|
 |
Karl-Otto Sattler
Verschlungene Wege im historischen Neuland
Die Ursprünge der Europäischen
Gemeinschaft
Ideen für ein europäisches
Bündniss hatte es auch vor dem Zweiten Weltkrieg gegeben.
Dieser Krieg jedoch hatte die Welt und Europa gelehrt, welch einen
bedrohlichen Charakter die nationalistisch überhöhte
Politik eines Staates annehmen kann. Der Gedanke an eine
gefestigten europäische Gemeinschaft entsprang nicht zuletzt
einem Sicherheitsbedürfnis. Über nationalen
Souveränitätsverzicht europäische Macht gewinnen:
Die Montanunion und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
(EWG) ebnen durch Friedenssicherung und wirtschaftliche Integration
den Weg zu Maastricht und der politischen Union Europas.
Das Foto ist ein geschichtliches Dokument von
Rang und ziert viele Bücher wie Infobroschüren. Das
Ereignis, das von der Kamera festgehalten wird, hat legendären
Charakter: Am 9. Mai 1950 steht der französische
Außenminister Robert Schuman im prachtvollen Uhrensaal seines
Hauses und verkündet unter Kronleuchtern vor interessiert
lauschenden Zuhörern seinen Plan zur Gründung der
Montanunion. Dieser Moment gilt als Stunde Null, die
"Schuman-Erklärung" als Geburtsurkunde der jetzigen EU, der
Europäischen Union. Das Bild hat freilich einen
Schönheitsfehler: Es ist nicht wirklich echt. An jenem 9. Mai,
der mittlerweile als "Europatag" begangen wird, schreiben zwar
einige Journalisten die Worte des Ressortchefs mit, doch es sind
keine Fotografen erschienen: Die Pariser Presse hat die Bedeutung
dieses Auftritts Schumans zunächst nicht erfasst. Als sich
dessen historische Tragweite herausstellt, wird die Szene einige
Wochen später für Bildjournalisten kurzerhand
nachgestellt. Mit den Tricks der Mediengesellschaft wird nicht erst
heute gearbeitet.
Klaus Löffler erzählt diese Story
mit einem gewissen Vergnügen. Für den Leiter der
Vertretung des Europäischen Parlaments in Berlin markiert der
9. Mai 1950 im Kern den Start der EU. Indes räumt Löffler
ein: "Die Frage nach dem Gründungsdatum ist nicht einfach zu
beantworten". Schließlich ist eine Rede kein formeller Akt.
Erblickt das vereinte Europa 1951 mit der Unterzeichnung des
Vertrags über die Europäische Gemeinschaft für Kohle
und Stahl (EGKS) das Licht der Welt, die dann 1952 aus der Taufe
gehoben wird? Oder tritt das neue Europa 1957 mit den
Römischen Verträgen über die 1958 vollzogene
Schaffung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) auf
die geschichtliche Bühne?
Das "wahre" Geburtsdatum der EU dürfte
Historikern noch lange Diskussionsstoff liefern. Jedenfalls sind
die Schuman-Erklärung und die EGKS keineVorläufer der
EWG. Löffler: "Bereits in der Rede vom 9. Mai 1950 und in der
Montanunion sind die Prinzipien unserer EU und deren
Grundstrukturen verankert."
Die EU ist kein Staat, kein Staatenbund, kein
Bundesstaat, keine Föderation à la USA, keine
internationale Organisation wie die UNO oder der Europarat.
Brüssel steht für ein als "Gemeinschaft" oder "Union"
firmierendes Konstrukt mit inzwischen 25 Mitgliedsnationen, und
diese EU kann man als eine Art Vertragszustand bezeichnen, der
permanent verändert und weiterentwickelt wird:
Unabhängige, souveräne Staaten bündeln in wachsendem
Maße Hoheitsrechte - auch, um zusammen auf internationaler
Ebene an Gewicht, Stärke, Einfluss zu gewinnen. Diesen
Grundgedanken der Integration hat der Stratege Jean Monnet
entwickelt, ein Mitstreiter Schumans: Die Nationen übertragen
freiwillig Kompetenzen an europäische Institutionen. Dieses
Modell ist etwas anderes als das europaweite Reich eines Karls des
Großen oder eines Napoleons, die imperiale Macht
ausübten.
Die Montanunion ist der erste praktische
Schritt in die neue Zeit. Schuman und Monnet verfallen nicht von
ungefähr auf Kohle und Stahl, um ihr Prinzip der
Übertragung einzelstaatlicher Zuständigkeiten auf
europäische Instanzen zu erproben: Die für die
Waffenproduktion entscheidenden Schlüsselindustrien werden
nationaler Souveränität entzogen, "damit jeder Krieg
zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern
unmöglich wird", so der Pariser Außenminister. Seit
Jahrzehnten erweist sich die EU als Friedenszone zwischen den
Mitgliedsländern.
Frankreich, die Bundesrepublik, Italien und
die drei Benelux-Länder, die Staaten der EGKS, weiten 1957 mit
den Römischen Verträgen über die EWG das der
Montanunion innewohnende Prinzip auf das gesamte Wirtschaftsleben
aus: Schrittweise gewinnt Brüssel immer mehr Einfluss auf die
Wirtschaftspolitik in und zwischen den Nationen. Ein- und
Ausfuhrzölle werden für immer mehr Waren abgestimmt und
reduziert, die Handelsbeziehungen werden intensiviert, im Montan-
und Agrarsektor wirde die nationale Subventionspolitik geregelt,
der grenzübergreifende Geldverkehr wird erleichtert und
manches mehr. 1979 wird das Europäische Währungssystem
(EWS) mit festen Wechselkursen installiert, hinzu kommt der ECU als
Europäische Rechnungs- und Währungseinheit.
In der Praxis entpuppt sich das hehre Prinzip
der Kompetenzübertragung auf die Gemeinschaft oft als
Kuhhandel, als Gefeilsche beim Geben und Nehmen. Die
europäische Subventionspolitik lässt Brüssel zur
gigantischen Geldumverteilungsmaschine mutieren, die viele
Begehrlichkeiten bei Lobbyisten weckt - eine gewisse
Berühmtheit erlangen beispielsweise italienische Olivenbauern
mit ihrem cleveren und nicht immer korrekten Ergattern von
Zuschüssen. Für Touristen und Grenzlandbewohner bleiben
bis zur Einführung des Binnenmarkts in den 90er- Jahren die zu
gering bemessenen Zollfreigrenzen bei Genussmitteln wie Wein,
Kaffee und Zigaretten ein ewiges Ärgernis.
"Nur als System eines flexiblen
Interessenausgleichs konnte Europa funktionieren", bilanziert
Löffler. Und die EWG übt eine wachsende Anziehungskraft
auf viele Staaten aus, erweist sie sich doch zusehends als
Wohlstandsgebiet. 1973 treten Dänemark, Irland und
Großbritannien bei. Nach dem Ende ihrer diktatorischen Regimes
werden auch Griechenland (1981) sowie Spanien und Portugal (1986)
aufgenommen.
Ob Helmut Schmidt und Giscard d'Estaing, ob
Helmut Kohl und Francois Mitterrand: Mal mehr, mal weniger offensiv
verfolgen die Staatenlenker immer auch den Gedanken, über das
wirtschaftliche Zusammenwachsen zudem die politische Integration zu
vertiefen. Nach und nach gewinnt die EWG Kompetenzen auch auf
Feldern wie etwa der Sozial-, Umwelt und Regionalpolitik. 1985
kommt es zum Schengener Abkommen, das Schritt für Schritt den
Abbau der Grenzkontrollen vorsieht - was lange dauern sollte und
auch heute noch nicht völlig verschwunden ist. Gleichzeitig
ebnet Schengen einer engeren Kooperation von Polizei und
Strafverfolgungsbehörden den Weg, was bereits weit gediehen
ist: Demnächst werden selbst Bußgelder im
Straßenverkehr grenzübergreifend eingetrieben, und
künftig werden alle EU-Bürger mit biometrischen Merkmalen
in Pässen erfasst - Orwell lässt grüßen. Die
Ausdehnung der Brüsseler Zuständigkeiten schlägt
sich in Begriffen nieder: Aus der EWG wird die EG, die
Europäische Gemeinschaft, und1992 im Maastricht-Vertrag die
Europäische Union.
Trotz fortschreitender Integration
ändert sich seit der Schuman-Erklärung von 1950, der
Montanunion 1952 und den Römischen Verträgen von 1957 bis
Mitte der Achtziger an der EWG im Kern nichts. Klaus Löffler:
"Erst mit der Einheitlichen Europäischen Akte findet wieder
ein Quantensprung statt". Mit dieser 1985 von den Regierungschefs
beschlossenen und 1987 in Kraft getretenen EEA, ein kaum noch
bekanntes Wort, werden erstmals die Gründungsverträge
erneuert: Die EWG-Länder kommen überein, bis 1992 einen
echten Binnenmarkt zu verwirklichen. Zu dieser vor allem von
Jacques Delors betriebenen Idee gehört auch das Projekt des
Euro. Den Fahrplan zur einheitlichen Währung arbeitet Delors
bis 1989 aus. Damit widerspricht Löffler der These, Kohls Ja
zum Euro sei der Preis für die Zustimmung der EU-Partner zur
Wiedervereinigung gewesen.
Nicht nur die ökonomische und politische
Entwick-lung der EU wurzelt in den Fünfzigern. Angelegt wird
seinerzeit auch das Dreieck aus Kommission, Parlament und dem unter
dem Begriff "Rat" firmierenden Verbund der Regierungen - die Runde
der nationalen Kabinettschefs oder Fachminister hat wie in den
Anfangsjahren nach wie vor das letzte Wort. Formell inthronisiert
wird der "Europäische Rat" als regelmäßig tagendes
Forum der Staats- und Regierungschefs 1974. Der Europäische
Gerichtshof in Luxemburg (1952) und der Europäische
Rechnungshof (1977) arbeiten ebenfalls seit Jahrzehnten.
Jean Monnet ist es, der bereits 1952 als
erster Präsident der "Hohen Behörde" der Montanunion die
Tradition der Brüsseler Kommission begründet. Dieses
Exekutivorgan der EWG wird mit den Römischen Verträgen
aus der Taufe gehoben, das auch zuständig ist für die
ebenfalls 1957 beschlossene Europäische Atomgemeinschaft
(Euratom). Der Deutsche Walter Hallstein wird 1958 zum ersten
Präsidenten der Kommission berufen, deren Mitglieder als
"Technokraten" unabhängig von nationalen Interessen agieren
sollen. Im Geflecht der jetzigen EU-Organe obliegt es in der Regel
der Kommission, den im Rat vertretenen Regierungen und der
Straßburger Volksvertretung Gesetzesvorschläge zur
Entscheidung zu unterbreiten.
Auch die parlamentarische Tradition der EU
beginnt 1952 mit der Montanunion. Der EGKS wird die bloß
beratende "Gemeinsame Versammlung" unter dem Vorsitz Paul-Henri
Spaaks beigegeben, in der Abgesandte aus den nationalen
Abgeordnetenhäusern sitzen. Mit Rom 1957 wird diese
Deputiertenkammer für die EWG zuständig, als erster
Präsident amtiert Robert Schuman. 1962 tauft sich die
Versammlung in "Europäisches Parlament" um - für
Löffler "ein erstes Zeichen politischen Selbstbewusstseins".
Viel mehr als ein Debattierclub, der "Empfehlungen" aussprechen
kann, ist sie freilich nicht - auch wenn man sich im Laufe der
70er-Jahre und noch stärker in den 80ern gewissen Einfluss
gegenüber Kommission und Rat erkämpft, so bei der
Etatpolitik.
Die Direktwahl 1979 markiert für die
Parlamentarisierung der Gemeinschaft eine Zäsur: Erstmals
dürfen die Bürger auf europäischer Ebene selbst
mitbestimmen, und in Straßburg tummeln sich seither
Abgeordnete aus eigenem Recht auf der Basis eines
Wählervotums. Präsidentin wird die Französin Simone
Veil. Der Erwartungsdruck in der Öffentlichkeit ist damals
enorm. Allerdings ändert sich an den bescheidenen
Mitbestimmungskompetenzen der Straßburger Volksvertreter
vorerst nichts: "Zwangsläufig stellten sich bei den
Bürgern Frust und Enttäuschung ein", meint Löffler.
Erst mit Maastricht erhält das Parlament echte
Mitentscheidungsrechte bei der EU-Politik: Gesetzesinitiativen kann
das Abgeordnetenhaus noch nicht starten, aber Kommission und Rat
sind auf die Zustimmung des Parlaments angewiesen.
Die deutsche Wiedervereinigung beschert der
Straßburger Kammer eine historisch einmalige und skurrile
Situation. Mit dem 3. Oktober 1990 gehören auch die neuen
Bundesländer der Brüsseler Gemeinschaft an.
Parlamentarisch vertreten werden die ostelbischen Bürger bis
zur Direktwahl 1994 von einigen Mitgliedern der im März 1990
demokratisch gewählten DDR-Volkskammer. So machen für
einige Jahre in Straßburg Abgeordnete Politik als Abgesandte
eines Staats, der längst zu existieren aufgehört hat. Die
Geschichte der EU birgt manche Anekdoten in sich.
Karl-Otto Sattler arbeitet als freier Journalist in
Berlin.
Zurück zur Übersicht
|