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Johannes Hürter
Mit Krieg und Massenmord zu einem neuen
Europa
Nationalsozialistische Expansion und Zweiter
Weltkrieg
Wer sich mit dem Zweiten Weltkrieg und seiner
Vorgeschichte beschäftigt, kann mit gutem Grund bei Adolf
Hitler beginnen. Denn trotz aller neuen Erkenntnisse über die
komplexen Entscheidungen und polykratischen Strukturen des
NS-Regimes ist der "Faktor Hitler" nach wie vor aus der Entwicklung
zu Krieg und Massenverbrechen nicht wegzudenken.
So zerbrechlich das internationale System und
so virulent das Revisionsstreben des großen Verlierers von
1918, des Deutschen Reichs, seit Anfang der 1930er-Jahre auch schon
ohne Zutun des Diktators waren und weiterhin gewesen wären: Es
ist höchst unwahrscheinlich, dass ein autoritärer Staat
nationalkonservativer Couleur, der 1932/33 eine realistische
Alternative zur NS-Diktatur darstellte, mit auch nur annähernd
vergleichbarer Brutalität, Zielstrebigkeit und Geschwindigkeit
auf einen großen Krieg zugesteuert wäre wie das "Dritte
Reich" unter Führung Hitlers. Der ehemalige Gefreite des
Ersten Weltkriegs und vorerst gescheiterte Revoluzzer der
völkischen Bewegung entwarf bereits 1924 in "Mein Kampf" ein
politisches Programm, das nur durch Expansion, Krieg, Terror, Mord
und Vertreibung verwirklicht werden konnte. Seither hatte der
Warnruf der Linken und Demokraten am Ende der Weimarer Republik
seine tiefe Berechtigung: "Hitler bedeutet Krieg!"
Was war das Ziel seines Programms? Hitler zog
eine radikale Konsequenz aus der deutschen Niederlage im Ersten
Weltkrieg und träumte von einem wirtschaftlich autarken und
militärisch unbesiegbaren "Großgermanischen Reich", das
den europäischen Kontinent beherrschen und der deutschen
"Herrenrasse" einen "Lebensraum" von Flandern bis zum Ural,
eventuell ergänzt durch Kolonien in Afrika, bieten würde.
Die Völker Osteuropas sollten nach der Eroberung des neuen
Wirtschafts- und Siedlungsraums im Osten dezimiert und zu
Arbeitssklaven degradiert, die Juden möglichst ganz aus dem
deutschen Herrschaftsgebiet beseitigt werden. In einem solchen
Europa war den Nationen außerhalb der neuen Reichsgrenzen nur
eine untergeordnete Rolle zugedacht, die jeweils nach dem "Wert"
ihrer "Rasse" hierarchisch abgestuft war. Das "germanische"
Großbritannien wurde immerhin noch als potentieller
Juniorpartner anerkannt, der die neue Hegemonialmacht im Kampf um
die globale Vorherrschaft unterstützen durfte. Diese
größenwahnsinnige Geopolitik sah sich durch die
verbreitete sozialdarwinistische Auffassung legitimiert, dass
allein der Stärkere im Existenzkampf um das Lebensrecht von
Menschen und Völkern bestehen könne. Weitere Zutaten
waren ein übersteigerter Antisemitismus und Antikommunismus,
die sich außenpolitisch um so mehr gegen die
"jüdisch-bolschewistische" Sowjet-union richten mussten, als
diese Macht der geplanten Expansion nach Osten im Weg
stand.
Nach der "Machtergreifung" vom 30. Januar
1933 sprach Hitler seine geostrategischen Ziele aus taktischen
Gründen in der Öffentlichkeit nicht mehr so deutlich an.
Dennoch verfolgte er sie konsequent weiter. Das "deutsche
Raumproblem" sollte in drei Stufen gelöst werden: erst die
Errichtung einer kontinentalen Vorherrschaft, dann die Eroberung
von "Lebensraum im Osten", schließlich der Griff nach der
Weltmacht. Diese Vorstellungen waren allerdings mehr ein grober
Wegweiser als ein fest umrissenes und zeitlich festgelegtes
Programm. Der Diktator reagierte recht flexibel und bei Bedarf auch
undogmatisch auf bestimmte internationale Konstellationen und
Gelegenheiten. Zunächst strebte er danach, das Reich nach
außen wieder voll handlungsfähig und kriegsbereit zu
machen. Die schnelle Wiedererlangung der staatlichen und
militärischen Gleichberechtigung sowie die fieberhafte
Aufrüstung fanden die Unterstützung der
nationalkonservativen Eliten, die Zustimmung fast aller Deutschen
und das Verständnis vieler Ausländer. Dass Hitler viel
weiter gehen wollte als bis zur Revision des Versailler Friedens
oder zur Restitution der deutschen Großmacht von 1914
ließ er nach den ersten Erfolgen intern immer deutlicher
durchblicken. So erinnerte er etwa die Wehrmachtsführung und
Generalität zwischen 1937 und 1939 mehrfach an die
Vorbereitung eines "Weltanschauungs- und Rassekriegs" zur
notwendigen "Erweiterung des Lebensraumes im Osten", die er den
Befehlshabern der Reichswehr bereits am 3. Februar 1933 als sein
außenpolitisches Ziel genannt hatte. Die Drohung in der
Reichstagssitzung vom 30. Januar 1939, dass ein neuer Weltkrieg mit
der "Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa" enden werde,
zeigte zusätzlich, welch dunkle Wolken sich über dem
europäischen Kontinent und seinen Bewohnern
zusammenzogen.
Dass der charismatische "Führer" alles
andere als ein schwacher Diktator war, zeigte sich nirgends
deutlicher als in der hochgradig aggressiven und annexionistischen
Außenpolitik des NS-Regimes. Hitler persönlich war der
Motor eines Expansionskurses, der zunächst zu einer Reihe von
triumphalen Eroberungen führte, ohne dass die Schwelle des
"heißen" Krieges übertreten werden musste. Die Wehrmacht
konnte im März 1938 in Österreich, im Oktober 1938 in das
Sudetenland sowie im März 1939 in die "Rest-Tschechei" und das
Memelgebiet einmarschieren. Damit war freilich der Annexionshunger
des "Großdeutschen Reiches", wie der NS-Staat jetzt offiziell
hieß, längst nicht gestillt. Das mussten nun auch die
Verständigungspolitiker der Westmächte einsehen, die sich
zu lange auf faule Kompromisse eingelassen hatten. Die
nationalsozialistische Außen- und Rüstungspolitik
führte unweigerlich in den Krieg, auf den Hitler seit dem
Frühjahr 1939 trotz der Bedenken seiner Berater, trotz des
unfertigen Rüstungsstands der Wehrmacht und trotz der
mangelnden Kriegsbegeisterung in der Bevölkerung immer
zielstrebiger zusteuerte. Allerdings wollte er den seiner
Überzeugung nach unausweichlichen Konflikt mit Polen und
Frankreich zunächst isolieren, um sich seine Beute wie bisher
nach und nach, Stück für Stück zu nehmen. Im Osten
gelang ihm dies durch den überraschenden Coup des
Hitler-Stalin-Pakts, der von beiden Seiten als ein
vorübergehendes Zweckbündnis angesehen wurde. Im Westen
dagegen trog die Hoffnung auf eine britische Neutralität. Dass
Hitlers Vabanquespiel dennoch nicht schon jetzt zu einer
militärischen Katastrophe, sondern bis Mitte 1940 zur
Niederwerfung Polens, Dänemarks, Norwegens, der
Benelux-Staaten und vor allem Frankreichs, also zur deutschen
Vorherrschaft über weite Teile Europas führte,
übertraf die kühnsten revisionistischen und
revanchistischen Träume, die in Deutschland beileibe nicht nur
von radikalen Kräften gehegt wurden. Die deutsche
Expansionspolitik, die 1918 gestoppt worden war, stieß wieder
in ungeahnte Dimensionen vor. Jetzt schien auch den alten Eliten
vieles möglich und erstrebenswert, was vorher eher als
Hirngespinst eines Hasardeurs galt.
Gewaltiges Bestechungssystem
Hinter dem "Faktor Hitler" dürfen die
Komplizenschaft von Wehrmacht, Bürokratie, Justiz, Polizei und
Wirtschaft, die Ergebenheit der Partei und die Zustimmung der
meisten Deutschen nicht übersehen werden. Schon vor 1939 gab
es kein Anzeichen dafür, dass irgendeine maßgebliche
Institution oder Gruppe in Deutschland den Zielen Hitlers
entgegenarbeitete. Die militärischen Erfolge von 1939/40,
besonders der überwältigende Sieg gegen den "Erzfeind"
Frankreich, umgaben den Diktator mit der Gloriole des
"größten Feldherrn aller Zeiten", dem offenbar alles
gelang. Doch nicht allein die Unterwerfung des halben Kontinents
zerstreute die Bedenken, berauschte den Verstand und korrumpierte
die Moral. Der NS-Staat stützte sich auch auf ein gewaltiges
Bestechungssystem. Die Eliten in Militär und Bürokratie
wurden durch Beförderungen, Ehrungen und materielle
Zuwendungen, die so genannten Dotationen, gekauft. Die Wirtschaft
profitierte erst von der Aufrüstung, dann von den
Raubzügen und Sklavenjagden in ganz Europa. Und die
"Volksgemeinschaft" wurde durch steuerliche und soziale
Vergünstigungen für die Durchschnittsverdiener sowie eine
selbst im Krieg relativ gute Versorgung auf Kosten der besetzten
Gebiete zusammen gehalten und ruhig gestellt. Um so bereitwilliger
folgten die Deutschen ihrem "Führer" in die immer radikaleren
Friedens-, Rechts- und Zivilisationsbrüche. Alle
nachträglichen Versuche, die Verantwortung für die
ungeheuerliche Gewaltpolitik des NS-Regimes auf Hitler und seine
Schergen oder zumindest doch auf "die" Nazis abzuwälzen,
können nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese
Politik nur möglich war, weil so viele sie unterstützten
und so verschwindend wenige sich ihr widersetzten. Der
nationalsozialistische Terror gegen die eigene Bevölkerung war
nur eine und bei weitem nicht die wichtigste Grundlage einer
inneren Stabilität und Integration, die erst in den letzten
Kriegsmonaten bröckelte.
Nach dem Triumph des Westfeldzugs wurde die
"Neuordnung Europas" auch offiziell als deutsches Kriegsziel
formuliert. Hitler und seine Anhänger verstanden unter diesem
Begriff die Verwirklichung ihrer hybriden Lebensraumpläne, die
Wirtschaft versprach sich eine dominierende Stellung auf dem
Weltmarkt durch die hemmungslose Ausbeutung der europäischen
Ressourcen, und selbst die konservativen Kräfte hatten gegen
eine Hegemonie in Europa und eine koloniale Ausbeutung des Ostens
nichts einzuwenden. Zugleich wurde unter Federführung der SS
mit der Ausarbeitung einer Gesamtkonzeption zur Germanisierung von
Teilen der besetzten und noch zu erobernden Ostgebiete begonnen,
dem berüchtigten "Generalplan Ost", der die Umsiedlung,
Versklavung und Vernichtung von Millionen Menschen vorsah. Die
Blicke nach Osten wurden nun immer begehrlicher, der Frieden mit
der Sowjetunion immer brüchiger. So paradox es klingen mag:
Der hartnäckige Widerstand Englands in der zweiten
Jahreshälfte 1940 förderte Hitlers Entschluss, sein
eigentliches politisch-ideologisches Ziel, das er aus taktischen
Rücksichten vorübergehend zurückgestellt hatte,
schon jetzt wiederaufzunehmen und seinen eigentlichen Krieg zu
beginnen, obwohl das "germanische Brudervolk" auf der britischen
Insel noch nicht "zur Vernunft gebracht" war. Denn neben das
zentrale Dogma der Vernichtung des "jüdischen Bolschewismus"
und der Eroberung neuen Lebensraums trat jetzt als gewichtiges
Argument das Kalkül, durch die Ausschaltung von Englands
potentiellem "Festlanddegen" und den Gewinn einer neuen
ökonomischen Basis die kontinentale Hegemonie zu sichern, um
dann gestärkt den "Endkampf" gegen die letzten
Großmächte aufnehmen zu können: Großbritannien
und die USA. Doch auch bei dieser Entscheidung waren wohl letztlich
die kruden ideologischen Vorstellungen Hitlers bestimmender als
strategische und wirtschaftliche Motive.
Schon im Juli 1940 befahl der Diktator, den
Angriff auf die Sowjetunion vorzubereiten, was zunächst eher
zögernd, dann ab Dezember 1940 mit allen Kräften geschah.
Der deutsch-sowjetische Krieg, der am 22. Juni 1941 mit dem
überraschenden Überfall der Wehrmacht begann, ragt in
seiner militärischen Bedeutung und einzigartigen
Brutalität unter allen Teilkonflikten des Zweiten Weltkriegs
heraus. Entsprechend den Intentionen Hitlers, wurde der Feldzug
gegen den Staat Stalins von Anfang an nicht als gewöhnliche
militärische Kampagne, sondern als rassenideologischer
Vernichtungskrieg und kolonialer Raubzug vorbereitet und
geführt. Den Entschluss zu diesem größenwahnsinnigen
"Unternehmen Barbarossa" hatte Hitler gefasst, doch auch hier gilt:
Ohne die willige Mitarbeit und häufig auch die
eigenständige, radikalisierende Initiative der Wehrmacht, des
SS- und Polizeiapparats, der Verwaltung und der Wirtschaft
wäre seine Durchführung nicht möglich gewesen. Und
nicht allein Hitler trägt die Verantwortung für die
kriminelle Leichtfertigkeit, mit der sich die deutsche Seite auf
diesem Kriegsschauplatz so katastrophal und folgenreich
verspekulierte, dass die Nachwirkungen Europa noch viele Jahrzehnte
in Mitleidenschaft zogen und noch heute zu spüren sind. Denn
anders als der Westfeldzug, dessen schneller Verlauf selbst die
militärischen Planer überraschte, war der Feldzug gegen
die Sowjetunion als "Blitzkrieg" von wenigen Wochen angelegt,
entwickelte sich aber bald zum langwierigen Totalen Krieg und
mündete schließlich in eine totale Niederlage - eine
beinahe logische Konsequenz aus dem Zusammenprall zweier
totalitärer Unrechtsstaaten.
Bereits die deutsche Kriegführung und
Besatzungspolitik in Polen war mit Kriegsverbrechen und
rassistischen Morden verbunden gewesen - anders als in Nord- und
Westeuropa, wo das deutsche Vorgehen zunächst weitgehend im
herkömmlichen Rahmen blieb. Doch erst auf dem sowjetischen
Kriegsschauplatz wurden das Kriegsverbrechen zum Alltag und der
Massenmord zum Genozid. Die Wehrmacht und ihre Helfer exekutierten
die Kommissare der Roten Armee, verantworteten das Massensterben
der sowjetischen Kriegsgefangenen, saugten die besetzten Gebiete
aus und terrorisierten die völlig entrechtete
Zivilbevölkerung, die millionenfach dem Hunger preisgegeben,
zur Zwangsarbeit versklavt oder im Partisanenkrieg getötet
wurde. Im Rücken der Front, aber mit Unterstützung der
Wehrmacht, ermordeten die Sicherheitspolizei und andere SS- und
Polizeiformationen im ersten halben Jahr des Ostkriegs über
eine halbe Million Sowjetbürger jüdischer Herkunft und
eröffneten damit den systematischen Völkermord an den
europäischen Juden. Dieses singuläre Mordprogramm kostete
schließlich mindestens 5,6 Millionen Juden aus allen deutsch
besetzten oder dominierten Staaten Europas das Leben. Die
erhebliche Radikalisierung der nationalsozialistischen Expansions-
und Rassenpolitik durch den Einfall in die Sowjetunion griff auf
den ganzen deutschen Machtbereich über. Überall wurden
nun die Menschen zur Zwangsarbeit gepresst und die materiellen
Ressourcen geplündert, wenn auch in Ost- und Südosteuropa
weiterhin und insgesamt rück-sichtsloser als in Nord- und
Westeuropa. So sollte das "neue Europa" unter dem Hakenkreuz sein:
ein einziges Ausbeutungsobjekt für die Kriegsmaschinerie und
den Wohlstand des Großdeutschen, später des
"Großgermanischen" Reichs, ein Kontinent, auf dem es nur noch
Herren, Vasallen und Heloten gab, frei von "unnützen Essern",
"unwertem Leben" und vor allem von Juden.
Die europäischen Nationen wurden nicht
gefragt, ob sie in einem solchen Europa leben und sich einer
solchen Rassenhierarchie einfügen wollten. Allerdings setzte
das NS-Regime in seiner pervertierten Europapolitik nicht allein
auf Terror, Mord und Unterdrückung, sondern daneben auf die
werbende Kraft einer pseudo-abendländischen und
pseudo-paneuropäischen Propaganda. Der Kampf gegen den
"jüdisch-asiatischen" Bolschewismus wurde als "Kreuzzug" und
lebensnotwendiges Anliegen ganz Europas stilisiert - nicht ohne
Erfolg. Zehntausende Freiwillige aus allen Ländern und
Regionen beteiligten sich auf deutscher Seite am Krieg gegen die
Sowjetunion. Außerdem engagierten sich die verbündeten
Staaten Finnland, Rumänien, die Slowakei, Ungarn und Italien
keineswegs nur auf Druck der deutschen Vormacht im Ostkrieg,
sondern auch aus Raubgier, Antikommunismus und Prestigedenken. Das
erleichterte es den deutschen Aggressoren, den Eroberungsfeldzug
gegen die Sowjet-union als europäischen Präventivkrieg
darzustellen. Zugleich versäumten sie es jedoch, auch die
"Ostvölker" durch positive Signale für die "Neuordnung
Europas" unter deutscher Führung zu gewinnen. Erst viel zu
spät wurden ukrainische, weißrussische und russische
Antikommunisten als Bundesgenossen akzeptiert. Dass die
nationalsozialistische Rassenlehre in den slawischen Ethnien vor
allem ein Reservoir für Arbeitssklaven sah, behinderte die
deutsche Propaganda für das "neue Europa".
60 Millionen Tote
Schließlich beendeten die harten
Realitäten Hitlers Traum vom "Lebensraum im Osten", für
den so viele Deutsche ihr Gewissen und schließlich ihr Leben
hingaben. Parallel zur Inangriffnahme des verbrecherischen Raub-,
Umsiedlungs- und Mordprogramms in Osteuropa kam es zur
Globalisierung des Krieges durch den Eintritt Japans und der USA im
Dezember 1941. Mit dieser Entwicklung und den Niederlagen der
Wehrmacht gegen die Rote Armee bestanden kaum mehr Aussichten auf
einen Erfolg Nazi-Deutschlands und seiner Partner, die vor den weit
überlegenen Kräften der Westalliierten und der
Sowjetunion Schritt für Schritt zurückweichen mussten.
Dabei eskalierte auch auf den übrigen Kriegsschauplätzen
immer mehr die Gewalt, ohne allerdings die Ausmaße der
Geschehnisse an der Ostfront zu erreichen. Von den 60 Millionen
Toten, die der Zweite Weltkrieg durch Kampf, Kriegseinwirkung,
Völkermord, Flucht und Vertreibung forderte, kam der weitaus
größte Teil in der zweiten Kriegshälfte um. Es ist
bezeichnend für die kriminelle Energie des "Dritten Reichs",
dass die Deutschen ihre verbrecherische Kriegs- und
Besatzungspolitik desto ungehemmter vorantrieben, je mehr sie in
die Defensive gedrängt wurden. Schließlich ging es nicht
mehr um eine neue europäische Raumordnung mit Deutschland und
seinen "Herrenmenschen" als Mittelpunkt, sondern nur noch um die
möglichst spektakuläre Inszenierung des eigenen
Untergangs, in den möglichst viele "Feinde" mitgerissen werden
sollten. Während die Alliierten bereits die Nachkriegsordnung
verhandelten und die Welt in Einflussräume aufteilten,
arbeitete die deutsche Gesellschaft im Inferno des Bombenkriegs und
kämpfte die Wehrmacht nahezu bis zur letzten Patrone nicht nur
für eine verbrecherische, sondern für eine längst
verlorene Sache. Der NS-Staat musste wie ein tollwütiges Tier
quälend lange und vollständig vernichtet werden, ehe dem
geschundenen Kontinent am 8./9. Mai 1945 endlich die Stunde der
Befreiung schlug - wenn auch nicht überall von der Diktatur,
so doch wenigstens überall vom Krieg und
Völkermord.
Am Ende waren die Deutschen und ihr Reich
durch das verbrecherische Streben nach einem europäischen
Großraum unter "germanischer" Vorherrschaft, das sie
unterstützt und mitgetragen hatten, vollständig
diskreditiert. Die deutsche Katastrophe war nicht nur eine
politische, sie war insbesondere auch eine moralische Katastrophe.
Die deutsche Bevölkerung war nun das schwarze Schaf der
Völkergemeinschaft, eine Nation von Tätern. Mit dieser -
individuell natürlich sehr unterschiedlichen - Bürde und
seinen Nachwirkungen müssen die Politik und Gesellschaft
unseres Landes bis heute leben. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist es
nahezu ausgeschlossen, dass Deutschland jemals wieder eine
alleinige Führungsrolle in Europa zufallen oder gar
zugestanden wird. Als einzige erstrebenswerte Alternative gilt
seither eine demokratische und multilaterale Einigung Europas ohne
Dominanz eines einzelnen Staates. Dies ist eine der wichtigsten
Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg, die sich nach 1945 allerdings mit
dem Hegemonieanspruch einer anderen totalitären Macht
konfrontiert sah: der Sowjetunion. Der nationalsozialistische
Rassen- und Eroberungswahn hatte der sowjetischen Expansion die
Tür nach Mitteleuropa geöffnet. Nachdem jetzt endlich
auch das stalinistische und poststalinistische Modell der Hegemonie
einer Diktatur über Europa ad acta gelegt ist, scheint der Weg
frei zu sein für eine gesamteuropäische Einigung
gleichberechtigter Staaten und Völker.
Dr. Johannes Hürter arbeitet am Institut für
Zeitgeschichte München-Berlin.
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