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Bernd Greiner
Sicher an der langen Leine
Die Westbindung der Bundesrepublik: Erziehung
zur Bürgergesellschaft
"Die Demokratie wird in Deutschland keine
Wurzeln schlagen, weil es sich um eine ausländische Ideologie
handelt." Dieses Diktum von Bischof Otto Dibelius kann auch -
jenseits seines normativen Gehalts - als zutreffende Diagnose
deutscher Verhältnisse im Jahr 1945 gelesen werden. So wenig
die deutsche Gesellschaft in der Lage gewesen war, sich aus eigener
Kraft von Hitler zu befreien, so sehr fehlte es ihr am politischen
Willen zu einem demokratischen Neubeginn. Ein Generalverdacht gegen
Demokratie und liberalen Parlamentarismus lag über den meisten
politischen Zukunftsvisionen.
Ob im Umfeld des konservativen Widerstandes
gegen Hitler oder unter liberalen Vordenkern wie Eugen Kogon oder
Karl Jaspers - die Erfahrungen aus Weimarer Zeiten hatten sich zu
einem Ressentiment gegen "Massendemokratie" und "Massenparteien"
verdichtet und begünstigten eine Renaissance autoritärer,
teilweise ständepolitischer Vorstellungen. Nicht zuletzt daran
scheiterten die Westalliierten, allen voran die Amerikaner, als sie
jenseits der Entwaffnung der Wehrmacht und des Verbots nazistischer
Organisationen eine Gesellschaftsreform an Haupt und Gliedern
durchsetzen wollten. Die Versuche zur Entflechtung der Wirtschaft
liefen ebenso ins Leere wie die Bemühungen um ein neues Schul-
und Erziehungssystem oder zur Abschaffung des Berufsbeamtentums -
um nur die wichtigsten Beispiele zu nennen. Wie es schien, waren
die Verbindungen zum demokratischen Erbe der westlichen Moderne
gekappt.
Dass entgegen damaligen Erwartungen und
Befürchtungen binnen weniger Jahrzehnte im Westen Deutschlands
eine aus eigenen republikanischen Traditionen und westlichen
Vorbildern verwobene Staats- und Gesellschaftsordnung aufgebaut
werden konnte, gehört zu den erstaunlichsten Kapiteln der
europäischen Nachkriegsgeschichte. Historiker werden noch
geraume Zeit über die Ursachen und den Verlauf dieser
Entwicklung streiten. Unbestritten ist indes, dass es sich nicht um
eine linear verlaufende Erfolgsgeschichte, sondern eher um das
Zusammentreffen kaum vorhersehbarer und noch weniger planbarer
Umstände handelt. Drei Faktoren verdienen dabei besondere
Erwähnung: Die abwartende Haltung der Westalliierten, der
Kalte Krieg und die "kulturelle Globalisierung". In ihrem
wechselvollen Zusammenspiel setzten sie jene synergetische Dynamik
frei, derer es zur Durchsetzung einer belastungsfähigen
Demokratie bedurfte.
Zum Ersten: Ihr Unwille oder die
Unfähigkeit, sich auf eine westlich inspirierte Staats- und
Gesellschaftsreform einzulassen, öffnete den Deutschen das Tor
zum Westen. Unter den Bedingungen der frühen Nachkriegszeit
hatten die Westalliierten die Wahl zwischen einer oktroyierten oder
aufgeschobenen Demokratisierung. Bekanntlich entschied man sich
für Letzteres und übernahm - allen ursprünglichen
Intentionen zum Trotz - vier Jahre lang die gemeinhin einer
gewählten Regierung überantworteten Aufgaben. In
historischer Perspektive erscheint dieser Schritt als genialer
Schachzug. Indem die Westmächte sich bis 1949 als
Blitzableiter zur Verfügung stellten, alle Beschwernisse,
Misserfolge und Enttäuschungen auf ihr Konto nahmen,
dämpften sie das Ressentiment gegen eine parlamentarische
Demokratie und hielten insbesondere jenen deutschen Eliten den
Rücken frei, die für künftige Führungsaufgaben
in Frage kamen. Die in der frühen Nachkriegszeit
unvermeidlichen wirtschaftlichen Turbulenzen konnten sich folglich
nicht zu einer Belastung der in Aussicht genommenen neuen Ordnung
auswachsen. Anders als zu Beginn der Weimarer Republik blieben die
deutschen Repräsentanten des Neuanfangs vom Odium der
Inkompetenz und Illegitimität verschont.
Letzten Endes verdankte sich die
Stabilität der frühen Jahre einer aus ökonomischer
Not und reformpolitischem Stillstand geborenen Politik der
Improvisation. Dafür steht der Marshall-Plan - eine Hilfe zur
Selbsthilfe, deren Dynamik selbst seine Schöpfer nicht
für möglich gehalten hätten. Als Mittel zur
Ankurbelung der Wirtschaft gedacht, entfaltete er seine eigentliche
Wirkung jenseits der Ökonomie. Mit der Rücken-
deckung aus den USA stellte sich jener
Optimismus ein, der zur Stabilisierung demokratischer Strukturen
unabdingbar ist - zumal in einem Umfeld, in dem autoritäre
politische Visionen auch und nicht zuletzt mit der Furcht vor einem
Rückfall in ökonomischen Chaos begründet wurden. Dem
Trauma der frühen Weimarer Zeit mit dem Versprechen dauerhaft
verlässlicher Hilfe begegnet zu sein, erscheint im
Rückblick als eigentliche Leistung des Marshall-Plans. Die
Skepsis mancher Zeitgenossen gerät deshalb aber nicht zur
historischen Fußnote. Denn dass eine "Politik der langen
Leine" zum Ferment deutscher Westbindungen werden würde, war
damals keineswegs ausgemacht. Und in der Tat waren zusätzliche
Impulse vonnöten.
Zum Zweiten: Die Turbulenzen des Kalten
Krieges verschafften der Bundesrepublik jene Ruhe- und Atempause,
derer sie für eine Stabilisierung des demokratischen
Neubeginns bedurfte. Zwar lebten der Westen und Osten Deutschlands
seit den späten 1940er- Jahren nicht im Windschatten der
Geschichte. Im Gegenteil: Die wiederholten Krisen um Berlin
rückten das geteilte Land phasenweise ins Zentrum der
Blockkonfrontation. Aber auf lange Sicht wurde die Geschichte der
Bundesrepublik nicht von diesen Aufgeregtheiten, sondern von
geräuschlosen Prozessen im Hintergrund geprägt. In
anderen Worten: Vom stummen Wirken des Grundsatzes, dass Sicherheit
nur um den Preis der Selbstdisziplinierung zu bekommen und an die
Bereitschaft gekoppelt war, die Westalliierten als "steinernen
Gast" bundesdeutscher Außen- und Sicherheitspolitik zu
akzeptieren. Stets zugegen, wenn auch nicht immer sichtbar, standen
sie einem erneuerten Nationalismus im Weg und ließen den
diversen Spielarten eines "deutschen Sonderwegs" noch nicht einmal
Hintertüren offen. Damit lässt sich, zumindest zu einem
guten Teil, erklären, weshalb die Bundesrepublik an der
Übernahme zahlreicher Kader aus der Nazizeit keinen
substantiellen Schaden nahm. Oder dass die Versuche, eine am Modell
"Rapallo" orientierte Schaukelpolitik zwischen Ost und West zu
betreiben, Episode blieben. Je länger der Kalte Krieg dauerte,
desto positiver schlugen diese Effekte zu Buche. Die dauerhafte
Einbindung in das weit verzweigte institutionelle Netzwerk der
westlichen Allianz kann und sollte auch als Prozess verstanden
werden, in dessen Verlauf die Selbstdisziplinierung in den
Hintergrund trat und vom Erwerb eines neuen politischen
Selbstbildes abgelöst wurde. Genauer gesagt, von der
prinzipiellen Bereitschaft, Macht und Souveränität zu
teilen und auch nach Außen jenen Grundsätzen Rechnung zu
tragen, die das innere Gefüge einer Demokratie zusammenhalten.
Dass diese Zivilisierung des politischen Denkens im deutschen Fall
an eine Ära weltpolitischer Militarisierung gekoppelt war,
gehört zu den Ironien deutscher Geschichte - und taucht den
Begriff "Krisengewinnler" in ein ungewohnt positives
Licht.
Zum Dritten: Die Politik der Westbindungen
war im deutschen Fall nicht zuletzt erfolgreich, weil sie mit einer
"unpolitischen Produktivkraft" Hand in Hand ging. Gemeint sind die
Effekte einer Entwicklung, die wahlweise als "kulturelle
Globalisierung" oder "Amerikanisierung der Kultur" beschrieben
wird. Die Etikettierung ist zweitrangig, weil in beiden Fällen
ein- und dasselbe Phänomen beschrieben wird: Die kulturelle
Öffnung Deutschlands für Angebote aus dem Westen, die
"Ideologisches durch Habhaftes" (Ralph Dahrendorf) ersetzten und
einen Weg aus der deutschtümelnden Einöde wiesen. Wie wir
aus Untersuchungen zur Populärkultur wissen, ging es dabei
nicht um die vordergründige Adaption einer fremden Kultur.
Vielmehr wurde ein langwieriger und oft widersprüchlicher
Prozess angestoßen, in dessen Verlauf eine Neukonfiguration
von Werten und Einstellungen zu beobachten ist - zugunsten
kultureller Pluralität und Differenz, abweichenden Verhaltens
und sinnlicher Individualität, Gelassenheit und Toleranz. Dass
die Herausforderungen durch die außerparlamentarische
Opposition nicht zu einer Zerrüttung, sondern im Gegenteil zu
einer Festigung der Demokratie führten, hängt auch mit
diesen Umbrüchen seit den frühen 1950er- Jahren zusammen.
Und nicht zuletzt mit der Tatsache, dass die "Okkupation der
Phantasie" nicht auf die Rezeption westlicher Musik oder Literatur
begrenzt blieb. Die Austauschprogramme für Generationen von
Schülern und Akademikern oder die Adaption eines neuen
Führungsstils in Wirtschaftsunternehmen hinterließen
nicht minder nachhaltige Spuren. So gesehen, handelt die
"kulturelle Öffnung" der Bundesrepublik von der Ausbildung
zivilgesellschaftlicher Mentalitäten auf einem Feld jenseits
der Politik.
Die Ausweitung dieser Impulse auf den
Kernbereich des Politischen und mit ihr die Herausbildung einer
Zivilgesellschaft bildet die Essenz deutscher "Westbindungen".
Niemals zuvor hat es in Deutschland eine derartige Aufwertung des
politischen Bürgers, des Citoyen, gegenüber dem Staat
gegeben. Zu Recht ist die Rede von einer mit hundertjähriger
Verspätung vollzogenen Emanzipation des Untertanen zum
Bürger und von der Einsicht, dass Freiheit und Recht nicht
etwas von Staats wegen Gewährtes sind, sondern ein Kraft des
Naturrechts anvertrautes Gut, das im Zweifelsfall gegen den Staat
behauptet werden muss. Zur Hinterlist demokratischer Entwicklungen
gehört, dass dergleichen nicht plan- und wenig steuerbar und
daher auch nicht als "ausländischer Import" vorstellbar ist.
Vor die Wahl gestellt, entscheidet sich Klio eher für das
Zufällige und Unwägbare als für das "Grand
Design".
Professor Bernd Greiner leitet den Arbeitsbereich "Theorie und
Geschichte der Gewalt" am Hamburger Institut für
Sozialforschung.
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