bundestagsfraktion hingegen dessen Auswirkungen auf die
Pressefreiheit, "die durchaus eingeschränkt wird". Ein
"pointierter Journalismus" werde wesentlich erschwert. "Die
Schwelle für erfolgversprechende Unterlassungsklagen wird
spürbar herabgesetzt", kritisiert die Abgeordnete - und das
nütze vor allem finanzkräftigen Stars und Politikern, die
sich teure Prozesse leisten können.
"Für Manfred Stolpe persönlich freue ich mich",
erklärt Jörg Tauss, "aber trotzdem empfinde ich wegen des
BVerfG-Urteils ein gewisses Unbehagen", nämlich wegen
eventueller Konsequenzen für die journalistische Arbeit.
Zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht "bewegt man
sich stets auf einem schmalen Grat", so der medienpolitische
Sprecher der SPD-Fraktion, "aber im Zweifel muss man zugunsten der
Pressefreiheit entscheiden". Im Blick auf die Medien meint Gisela
Piltz, dass die Pressefreiheit natürlich wichtig sei, aber
durch den BVerfG-Spruch werde "der investigative Journalismus nicht
erschwert". Die innenpolitische Sprecherin der FDP-Fraktion: "Das
ist ein Auftrag zur genauen und gründlichen Recherche."
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