|
|
Claudia Heine
Deutschland hat eine Kanzlerin
Mit großer Mehrheit wurde Angela Merkel
gewählt und begann sofort mit ihren
Amtsgeschäften
Es stand zwar keine Vier am Anfang, wie es sich
die Union gewünscht hatte, aber das konnte die Freude nicht
ernsthaft trüben: 397 von den 612 anwesenden Abgeordneten des
Bundestages wählten am 22. November die CDU-Vorsitzende Angela
Merkel zur ersten Bundeskanzlerin der Republik. Von den 202
Gegenstimmen (zwölf Abgeordnete enthielten sich) kamen 51 aus
den Reihen der Koalition. Spekulationen darüber, was das
bedeuten könnte und ob sich mehr SPD- oder CDU-Parlamentarier
verweigert haben, interessierten nach Bekanntgabe des
Wahlergebnisses jedoch die Mehrheit der Abgeordneten nicht
ernsthaft.
Angela Merkel stellte mit ihrer Wahl einen
dreifachen Rekord auf: Sie ist nicht nur die erste Frau in diesem
Amt; sie ist außerdem mit 51 Jahren die jüngste deutsche
Regierungschefin und darüber hinaus die erste ostdeutsche
Politikerin, die von nun an im Kanzleramt regieren wird.
Der Weg dorthin erschien gerade nach dem
knappen Ausgang der Bundestagswahl am 18. September als steinig.
Die Union hatte zwar mit 35,2 Prozent die Wahl gewonnen, ihr
eigenes Ziel, die Bildung einer schwarz-gelben Koalition, aber
nicht erreichen können. Dafür überraschte die SPD
mit einem unerwarteteten Ergebnis von 34,2 Prozent und proklamierte
den Sieg zunächst für sich. Allen voran Gerhard
Schröder, der Merkel sogar die Regierungsfähigkeit
absprach.
Für kurze Zeit bot die Berliner Politik
ein Bild des Durcheinanders, als nach der Wahl zwei Politiker die
Kanzlerschaft für sich beanspruchten - Merkel zu Recht und
Schröder zu Unrecht. Unklar blieb zunächst auch die
Koalitionsfrage. Über eine so genannte Jamaika-Koalition aus
Union, FDP und Grünen wurde ebenso spekuliert wie über
eine Ampel-Verbindung aus SPD, Grünen und FDP. Eine Woche nach
der Wahl kristallierte sich jedoch die realistischste Variante
heraus: eine Große Koalition.
Nach den Turbulenzen des Wahlabends
bemühten sich alle Beteiligten, die Verhandlungen über
eine gemeinsame Regierungsbildung möglichst ruhig über
die Bühne gehen zu lassen. Die Aussichten dafür schienen
zunächst nicht günstig, hatten sich die beiden
großen Volksparteien CDU und SPD noch wenige Wochen zuvor
einen sehr harten Wahlkampf geliefert: Nicht mehr und nicht weniger
als der Fortbestand des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft stand
zur Disposition. Je nach Perspektive demontierte entweder die eine
oder die andere der Parteien dieses bisher bewährte, seit
Jahren aber schwächelnde, Konzept. Von diesen inhaltlichen
Kontroversen spürte man während der
Koalitionsverhandlungen jedoch wenig. Nur für einen kurzen
Zeitpunkt wackelte das friedliche Fundament - als Franz
Müntefering urplötzlich seinen Parteivorsitz niederlegte
und daraufhin Edmund Stoiber seinen Rückzug aus Berlin
verkündete. Doch die Dis-zpilin der Koalitionäre war zu
groß, als dass sie sich deshalb ernsthaft von ihrem Vorhaben
abbringen lassen wollten. Am 18. November schließlich konnte
der Vertrag unterzeichnet werden.
Von Irritationen spürte man am
vergangenen Dienstag im Plenarsaal wenig - angesichts der Harmonie
in den Reihen von SPD und CDU/CSU, jener Großen Koalition, der
Merkel nun vorsteht. Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert
(CDU) sorgte mit seiner Moderation mehrmals für Heiterkeit. So
wertete er die Wahl Merkels als "ein starkes Signal für viele
Frauen, und für manche Männer sicherlich auch". Mit der
im Protokoll vorgesehenen Frage, ob sie die Wahl annehme, musste
Lammert allerdings einige Minuten warten. Kaum hatte er das
Ergebnis bekannt gegeben, drängten sich die Gratulanten um
Merkel. Allen voran auch diesmal Gerhard Schröder, dem es, so
hatte es den Anschein, mit seinen Glück-wünschen nicht
schnell genug gehen konnte.
Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU)
nannte das Ergebnis Merkels "hervorragend". Sein Kollege Peter
Struck, Fraktionschef der SPD im Bundestag, sprach von einem
"ordentlichen Anfang". Glückwünsche kamen auch von
SPD-Chef Matthias Platzeck. Der Bürger erwarte, dass beide
Regierungspartner "nun mit vereinten Kräften" den Sozialstaat
erneuerten und weiterentwickelten, schrieb er an Merkel. Lediglich
die Opposition im Bundestag wertete die Wahl kritisch. Die
Gegenstimmen aus den Reihen der Koalition seien ein deutliches
Votum gegen die CDU-Chefin, sagte die Vorsitzende der Grünen
Claudia Roth. FDP-Chef Guido Westerwelle meinte, die verweigerte
Gefolgschaft von gleich "mehreren Dutzend" Abgeordneten zeige, "wie
wackelig das Regierungsgebäude ist". Der Fraktionsvorsitzende
der Linkspartei, Oskar Lafontaine, wertete das Ergebnis als Folge
der mangelnden Unterstützung der Union bei der Wahl von
Wolfgang Thierse zum Bundestagsvizepräsidenten.
Kritik konnte Merkel an diesem Tag jedoch
nichts anhaben, so schien es. Äußerst gelöst
präsentierte sie sich in der Öffentlichkeit - und
fügte dem Bild der stets kontrollierten und zur
Rationalität verpflichteten Politikerin ein neues hinzu. Mit
einem Lächeln auf den Lippen sagte sie nach ihrer Ernennung
durch Bundespräsident Horst Köhler im Schloss
Charlottenburg: "Mir geht es sehr gut, ich bin sehr zufrieden und
ich bin glücklich." Im Anschluss daran folgte am späten
Nachmittag die Vereidigung der Bundeskanzlerin und ihres Kabinetts
im Bundestag. Bereits am Abend traf sich das Kabinett zu seiner
ersten Sitzung, die allerdings mehr dem Kennenlernen
diente.
Am 23. November trat Angela Merkel ihre erste
Auslandsreise als Bundeskanzlerin an. Zunächst traf sie am
vergangenen Mittwoch in Paris mit Frankreichs Staatspräsident
Jacques Chirac zusammen. In äußerst herzlicher
Atmosphäre begrüßte er Merkel, die mit ihrem
Paris-Besuch auch eines unterstrichen hat: dass sie keineswegs im
Sinn hat, die enge deutsch-französische Freundschaft und die
engen politischen Beziehungen beider Länder in Frage zu
stellen. Das wurde in Teilen der französischen
Öffentlichkeit befürchtet, nachdem Merkel sich zuvor
distanziert über die von ihrem Vorgänger Schröder
forcierte deutsch-französische Achse geäußert hatte.
Über eine solche sprach sie auch während ihres
Paris-Besuches nicht. Vielmehr bezeichnete sie die
deutsch-französische Partnerschaft vor dem Hintergrund der
Kriege der Vergangenheit als "Wunder". Die Beziehungen müssten
gepflegt und weiter entwickelt werden, sagte sie. Die von
Schröder eingeführte Tradition regelmäßiger
Zusammenkünfte im Abstand von sechs bis acht Wochen soll nach
Angaben der Kanzlerin aber auch in Zukunft fortgeführt
werden.
Am selben Tag reiste Merkel weiter nach
Brüssel, um dort EU-Kommissionspräsident José Manuel
Barroso und NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer zu
treffen. Die Bundeskanzlerin betonte nach ihrem Gespräch mit
de Hoop Scheffer, sich für eine Verbesserung der Beziehungen
zwischen Deutschland und den USA einsetzen zu wollen. "Ich bin der
Überzeugung, dass sie weiterentwickelt werden können",
sagte Merkel. Die NATO müsse wieder stärker ein
Bündnis werden, in dem die wichtigen politischen Fragen
besprochen werden.
Zwar erteilte Merkel mit dieser Aussage
diplomatischen Alleingängen, wie sie Schröder mit den
Dreiergipfeln zwischen ihm, Chirac und dem russischen
Präsidenten Putin etabliert hatte, indirekt eine Absage. Das
hielt sie jedoch nicht davon ab, bereits einen Tag später, am
24. November, die besonderen Beziehungen zu Großbritannien zu
betonen. Dort hatte sie ihre dritte Auslandsstation nach ihrem
Amtsantritt absolviert. Nach einem Gespräch mit dem britischen
Premier Tony Blair sagte sie, die Beziehungen beider Länder
künftig wieder vertiefen zu wollen. Ebenso erklärte sie,
"alles tun" zu wollen, um im Streit um den EU-Finanzplan für
die Jahre 2007 bis 2013 zu einer Lösung zu kommen, "damit
Europa wieder handlungsfähig wird". Die ersten Auslandsbesuche
der Bundeskanzlerin betonten also beides, Kontinuität und
eigene Akzente.
Zurück zur Übersicht
|