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Julia Elvers
Die Bedenken sind der Normalität
gewichen
Die zehn Beitrittsländer ein Jahr nach dem
Beitritt zur Europäischen Union
Vieles neu machte der Mai 2004. Die
Europäische Union veränderte ihr Gesicht: Mit zehn neuen
Beitrittsländern fand die größte Erweiterung der
Europäischen Gemeinschaft statt. Seitdem umfasst die
Europäische Union 25 Mitglieder. In vielen Staaten wurde der
Beitritt von Hoffnungen begleitet - aber auch von Ängsten.
"Das Parlament" berichtet in den kommenden Wochen, welche Bilanz
die Menschen nach einem Jahr ziehen. Ein Ortstermin in der
Tschechischen Republik.
Richtig gesprächig ist auf Anhieb
niemand im nordböhmischen Ústí, wenn man ihn nach
Fort- oder Rückschritten seit dem Beitritt der Tschechischen
Republik zur Europäischen Union fragt. Auch
Oberbürgermeister Petr Gandalovic sieht den Beitritt nicht als
die große Wende an: "Man kann nicht sagen, dass wir am 1. Mai
2004 neu geboren wurden. Viele Veränderungen haben schon lange
vor dem Beitritt begonnen, andere werden wir noch durchlaufen." Der
40-jährige ist seit November 2002 Oberbürgermeister des
Kreises Ustí und konnte den Wandel der Stadt von seinem
Büro in der zentral gelegenen Stadtbehörde aus gut
beobachten: Ústí nad Labem, einst Aussig an der Elbe,
entwickelte sich im 19. Jahrhundert durch Braunkohle- und
Chemieindustrie zum Industrie- und Handelszentrum Nordböhmens.
Die heutigen Probleme der 95.000 Einwohner zählenden Stadt
rühren aus der Vergangenheit. "Durch die Schließung der
Braunkohlegruben und den Umbau der Schwerindustrie haben wir hier
in Ústí viele Arbeitsplätze verloren," sagt Petr
Gandalovic. Die Arbeitslosenquote liegt bei 13 Prozent - vier
Prozent über dem Landesdurchschnitt. Die Region bemüht
sich daher um Investoren, die neue Arbeitsplätze schaffen.
Einige ausländische Branchen, die wegen der niedrigen
Lohnkosten nach Tschechien gekommen waren, sind inzwischen schon
weiter nach Osten gezogen - dort ist es noch billiger. Der
EU-Beitritt hat auf administrativer Ebene viele Dinge vereinfacht
und wirtschaftlich einiges in Gang gebracht. Auch Gandalovic gibt
zu: "Es stimmt, dass viele Investoren gerade im Zusammenhang mit
dem Beitritt in unsere Region gekommen sind und Arbeitsplätze
geschaffen haben." Neben den Investoren bringen verschiedene
EU-Projekte Bewegung in die Region. Zum Beispiel das transnationale
Projekt ENLARGE-NET zwischen der Tschechischen Republik,
Deutschland und Polen. "Es soll die drei Länder vernetzen,
damit sich die Nachbarn besser kennenlernen", erläutert
Oberbürgermeister Gandalovic. ENLARGE-NET fördert
Seminare, den Austausch von Angestellten durch Praktika sowie die
wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Europa bekommt langsam ein Gesicht
Die Europäische Zusammenarbeit bekommt
in der Innenstadt von Usti ein Gesicht: An Baustellen hängen
Schilder mit der Europäischen Flagge und dem Hinweis: ?Dieses
Projekt entsteht mit finanzieller Hilfe der Europäischen
Union.' Im Kreis Ústí bemühen sich mittlerweile
viele Gemeinden, Städte oder Unternehmen um Fördermittel
aus Brüssel. Anlaufstelle für sie ist die "Agentur
für Regionalentwicklung der Euroregion Elbe," kurz ARREL. Petr
Bene¨ leitet das Büro in Ústí und informiert
über die Möglichkeiten, Fördermittel zu beantragen.
Antragsteller sind auf seine Hilfe angewiesen, denn es ist nicht
einfach, die Formulare der Europäischen Union
auszufüllen. "Man braucht viel Energie, um das Projekt so
aufzuschreiben, dass es auch Chancen hat, sich durchzusetzen. Aber
wir haben durch die vorhergehenden Projekte eine gewisse
Erfahrung", sagt Petr Bene¨. Kooperationspartner von ARREL ist
das Regionalbüro von CzechInvest, der Agentur für
Wirtschafts- und Investitionsförderung des tschechischen
Industrie- und Handelsministeriums. Auch sie verzeichnet immer mehr
Antragsteller. Ústís Projektmanager Jan Hanu¨
berichtet, dass das Büro in den letzten 14 Tagen rund 50
Anträge erhalten hat. "Dabei sind die Mittel in dieser
Programmperiode noch gar nicht so bedeutend. Ab der nächsten,
ab 2007 werden sie viel höher sein", hofft Hanu¨. Ihm
mißfällt, wie die EU ihre Förderregionen
auswählt: "Einige Programme, die sehr reichlich mit
Fördermitteln aus dem Strukturfond ausgestattet sind, haben
weniger Interessenten als andere, in denen es viele Bewerber und
wenig Geld gibt", sagt er.
Ein Jahr nach dem EU-Beitritt haben sich in
der Tschechischen Republik viele Wogen geglättet:
Horrorszenarien über einen Anstieg der Inflation und den
Rückgang des Lebensstandards haben sich nicht erfüllt.
Auch in punkto Europamüdigkeit nähern sich viele
Tschechen dem europäischen Durchschnitt an: Lag die
Beteiligung beim Referendum über einen EU-Beitritt im Juni
2003 noch bei 55 Prozent - 77 Prozent der Wähler stimmten
damals für den Beitritt - gingen bei der Europawahl 2004 nur
noch 28 Prozent der Wahlberechtigten an die Urnen. Klare Wahlsieger
waren die europaskeptischen Parteien. Der Vorwurf an die Politiker:
Ihr klärt uns nicht darüber auf, was in Brüssel
passiert und was unsere 24 Abgeordneten dort eigentlich für
uns erreichen können. Die niedrige Wahlbeteiligung und das
schlechte Ergebnis für die Regierungsparteien waren ein Schlag
für alle, die sich für die Aufnahme der Tschechischen
Republik in die EU stark gemacht hatten. Der Rücktritt des
damaligen Premierminsters Vladimír ¦pidla war die Folge.
Er ist heute EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und
Chancengleichheit.
Jugend offener für Europa
Offen gegenüber Europa sind vor allem
die jungen Leute, Studentinnen wie Jana Vanová. Sie freut
sich, dass sie jetzt von Austauschprogrammen wie "Erasmus"
profitieren kann. Die 22-jährige Germanistikstudentin findet,
dass Brüssel heute im Land präsenter ist als noch vor
einem Jahr. Dennoch gäbe es gerade im Kleinen noch Probleme.
Ein Beispiel: die Internetseiten der EU. "Es gibt zwar tschechische
Seiten, aber wenn man etwas ganz konkret über die Gesetzgebung
wissen will, findet man meist nur englische Seiten. Das ist ein
großer Fehler."
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