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Andreas Eckert
Eine längst überfällige
Befreiung
1945 und das Ende der Kolonialreiche
"Dekolonisation", befand kürzlich der
amerikanische Historiker Raymond F. Betts, sei ein unbeholfener,
uneleganter Begriff und daher recht passend zu der Thematik, die er
bezeichnen soll. Denn die Dekolonisation, welche die Weltgeschichte
in den Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg prägte, war weniger
ein geradliniger Prozess als ein komplexes, unübersichtliches
Gemisch aus diversen Aktivitäten und Ereignissen, aus
friedlichen Übergängen und von Gewalt geprägten
Befreiungskämpfen, aus lokalen Konstellationen und
internationaler Politik. Am Ende stand der Zerfall der großen
Kolonialreiche, politisch gleichsam abgeschlossen durch die
Übergabe der britischen Kronkolonie Hongkong an die
Volksrepublik China vor knapp acht Jahren.
Die formale Unabhängigkeit der
ehemaligen Kolonien in Afrika, Asien und der Karibik erfüllte
aber keineswegs die Hoffnungen, welche die Bevölkerungen
dieser Erdteile damit verbanden. Das "Reich der Freiheit", das die
nationalistischen Politiker beschworen hatten, erwies sich für
die Mehrzahl der Menschen in den neuen Staaten als Fortsetzung von
Armut, Abhängigkeit und Bevormundung. Daran hat sich bis heute
nur wenig geändert. Vertreter "postkolonialer" Ansätze in
den Kultur- und Sozialwissenschaften sprechen davon, dass eine
Vielzahl von Beziehungsmustern und Effekten kolonialer Herrschaft
bis heute nachwirkt. Sie sehen die gegenwärtige Welt nach wie
vor geprägt von neokolonialen Herrschaftsverhältnissen
und kulturellen Beziehungen, die die alten Ungleichheiten
reproduzieren und verfestigen.
Uneinigkeit besteht nicht nur darüber,
wie die Spätfolgen der europäischen Fremdherrschaft
für die ehemals kolonisierten Gebiete zu bewerten sind. Rege
und kontroverse Debatten werden auch bezüglich der Ursachen
und Umstände der Dekolonisation geführt. War es die Wucht
nationalistischer Bewegungen, die die Europäer zum
Rückzug bewegt hat? Oder war es die planvolle Einsicht der
europäischen Mächte in die Notwendigkeit, ihre
überseeischen Besitzungen in die Unabhängigkeit zu
entlassen? Welche Rolle spielte in diesem Zusammenhang die
Herausbildung einer bipolaren Welt nach dem Zweiten
Weltkrieg?
Erstaunlich ist in jedem Fall, wie zügig
der Prozess der Dekolonisation verlief. Innerhalb von zwei
Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs war das
französische Kolonialreich in Afrika und Asien nahezu komplett
verschwunden. Das Ende des britischen Empire verlief zwar
zögerlicher, war aber zwei Dekaden nach der 1947 erfolgten
Unabhängigkeit und Teilung Indiens ebenfalls mehr oder weniger
abgeschlossen. 1945 existierten etwa auf dem afrikanischen
Kontinent lediglich drei unabhängige Staaten: Liberia,
Äthiopien und Ägypten. Nur 15 Jahre später war die
Zahl bereits auf 27 gewachsen. Im Jahr 1960 erlangten 17
afrikanische Kolonien die Unabhängigkeit, vornehmlich im
Norden, West und Osten des Kontinents. Kurz darauf schwappte die
Dekolonisationswelle auch durch Ostafrika. Und Mitte der 70er-Jahre
begannen die "weißen" Siedlerregimes des südlichen Afrika
zu wanken, eine Entwicklung, die mit den ersten freien Wahlen in
Südafrika 1994 ihren Abschluss fand.
Die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende
Dekolonisation muss eigentlich, darauf hat zuerst der Freiburger
Historiker Wolfgang Reinhard hingewiesen, als dritte Welle des
Abbaus von Kolonialherrschaft bezeichnet werden. Die erste
Dekolonisation wäre demnach die nationale Emanzipation der
meisten europäischen Besitzungen in Nord- und Südamerika
zwischen 1776 und 1825. Bei der zweiten Dekolonisation handelte es
sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende langsame
Transformation der "Siedlungskolonien neuenglischen Typs" (Kanada,
Australien und Neuseeland) in faktisch sich selbst regierende
Staaten innerhalb des britischen Empires.
Über den genauen Beginn der dritten
Dekolonisation scheiden sich die Geister. Mit dem Ersten Weltkrieg
ging in vieler Hinsicht das "Zeitalter des Imperialismus" zu Ende,
ein Ende der europäischen Kolonialreiche schien damals aber
weiter entfernt denn je. Der amerikanische Präsident Woodrow
Wilson betonte auf der Versailler Friedenskonferenz zwar das
Selbstbestimmungsrecht der Völker, doch nirgendwo resultierte
daraus unmittelbar die Unabhängigkeit von Kolonien. Der
Völkerbund drückte den Paternalismus der
Großmächte eindrucksvoll aus. In Artikel 22 seiner
Satzung war von der heiligen Verpflichtung der zivilisierten
Völker die Rede, welche die Verantwortung für die
Völker Außereuropas übernehmen sollten, "die unter
den anstrengenden Bedingungen der modernen Welt zur
Selbständigkeit noch nicht fähig sind".
In den 20er-Jahren erreichte die koloniale
Welt "das universalhistorische Maximum ihrer Ausdehnung"
(Jürgen Osterhammel). Für die meisten Zeitgenossen in
Europa erschien zu diesem Zeitpunkt ein Ende des kolonialen Systems
unvorstellbar. Dieser Eindruck wurde nicht zuletzt durch die
Tatsache bestärkt, dass überall in den Kolonien
Prachtbauten und Stadtanlagen erschienen, die offenkundig für
die Ewigkeit angelegt waren. Die koloniale Exportwirtschaft erfuhr
einen beständigen Ausbau. Die Große Depression der
30er-Jahre unterbrach diesen Boom und führte etwa in Karibik
und in einigen Regionen Afrikas verstärkt zu Streiks und
Aufständen. Besonders in Asien formierten sich
schlagkräftige antikoloniale Gruppierungen. In Indien, dem
Zentrum des britischen Empire, entfaltete sich in der
Zwischenkriegszeit eine machtvolle Nationalbewegung, welche die
koloniale Fremdherrschaft immer nachhaltiger in Frage stellte. Der
japanische Imperialismus in Fernost forcierte ebenfalls die
Schwächung der europäischen Hegemonie.
Der Zweite Weltkrieg traf die
europäischen Kolonialreiche schwer, brachte sie aber nicht
unmittelbar zum Einsturz. Der Krieg selbst hatte kurzfristig sogar
etwa das britische imperiale System gestärkt und, nicht
zuletzt in Gestalt des Premiers Winston Churchill, imperiale
Rhetorik wieder salonfähig gemacht. Die Ressourcen der
kolonialen Besitzungen wurden in hohem Maße beansprucht, vor
allem jene Indiens. Auch Afrika musste einen beträchtlichen
Beitrag leisten. Schätzungsweise eine halbe Million
afrikanischer Soldaten kämpfte allein in britischen Einheiten
auf den Schlachtfeldern in Europa, Asien und Nordafrika. Bald
offenbarte sich der Kontrast zwischen der ostentativen Bekundung,
Freiheit und Demokratie seien die zentralen Ziele der Alliierten,
und der Tatsache, dass die koloniale Herrschaft aufrechterhalten
wurde. Dies entging auch zahlreichen Kolonisierten
nicht.
So bestätigte die berühmte, auf
Betreiben des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt
formulierte Atlantik Charta vom August 1941 zwar in Artikel 3, dass
es das Recht eines jeden Volkes gebe, selbst die Regierungsform zu
wählen, unter der es leben möchte. Doch Churchill, der
verkündete, er sei nicht Premierminister seiner Majestät
geworden, um über die Auflösung des britischen Weltreichs
zu präsidieren, behauptete zunächst ungerührt, die
britische Kolonialpolitik stehe in Harmonie mit der Charta. Im
Verlauf des Krieges wichen auch auf Seiten der Vereinigten Staaten
antikoloniale Postulate immer mehr einer pragmatischen
Allianzpolitik. Die Zusammenarbeit mit Großbritannien und die
Niederwerfung Deutschlands und Japans hatten für Washington
Priorität. Dekolonisationspolitik und
Koalitionskriegsführung ließen sich kaum
vereinbaren.
Während die Kolonialmächte nach
1945 in Asien angesichts der massiven nationalen Bewegungen mehr
oder weniger schnell resignierten, dachte in London und Paris
zunächst niemand an eine rasche Aufgabe der afrikanischen
Kolonien - im Gegenteil! Dort fand so etwas wie eine "zweite
koloniale Besetzung" statt: Frankreich wie Großbritannien
favorisierten in Afrika einen mit größeren Investitionen
verbundenen "Entwicklungskolonialismus", der den Metropolen
direkten Nutzen und den Afrikanern die für eine
Unabhängigkeit nötige "Reife" bescheren sollte. Wellen
von Experten wurden nach Afrika gesandt, um den Bauern neue Wege
des Anbaus zu weisen und den Arbeitern neue Formen der Arbeit
nahezulegen. Der Nachkriegsimperialismus war ein Imperialismus des
Wissens.
Eine besondere Bedeutung in der sich nach dem
Zweiten Weltkrieg abzeichnenden globalen Neuordnung kam dem Konzept
der "Entwicklung" zu. Dieser Begriff sagte den Politikern der
"unterentwickelten" Gesellschaften ebenso zu wie den Menschen in
"entwickelten" Ländern. Denn er ließ beide teilhaben an
dem intellektuellen Universum und der moralischen Gemeinschaft, die
nach 1945 im Kontext weltweiter Entwicklungsinitiativen entstand.
Diese Gemeinschaft teilte die Überzeugung, die Linderung der
Armut sei durch ökonomische und soziale Selbstregulierung
allein nicht möglich. Es bedürfe konzertierter
Interventionen von Regierungen armer und reicher Länder in
Zusammenarbeit mit der wachsenden Gruppe internationaler Hilfs- und
Entwicklungsorganisationen.
Forum für die jungen Nationen
Die Vereinigten Staaten sahen eine Zeitlang
in Europas Herrschaft die beste Garantie für die
Stabilität Afrikas, das zugleich wichtig war als strategisches
Hinterland und Rohstofflieferant. Antikommunismus wurde in
Washington wie in den westeuropäischen Hauptstädten zu
einem zentralen Aspekt internationaler Politik. Insbesondere nach
dem Ausbruch des Koreakriegs gerieten nationalistische,
antikoloniale Kräfte quasi automatisch in den Ruch,
Kommunisten oder wenigstens kommunistisch beeinflusst zu sein.
Parallel stieg der Antikolonialismus zu einer weltweiten Bewegung
auf. Nicht zuletzt auf die Initiative des indischen Premiers
Jawaharlal Nehru intensivierten sich die afro-asiatische
Solidarität und das Bündnis der Blockfreien. Die
Vereinten Nationen boten damit ein wichtiges Forum für die
jungen Nationen der ehemals kolonisierten Welt.
Als in Paris und London aus wirtschaftlichen
und politischen Erwägungen die Entscheidung fiel, auch die
afrikanischen Kolonien in die Unabhängigkeit zu entlassen,
konnten sie den Machttransfer nur bedingt kontrollieren. Vor dem
Hintergrund der Systemauseinandersetzung zwischen den Vereinigten
Staaten und der Sowjetunion in der kolonialen Welt bestimmte am
Ende oft die Stärke der jeweiligen nationalistischen
Gruppierungen den tatsächlichen Zeitplan der
Dekolonisation.
Die Dekolonisation war Teil des
Übergangs zu einer neuen Ordnung des Weltstaatensystems, die
geprägt war durch die weltweite Konfrontation zweier
hochgerüsteter Blöcke, der Entstehung zahlreicher
postkolonialer Nationen sowie der ideologischen Ächtung von
Kolonialismus bei häufig fortdauernder rassistischer
Diskriminierung.
Andreas Eckert ist Professor am Historischen Seminar der
Universität Hamburg.
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