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Ulf Engel
Warlords und ethnische Milizen schaffen sich ihre
eigenen Ordnungen
Nach dem Ende des Kalten Krieges erodieren in
Afrika die staatlichen Gewaltmonopole
Ein Ausblick auf die zukünftige Natur des internationalen
Systems eröffnet sich heute bereits in Afrika südlich der
Sahara. Mit der Auflösung der europäischen Kolonialreiche
zu Beginn der 1960er- Jahre ist in Afrika eine neue Raumordnung
etabliert worden - die Aufteilung des Kontinents in "souveräne
Staaten". Heute erweisen sich einige dieser Staaten als nur noch
bedingt oder gar nicht mehr funktionsfähig: Staatliche
Gewaltmonopole erodieren, und diverse Formen der Herrschaft
jenseits des Staates haben sich fest etabliert. Letztere
konkurrieren im internationalen System mit zwei anderen
Ordnungsmustern - der Gesellschaft souveräner Nationalstaaten,
die nach wie vor den Kern dieses Systems darstellt, und einer
transnationalen, hyperglobalisierten Sphäre aus
Bürokratien, Firmen und international
Nichtregierungsorganisationen (INGOs). Die Dynamik zwischen diesen
drei Dimensionen des internationalen Systems stellt ein "analytical
borderland" dar.
Das Ende der Kolonialherrschaft in Afrika transformierte die
Kolonien in Staaten, die auf der Grundlage ihrer
völkerrechtlichen Souveränität formal
gleichberechtigt mit dem Rest des internationalen Systems
interagierten. Die 1963 gegründete Organisation der
Afrikanischen Einheit (OAU) erhob die Unverletzlichkeit der
kolonialen Grenzen und die Nichteinmischung in die "inneren
Angelegenheiten" der Mitgliedstaaten zu ihren Leitprinzipien. Auch
ohne Blick auf neokoloniale Fremdbestimmung durch die ehemaligen
Kolonialmächte oder extreme ökonomische
Abhängigkeiten in der Weltwirtschaft täuschte dieser
Status jedoch in vielen Fällen allein wegen der fehlenden
Qualität von Staatlichkeit über den formalen Anspruch
hinweg. Denn häufig erstreckte sich der Anspruch auf das
staatliche Gewaltmonopol - diesen weberianischen Kern aller
Staatsbegriffe - effektiv nur auf ein Teilterritorium. Grundlegende
Staatsfunktionen, wie die Gewährung der Sicherheit der
Bürger nach innen und außen sowie die Bereitstellung
eines Minimums an öffentlichen Gütern, wurden in vielen
Fällen nicht flächendeckend erfüllt. Jackson spricht
daher von quasi-Staatlichkeit. Gleichwohl waren die ehemaligen
Kolonialmächte - allen voran Frankreich mit seinem
klientelistischen System von Sonderbeziehungen, der
Françafrique - und die nach dem Zweiten Weltkrieg
aufgestiegenen Supermächte USA und Sowjetunion nur allzu rasch
bereit, die "Souveränität" der afrikanischen Staaten
formal anzuerkennen, um damit ihre eigenen Einflusszonen in Afrika
abzusichern.
Nachdem im Nachkriegseuropa durch den Helsinki-Prozess
mühsam der Status quo stabilisiert worden war, trugen die USA
und die Sowjetunion ihre Systemkonfrontation ab Mitte der
1970er-Jahre verstärkt nach Afrika. Der Kalte Krieg bildete
einen Ordnungsrahmen und bot entsprechende Handlungschancen nicht
nur für die Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika (mit
der späten Dekolonisation der Siedlerkolonien in Angola und
Mozambique 1975/76 beziehungsweise Zimbabwe 1980 und Namibia 1989).
Rivalisierende Befreiungsbewegungen fanden in den Supermächten
konkurrierende Patrone, die diplomatische Unterstützung und
Waffen anboten. Innerstaatliche Konflikte wurden derart rasch
internationalisiert - so auch in Äthiopien, dem nach Angola
und Mozambique dritten afrikanischen Staat, der sich am "real
existierenden" Sozialismus orientierte. Unabhängig jedoch
davon ob nun die Sowjetunion oder die USA massive Patronage
gewährten, beide trugen wenig zum Ausbau empirischer
Staatlichkeit in Afrika bei. Allein die "negative
Souveränität" hielt viele Machthaber Afrikas im Amt: Weil
das internationale Recht die völkerrechtlichen Grenzen
garantierte und die Logik des Kalten Krieges im jeweiligen Lager
lediglich Regimestabilität verlangte, mussten die
autokratischen Herrscher oder Militärdiktatoren jener Zeit
kaum Anstrengungen unternehmen, empirische Staatlichkeit
herzustellen.
Geschwächte Handlungsfähigkeit
Diese Ordnung erwies sich indes nicht als beständig. Schon
vor der Zäsur 1989 war die Handlungsfähigkeit vieler
Staaten Afrikas durch die Strukturanpassungsprogramme von IWF und
Weltbank geschwächt worden. Mit dem Wegfall der
stabilisierenden Klammer des Kalten Krieges sahen sich viele Eliten
vor eine zweifache, selten steuerbare Wahl gestellt:
Rekonfiguration des Herrschaftsarrangements unter Erhalt des
Anspruchs auf das staatliche Gewaltmonopol oder aber Desintegration
des Staates im Zuge gewaltsamer Neuordnungen.
Die Transformation der OAU in die African Union (AU), das
optimistische Entwicklungsprogramm NePAD (New Partnership for
African Development), die Konsolidierung der
Post-Apartheid-Gesellschaft in Südafrika nach 1994 sowie die
Regimewechsel in zum Beispiel Ghana und Benin sind Ausdruck der
erfolgreichen Rekonfiguration Afrikas. Anderseits jedoch sind seit
1992 aber auch zahlreiche Prozesse zu registrieren, in denen eine
schwache empirische Staatlichkeit im Zuge gewalttätiger
Auseinandersetzungen weiter erodiert ist. Somalia, Liberia, Sierra
Leone oder die Demokratische Republik Kongo gelten gemeinhin als
Beispiele für Afrikas "failing states". Im Ergebnis so
genannter "neuer Kriege" ist eine Zunahme gewalttätiger
Konflikte und "neuer" Gewaltakteure zu beobachten. Die vorgeblich
"neuen Kriege" zeichnen sich dadurch aus, dass Konflikte vorrangig
innerstaatlich statt zwischenstaatlich ausgetragen werden und
Konflikte über Identitätsfragen ideologische
Auseinandersetzungen abgelöst haben. Die Hauptmerkmale der
"neuen Kriege" sind ein hohes Ausmaß an Gewalt gegen
Zivilisten, oft verbunden mit extremer Brutalität, ferner ein
Nebeneinander von staatlich veranlasster und privatisierter Gewalt
sowie opportunistische Plünderungen und die Entstehung von
Gewaltökonomien in Verbindung mit "warlordism" und der
Ausbeutung natürlicher Ressourcen (Diamanten, Coltan,
tropische Edelhölzer).
In diesen Fällen ist der Anspruch auf das staatliche
Gewaltmonopol gescheitert. Stattdessen produzieren "area boys",
ethnische Milizen, "warlords" und Vigilanten mit Waffengewalt neue
Ordnungen. Häufig lediglich reklamierte Gewaltmonopole werden
durch offen zu Tage tretende Gewaltoligopole ersetzt. Die
Gewaltökonomien in diesen Territorien weisen vielfältige
Verbindungen zu transnationalen, häufig illegalen
Ökonomien auf, sie funktionieren zumeist
grenzüberschreitend und innerhalb klandestiner Netzwerke.
Bruchzone der Globalisierung
Die Krise des Staats und die Entstehung neuer Formen von
governance werden in einem Atemzug mit Gewalt und dem Aufkommen
neuer Raumordnungen diskutiert. Unter dem Eindruck sich
beschleunigender Globalisierungsprozesse werden bislang dominante
Raumordnungen in einigen Teilen Afrikas in Frage gestellt. Das
internationale System souveräner Staaten, das so genannte
westfälische System, das in dieser idealtypischen Form in
Afrika weder unter dem Kolonialismus noch im postkolonialen
Zeitalter flächendeckend verankert worden ist, wird - je nach
Perspektive - abgelöst, zumindest aber ergänzt durch
subnationale Entitäten und transnationale Netzwerke. Einige
Autoren sehen in diesem Prozess das Aufkommen eines "neuen
Mittelalters", wobei diese Analogie gerade wegen des ambivalenten
Konzepts des "Mittelalters" (in Erwartung eines neuen, unbestimmten
Zeitalters) analytisch nur wenig zu überzeugen weis. Andere
entdecken eine dreigliedrige Struktur in einem sich
differenzierenden internationalen System, in dem sich neben den
globalen westlichen "Staatskonglomeraten" und quasi-imperialen
Nationalstaaten neue proto- oder quasi-Staaten herausbilden (diese
letztgenannte Perspektive spiegelt sich auch in dem Postulat, das
Afrika eine Rückkehr zur konzentrischen Ordnung erlebe). Mit
Blick auf die dominanten Ströme der politikwissenschaftlichen
Theoriebildung plädiert Sørensen zum Beispiel dafür,
die neue Dimension des internationalen Systems in Abgrenzung zum
westfälischen System und der hyper-globalisierten Postmoderne
als post-koloniale Ordnung zu konzipieren.
Die neue Empirie in weiten Teilen Afrikas lässt sich mit
der Metapher der "Bruchzonen der Globalisierung" einfangen. Hier
verbinden sich zwei fundamentale Prozesse: Erstens die kollektive
Wahrnehmung eines Umbruchs in Gestalt einer historischen Zäsur
und zweitens die aktive Infragestellung von bestehenden
Raumordnungen. Es handelt sich also auch um besonders dynamische
und kreative Situationen, deren Ausgang zunächst einmal als
historisch offen zu gelten hat. Innerhalb ansonsten
vielfältiger Globalisierungsprozesse stellen die Bruchzonen
der Globalisierung eine Arena dar, in der etablierte Raumordnungen,
die unabhängig ihres empirischen Gehalts bislang gemeinhin als
"Staat" gedacht worden sind, in Frage gestellt und zumeist
gewaltsam abgelöst werden. Der Verlust des staatlichen
Gewaltmonopols geht einher mit der Etablierung neuer Raumordnungen
durch "area boys", Vigilanten und "warlords", aber auch durch
multinationale Firmen oder internationale Organisationen.
Allerdings wissen wir noch sehr wenig über die
Interaktionen zwischen den verschiedenen Raumordnungen, die Natur
ihrer gegenseitigen Beeinflussung und ihre Trennschärfe. Offen
bleiben muss angesichts zahlreicher Forschungslücken
einstweilen auch, wie neu einige dieser Raumordnungen
tatsächlich sind. So zeigt Reno auf, wie stark aktuelle
Strategien einiger nationaler Akteure, internationaler Firmen und
regionaler "strongmen" der Politik des 19. Jahrhunderts
ähneln. Der Blick auf die Historizität von Raumordnungen
erfordert mithin einen Forschungsansatz, der sich an der
Globalgeschichtsschreibung orientiert.
Die Fähigkeit der Akteure der alten westfälischen
Ordnung, die Prozesse in den Bruchzonen der Globalisierung zu
steuern, scheint indes abzunehmen. Einerseits ist der Norden zwar
bemüht, Regionalisierungstendenzen zu unterstützen,
andererseits jedoch bleiben direkte Interventionen in
Staatszerfallsprozesse erratisch und unsystematisch. Die Politik
des Nordens hat sich in diesen Regionen kaum als nachhaltig oder
erfolgreich erwiesen.
Dr. Ulf Engel arbeitet am Institut für Afrikanistik der
Universität Leipzig.
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