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Detlev Lücke
Mit Lineal und Schreibmaschine zur deutschen
Einheit
Erinnerungen an das Kartenhaus DDR und den
kurzen Winter der Genies
Im Sonderwahllokal für die DDR-Kommunalwahlen vom 7. Mai
1989 im Rathaus Berlin-Pankow stand eine kleine Menschenschlange.
Viele der Wählerinnen und Wähler hielten ein Lineal in
der Hand. Beim Durchstreichen der Kandidaten der Nationalen Front
sollte es schon korrekt zugehen. Erste Risse im Beton der
sozialistischen Menschengemeinschaft, oder Knistern im Gebälk?
Wer nicht völlig wahrnehmungsgestört war, konnte kommende
Ereignisse spüren. "Ihr seid für uns nur eine
außenpolitische Manövriermasse", erklärte uns die
Freundin im Sommer desselben Jahres am Kaffeetisch, deren Mutter
aus der Sowjet-union stammte.
Über 15 Jahre ist das alles her. Vielleicht denkt der eine
oder andere an die Sätze aus Christoph Heins Roman "Horns
Ende", der einige Jahre zuvor gegen die ausdrückliche Weisung
der DDR-Zensurbehörden durch den tapferen Chef vom
Aufbau-Verlag gedruckt worden war: "Erinnere Dich. Ich versuche es.
- Du musst Dich erinnern. - Es ist lange her. Jahre sind vergangen.
- Du kannst es nicht vergessen haben. Es war gestern. - Ich war so
jung. - Du hast es gesehen. Alles hast du gesehen."
Unsere Erinnerungen laufen ein in den Strom eines so genannten
kollektiven Gedächtnisses. Aus dem fischt sich heutzutage, 15
Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung jeder heraus, was er
braucht. Dem einen ist die "Zone", wie der östliche Landesteil
in der Sprache des Kalten Krieges abschottend genannt wird, ein
Kral von Tempo-Linsen und Soljanka, der andere überhöht
den Zusammenfall scheinbar festgefügter Gewissheiten in
heroische Attitüden.
Wer schreibt einmal das Buch über das Verschwinden der
Biografien in den eigenen Legenden? Im Rückblick erscheinen
die DDR und ihre Ankunft als Fußnote in der Weltgeschichte wie
ein Stück von Helden und Schurken.
Die Wahrheit scheint banaler zu sein. Vielleicht war die normale
Existenz eine Mischung aus Kompromiss und Widerstehen, von
Kollektivität und Individualität. Aber wen interessiert
das noch? Auffällig war vor allem das hohe Tempo aller
gesellschaftlichen Verläufe in diesem knappen Jahr zwischen
November 1989 und Oktober 1990. Eine Geschwindigkeit, die sich nur
aus der Unbeweglichkeit in der deutschen Frage die vier Jahrzehnte
zuvor erklären lässt. Das unterstreicht, warum Zeiten des
Übergangs in Deutschland immer am spannendsten sind. "Andere
Parteigenossen passen sich geschwinder an, beispielsweise Herr Pf.,
einer von Steiners Nachbarn. Vor wenigen Tagen beschimpfte er die
Viktl, weil sie ihre gefallenen Brüder beweine. Gestern hat er
sein Parteiabzeichen, das Führerbild und belastende Dokumente
beseitigt. Er kann es noch weit bringen. Solche Leute werden
gebraucht. Sie sind immer die ersten." Erich Kästners
skeptische Betrachtungen aus seinem Tagebuch "Notabene 45" vom 3.
Mai 1945 beschreiben die negative Notation eines gesellschaftlichen
Bruchs. 1989 verlief zum Glück ein wenig anders, weil dieses
Mal die Mehrheit der Bevölkerung der Diktatur ein Ende
bereitete. Es war die Herrschaft des Augenblicks. Täglich
veränderten sich die Dinge, die Herrschenden traten
überhastet zurück und hinterließen ein Vakuum, das
von den Akteuren der Runden Tische in Berlin wie in den
übrigen Städten und Gemeinden der DDR rasch gefüllt
wurde. Für die, die damals dabei waren, schien die danach
kommende Zeit unwichtig zu sein. Der "kurze Winter der Genies"
lebte vom Moment. Und von der Improvisation.
Selten gelingt es den dabei Beteiligten, ein Gefühl aus
jener Zeit zurückzurufen. Der Schriftsteller und
Übersetzer Klaus Laabs, der am 8. Oktober 1989 auf einen
Polizeilaster geschmissen wurde, heruntersprang, vom nächsten
Lastwagen überrollt wurde und in einer Blutlache liegenblieb,
erinnerte sich in einem Fernsehbericht, wie die Umstehenden
dachten, er sei tot. Ich erinnere mich an den empörten Bericht
einer Journalistin der "BZ am Abend" über die unerhörte
Provokation, sich in Gefahr zu begeben und dabei umzukommen. Ruhe
ist die erste Bürgerpflicht.
"Allein daraus, dass aus Bösem Gutes, aus Unglück
relatives Glück geworden ist, folgt noch gar nicht, das
Böses und Unglück nicht anfänglich waren, was sie
waren. Jede gelungene Gewalttat war böse und ein Unglück
und allermindestens ein gefährliches Beispiel. Wenn sie aber
Macht begründete, so kam in der Folge die Menschheit heran mit
ihrem unermüdlichen Streben, bloße Macht in Ordnung und
Gesetzlichkeit umzuwandeln; sie brachte ihre heilen Kräfte
herbei und nahm den Gewaltzustand in die Kur." (Jacob Burck-hardt
"Über Glück und Unglück in der Weltgeschichte"). Der
Zusammenbruch der scheinbar so festgefügten DDR, die das
Herbeiwünschen der deutschen Einheit den Sonntagsrednern
überließ, überraschte auch die Bundesrepublik und
ihre Institutionen. Vom kläglichen Gesang des
Deutschlandliedes vor dem Schöneberger Rathaus am 9. November
1989 über das auf der Schreibmaschine der Familie Kohl
getippte Zehn-Punkte-Programm eines neuen Verhältnisses zur
gewendeten DDR bis zur Rede des Bundeskanzlers an der Ruine der
Dresdner Frauenkirche und den Sympathiebekundungen der
einheitswilligen Sachsen war auch das Regierungshandeln eines
stabilen Staates vom Geist der Improvisation geprägt.
Bis zur Volkskammerwahl vom 18. März 1990 lief das
Geschehen durchaus auf mehreren Gleisen. Die einen glaubten an den
Zug zur deutschen Einheit, die anderen planten, erstmal die DDR zu
erneuern, die noch vorhandenen Kader aus Partei und
Staatssicherheit wollten alle Signale auf Rot stellen und
wünschten standhaft die Rückfahrt in vorherige
Verhältnisse. Die Mehrheit der Ostdeutschen wollte jedoch nur
eines: Die Einheit und die D-Mark, koste es, was es wolle. Die
"Allianz für Deutschland", ein Wahlblock aus Ost-CDU,
Demokratischem Aufbruch und DSU, schien am besten auf diese
Stimmung vorbereitet zu sein und gewann die Wahl mit über 40
Prozent der Stimmen. Die Bürgerbewegung ging in diesen Wahlen
unter und erholte sich nicht mehr davon.
Die Koalitionsregierung aus Allianz und SPD schien nach ihrer
Konstituierung noch unklare Vorstellungen davon zu haben, wie lange
sie existieren würde. Die meisten Minister dachten anfangs an
eine Zeitspanne von etwa zwei Jahren, bis die DDR reif für
eine Vereinigung mit der Bundesrepublik sei. Diese Perspektive
erwies sich rasch als illusorisch. Helmut Kohl, gemeinsam mit
Außenminister Hans-Dietrich Genscher der Hauptakteur jener
Phase, durfte wohl mit einigem Recht behaupten, dass das Fenster
für die Einheit nicht ewig offen stehen würde. Auf dem
Gebiet der DDR waren noch zwei sowjetische Armeen stationiert.
Deren Kommandeure begannen zwar in den Zeiten allgemeiner
Auflösung schon mit Waffenschiebereien, aber die
Standortperspektive blieb unklar und deshalb gefährlich. Die
mit den Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen, dem Einheitsvertrag und der
Einführung der D-Mark ab 1. Juli 1990 gesetzten Fakten waren
deshalb unumkehrbar. Der Traum von einer selbständigen DDR,
einem kleinen Österreich in der ostdeutschen Tiefebene, war
deshalb schnell ausgeträumt. Die Mahnungen vor "Deutschland
eilig Vaterland" verhallten ungehört. "Allmählich
erstarrt das Magma der Eruption von 1989 zur kalten Historiografie"
(Hans-Michael Kloth).
Manchmal wünschte man sich etwas vom erfinderischen Geist
des Herbstes und Winters 1989. Aber die Zeiten haben sich
geändert. Im April 2005 zieht ein Häuflein Klaustrophiler
über die Berliner Straße des 17. Juni und fordert die
Wiedererrichtung der Mauer. Krähwinkel in den Zeiten der
Globalisierung. Alles schwer vorstellbar für diejenigen, die
im Mai 1989 mit einem Lineal vor der Wahlkabine standen.
Detlev Lücke Detlev Lücke ist Leitender Redakteur von
"Das Parlament".
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