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Ulrike Baureithel
Bei Arbeitslosen machen Ärzte immer weniger
Hausbesuche
Ärmere Menschen sind nicht nur kränker
als reiche - sie sterben auch früher
Armut macht krank. Das ist keine sehr neue Erkenntnis, doch sie
rückt uns immer näher auf den Leib. Weit über
100.000 Menschen, so Schätzungen, fallen in Deutschland
bereits jetzt aus der Gesundheitsversorgung, mit steigender
Tendenz. Doch auch Langzeitarbeitslose, die noch versichert sind,
leben mit erhöhtem Krankheitsrisiko. Menschen, die länger
als ein Jahr arbeitslos sind, so der Gesundheitsexperte Rolf
Rosenbrock zum Auftakt des bundesweiten Kongresses "Armut und
Gesundheit", sind doppelt so krankheitsgefährdet wie ihre
erwerbstätigen Kollegen. Männer aus dem untersten Viertel
der Einkommensskala haben eine um zehn Jahre geringere
Lebenserwartung als Männer aus dem oberen Viertel, bei Frauen
sind es immerhin noch fünf Jahre. Anders gesagt: Im sozial
schwachen Viertel Berlin-Kreuzberg, wo der Migrantenanteil etwa 35
Prozent beträgt, sterben doppelt so viele Menschen vor ihrem
65. Lebensjahr wie im wohlhabenden Zehlendorf. Aber es gibt noch
weitere Indikatoren, an denen sich der Zusammenhang zwischen Armut
und Gesundheit messen lässt. Die Kassenärztliche
Vereinigung Berlin hat zum Beispiel für die Hauptstadt
exemplarisch berechnet, dass Arztbesuche in Bezirken mit hohem
Arbeitslosenanteil überproportional zurückgegangen
sind.
Dabei nimmt die soziale Ungleichheit sogar noch zu und setzt
sich von Generation zu Generation fort, weil Kinder, die unterhalb
der Armutsgrenze leben, schlechter ernährt sind, bewegungsarm
leben und von gesundheitsfördernden Maßnahmen oft nicht
erreicht werden. Hinter den dürren Zahlen verbergen sich
Schicksale: vernachlässigte Kinder oder unzureichend
aufgeklärte, ungewollt schwangere Teenager, Jugendliche, die
immer früher zur Flasche greifen, erwerbslose Männer, die
Depressionen bekommen, Migrantinnen, die den ärztlichen
Ratschlägen nicht folgen können oder demente Patienten,
die betreuerischen Maßnahmen hilflos ausgeliefert sind.
Rentenbeitrag als Verlustgeschäft
"Prävention gegen Armut" lautete deshalb das Motto des zum
elften Mal in Berlin tagenden Kongresses, der von Jahr zu Jahr ein
größeres Publikum anzieht und auch verstanden werden kann
als sachverständige Intervention von Gesundheitsexperten und
Betroffenen. Der Themenschwerpunkt knüpfte an das lange
vorbereitete und auch noch vorgelegte, aber nicht mehr
verabschiedete Präventionsgesetz des
Bundesgesundheitsministeriums, das als vierte Säule in das
Sys-tem eingeführt werden soll und, wie Karl Lauterbach,
mittlerweile SPD-Bundestagsabgeordneter, wiederholt
bekräftigte, "mehr sein soll als eine Kür". Denn was
bislang nur als Ergänzung der Akutmedizin verstanden wurde,
soll künftig als eigenständige Versorgungsebene ausgebaut
werden und zur Akzeptanz des gesamten Sozialversicherungssystems
beitragen, also, wenn man so will, präventiv dem
Versicherungsfrust entgegenwirken.
Denn weshalb, so die Rechnung des Gesundheitsökonomen,
sollte ein Versicherter mit weniger als 30.000 Euro Jahreseinkommen
künftig noch in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen,
obwohl jeder Vierte das Renteneintrittsalter gar nicht mehr erlebt?
Mit seinen Beiträgen finanziert er die Gutverdiener mit, von
denen die meisten damit rechnen können, dass sie 20 Jahre lang
eine relativ hohe Rente beziehen. Für einen Geringverdiener
ist der monatliche Rentenbeitrag ein klares Verlustgeschäft,
das sich nicht rechnet. Auf dieser sozialen Ungleichheit aber
basiert die Kalkulation der gesetzlichen Rentenversicherung; ein
zum Himmel schreiender Skandal, dem nur durch Prävention zu
begegnen ist.
Der vorliegende Entwurf des Präventionsgesetzes, der nach
Einschätzung Lauterbachs - wenn überhaupt noch - nur mit
wenigen Veränderungen verabschiedet werden wird, ist
umstritten. Zwar definiert er klare Präventionskriterien und
-ziele, die über die sporadischen Gesundheitskampagnen
hinausgehen; doch weil viele Köche beim Gesundheitsessen
mitmischen, sind die Entscheidungsinstanzen unübersichtlich
und bürokratisch. Dass die Leistungen ausschließlich von
den Versicherten finanziert werden sollen, stößt auf
allgemeine Ablehnung der Experten. Prävention, so heißt
es unisono, sei eine Gemeinschaftsaufgabe.
Die Themenforen des Kongresses schärften indessen den Blick
für ein weiteres Problem. Präventive
Gesundheitsmaßnahmen werden derzeit - das zeigen auch die
Erfahrungen der Volkshochschulen - vor allem von Angehörigen
der Mittelschicht wahrgenommen. Wie aber sollen diejenigen
einbezogen werden, die sie am dringendsten nötig haben? Wie
erreicht man so genannte bildungsferne Schichten, die aufgrund
ihrer Erwerbslosigkeit über die üblichen Zugänge
(Betrieb, Sportverein) gar nicht mehr erreichbar sind? Und wie
motiviert man Menschen, die gestresst sind und in einem gestressten
Umfeld leben, psychisch instabil sind oder Schulden haben? Dass es
einen Teufelskreis gibt zwischen Arbeitslosigkeit und Gesundheit,
dass Arbeitslosigkeit krank macht und kranke Menschen noch seltener
Arbeit finden, ist bekannt.
An dieser Erkenntnis setzt das Modellprojekt "AmigA" in der
Region Potsdam an. In der systematischen Kooperation von
Leistungsträgern und Leistungserbringern werden
gesundheitsfördernde Strategien entwickelt, die sich an
gesundheitlich eingeschränkte Erwerbslose beziehungsweise an
von Arbeitslosigkeit bedrohte Menschen wenden. Ziel ist es, deren
Gesundheitszustand und damit ihre Beschäftigungsfähigkeit
zu verbessern. Weil derlei Angebote "evidenzbasiert" arbeiten
sollen, also nachweisen müssen, dass sie tatsächlich
wirksam und wirtschaftlich sind, neigen sie dazu, sich eher an die
weniger gefährdeten Arbeitslose zu richten und die
eigentlichen Problemgruppen außen vor zu lassen. Außerdem
ist nicht auszuschließen, dass von den Jobcentern, die den
Zugang zu den Zielgruppen schaffen sollen, Druck ausgeübt
wird, an entsprechenden Maßnahmen teilzunehmen.
Dolmetscherdienste bei Migranten
Das wiederum widerspricht dem Prinzip der Freiwilligkeit:
Gesundheitsförderung lässt sich nicht erzwingen.
Andererseits, darüber lassen auch die Initiatoren solcher
Projekte keinen Zweifel, schützt auch Gesundheit nicht vor
Arbeitslosigkeit. Wenn sie nur am Ziel, möglichst viele
Menschen wieder in Lohn und Brot zu bringen, gemessen werden, sind
sie von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Voraussetzung jeder gesundheitlichen Förderung ist, dass
die Schwelle, die die Zielgruppe überwinden muss,
möglichst niedrig liegt. Dazu können etwa
Dolmetscherdienste beitragen, die Patienten mit
Migrationshintergrund unterstützen. Gerade Migranten und
Migrantinnen verfügen über wenig Gesundheitswissen,
andererseits verhalten sich die Gesundheitsdienste oft ignorant
gegenüber ihrem spezifischen kulturellen Hintergrund: Andere
Ernährungs- und Hygienegewohnheiten oder kulturelle Rituale
erschweren das Verständnis zwischen Arzt und Patienten. Das
Berliner Frauengesundheitszentrum bietet deshalb mehrsprachige
Kurse an, die sich an ältere Migrantinnen wenden.
Angeknüpft wird an die konkreten Gesundheitsprobleme der
Frauen, die dabei ihr Wissen und ihre Erfahrungen einbringen
können. Die Kurse wurden in der Modellphase gut angenommen.
Ähnlich positive Erfahrungen mit niedrigschwelligen Angeboten
macht auch das Interkulturelle Zentrum für
Gesundheitsförderung in Berlin-Kreuzberg.
Gesundheitsangebote, das zeigen alle Beispiele, müssen
bedarfsgerecht sein, gleichgültig, ob es sich um Beratung oder
ganz konkrete Maßnahmen handelt. Und, auch dies wurde im
Tagungsverlauf offensichtlich, viele erfolgversprechende Projekte
leiden darunter, dass sie in der Modellphase zwar gefördert
werden, am Ende mangels genügender Mittel nicht in die
Regelfinanzierung übernommen werden. Gesundheitsförderung
aber muss auf Dauer sicher gestellt sein, wenn sie nachhaltig
wirken soll. Auch deshalb ist das Präventionsgesetz
überfällig.
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