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Wolfgang Kraushaar
Der lange Schatten von 1945
Die 68er-Bewegung, die NS-Vergangenheit und die
Nachkriegsdemokratie
Geschichte schreiben, gab der jüdische
Philosoph Walter Benjamin zu Bedenken, heiße "Jahreszahlen
ihre Physiognomie" zu geben. Doch welche Gesichtszüge mit dem
zur Chiffre gewordenen Jahr 1968 in Verbindung gebracht werden
sollten, ist immer noch höchst umstritten.
Schließlich ist die 68er-Bewegung auch
mit dem inzwischen eingetretenen historischen Abstand nicht einfach
auf einen Nenner zu bringen. Ursprünglich stand sie für
ein ganzes Bündel, zum Teil höchst unterschiedlicher
Zielsetzungen. Protestiert wurde im allgemeinen, um die Hochschulen
zu reformieren, die Notstandsgesetze zu verhindern, die
rechtsradikale NPD vom Einzug in den Bundestag abzuhalten und vor
allem um dem Vietnamkrieg ein Ende zu bereiten. Während ein
Teil der Protestierenden aufs Ganze ging und davon überzeugt
war, dass all diese Konflikte nur in der Überwindung des
bestehenden, als ungerecht und unglaubwürdig angesehenen
Sys-tems zu lösen seien, beschied sich die überwiegende
Mehrheit mit sehr viel bescheideneren Forderungen und beteiligte
sich in den Jahren darauf vor allem an den Reformvorhaben der
sozialliberalen Koalition. Es gab - wie in solchen
Umbruchsituationen nicht unüblich - Maximalisten und es gab
Gradualisten.
Im Unterschied zu den meisten anderen
vergleichbaren Ländern, in denen sich vor dem Hintergrund des
Vietnamkrieges ähnliche Protestbewegungen abspielten,
existierte in der Bundesrepublik jedoch ein tiefsitzendes
Vertrauensdefizit. Mit der NS-Vergangenheit gab es einen
historischen Resonanzboden, der alles in Staat und Politik einem
grundsätzlichen Zweifel aussetzte - Institutionen ebenso wie
Einzelpersonen: Politiker und Minister, Banker und Fabrikanten,
Richter und Professoren, Mediziner und Kulturschaffende - sie alle
standen unter Verdacht. Das Misstrauen der Jüngeren
gegenüber den Älteren war so groß, dass kaum noch
ein unbefangenes Verhältnis gegenüber Staat und
Gesellschaft möglich zu sein schien.
Bereits im Sommer 1966 hatte es deshalb in
einem in West-Berlin verbreiteten Flugblatt geheißen: "Holen
wir nach, was 1945 versäumt wurde, machen wir endlich eine
richtige Entnazifizierung!" Aus der zwanghaften Vorstellung heraus,
dass sich die Eliten in Staat und Politik, Industrie und
Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur ausschließlich aus Nazis
rekrutiert hätten, wurde die in der Tat nur unzureichend
erfolgte Entnazifizierung angeprangert und nun als ein nachholendes
Generationenprojekt propagiert: "Bereiten wir den Aufstand gegen
die Nazi-Generation vor!" Unter dieser Parole standen die Zeichen
auf Sturm.
Nicht zu leugnen war, dass nicht weniger als
anderthalb Jahrzehnte vergehen mussten, bis eine ernstzunehmende
Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit
begann. Erst in den Reaktionen auf den Ulmer Einsatzgruppen-Prozess
1958 und nicht zuletzt auf die antisemitische Welle um die
Jahreswende 1959/60 machte sich eine gewisse Veränderung
bemerkbar. Seitdem der SDS-Student Reinhard Strecker zur selben
Zeit begann, in verschiedenen Städten mit der Ausstellung
"Ungesühnte Nazijustiz" gegen die Verjährung von
NS-Verbrechen zu protestieren, gewann die Forderung nach gezielter
Strafverfolgung von NS-Tätern langsam
Fürsprecher.
Der Versuch, nun auch die Vergangenheit der
eigenen Professoren auf den Prüftisch zu legen, führte zu
Beginn der 60er-Jahre an einer Reihe von Universitäten zu
Konflikten. Eine strikt abwehrende Haltung wie die des Hamburger
Psychologen Peter R. Hofstätter, der 1963 noch die
Überzeugung geäußert hatte, dass die geforderte
"Vergangenheitsbewältigung" prinzipiell unlösbar sei,
führte zu Monate andauernden Konflikten. Häufig waren
Artikel in Studentenzeitungen wie den Tübinger "Notizen", in
denen "braune Flecken" in der akademischen Karriere von
Hochschullehrern nachgewiesen wurden, der Anlass für
restriktive Maßnahmen gegenüber den
Redakteuren.
Eine der Antworten bestand schließlich
darin, dass liberale und konservative Ordinarien damit begannen, in
Vorlesungen das Verhältnis einzelner Fakultäten zum
Nationalsozialismus herauszuarbeiten. So wurde an der
Universität Tübingen im Wintersemester 1964/65 auf Druck
von Studenten eine Ringvorlesung durchgeführt. Für den
Herausgeber der Zeitschrift "Das Argument", Wolfgang Fritz Haug,
boten solche Vorlesungen willkommenen Anlass, um bereits an den
Sprachgewohnheiten eines Teils der Professorenschaft die
Unfähigkeit zu einer angemessenen Auseinandersetzung
nachzuweisen. Das Schlagwort vom "hilflosen Antifaschismus" war in
aller Munde. Und die Schwierigkeiten der Justiz, NS-Verbrechen
aufzudecken, von Ahndung ganz zu schweigen, schienen diese
Unfähigkeit während des Frankfurter Auschwitz-Prozesses
vor aller Augen unter Beweis zu stellen.
Kein anderer Slogan aus der Zeit der
68er-Bewegung hat sich schließlich so sehr ins Gedächtnis
eingegraben wie jener, der am 9. November 1967 im Auditorium
maximum der Universität Hamburg den Teilnehmern einer
Rektoratsfeier präsentiert wurde: "Unter den Talaren Muff von
1.000 Jahren". Die Zielscheibe der Protestaktion waren ganz
unmissverständlich jene Ordinarien, die unter dem Verdacht
standen, dass sich unter ihren akademischen
Traditionsgewändern der Ungeist des Nationalsozialismus
verberge.
Auffällig an den Reaktionen
verschiedener Zeitungen war jedoch, dass sie lediglich vom "Muff
von 100 Jahren" schrieben und damit den Bezug zum
"Tausendjährigen Reich" der Nazis tilgten. Was manche
Journalisten nicht zu melden bereit waren, das wurde allerdings
durch einen Zwischenfall um so nachhaltiger in Erinnerung gerufen.
Der Direktor des Orientalischen Seminars, ein ehemaliges SA- und
NSDAP-Mitglied, hatte den Protestierenden während der
verunglückten Feierstunde kurzerhand hinterhergerufen: "Ihr
gehört alle ins KZ!" Damit hatte der Professor in seinem Zorn
dem Slogan der Protestierenden unfreiwillig eine Bestätigung
nachgeliefert.
Der Antifaschismus der 68er-Bewegung war
allerdings durch eine grundlegende Indifferenz beschädigt.
Indem sie das NS-Regime der marxistisch-kommunistischen
Terminologie folgend als "faschistisch" charakterisierte, wurde es
zugleich verharmlost. Denn die qualitative Differenz zwischen dem
italienischen Faschismus und dem Nationalsozialismus wurde
eingeebnet. In einer solchen Kennzeichnung dominierte der
Bewegungscharakter und damit die Entstehungsphase des NS-Regimes.
Die Durchsetzung der SS gegenüber der SA, die Etablierung des
NS-Staates und die Entfesselung einer Kriegswirtschaft wurden darin
hingegen nicht zum Ausdruck gebracht und damit die Voraussetzungen
für das, was den Nationalsozialismus in seiner
unvergleichlichen Schreckgestalt ausgemacht hat - den Holocaust.
Ein spezifisches Bewusstsein von der staatlich angeordneten,
bürokratisch betriebenen und industriell vorangetriebenen
Vernichtung der europäischen Juden blieb damit auf der
Strecke.
Ein weiteres Problem kam hinzu - die logisch
als zwingend unterstellte Verknüpfung des Antifaschismus mit
dem Antikapitalismus. Das Diktum "Wer aber vom Kapitalismus nicht
reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen" stand wie ein
unfreiwillig tragischer Portalspruch über der 68er-Bewegung.
Das Zitat stammte von keinem geringeren als Max Hork-heimer - aus
dessen unter dem Eindruck des gerade ausgebrochenen Zweiten
Weltkriegs verfassten Aufsatz "Die Juden und Europa". Der Direktor
des in die USA emigrierten Frankfurter Instituts für
Sozialforschung meinte darin inständig davor warnen zu
müssen, der Vergangenheit des liberalen Bürgertums
nachzutrauern. Gegen den Faschismus könne man sich nicht auf
jene Kräfte berufen, durch die er überhaupt erst habe
siegen können. Dieses Misstrauen saß tief und es ist
gewiss nicht ohne Berechtigung gewesen.
Die Behauptung jedoch, dass der Kapitalismus
den Faschismus generiert habe, war in dieser Allgemeinheit mit
Sicherheit verkehrt. Danach müsste schließlich in all
jenen Ländern, in denen sich der Kapitalismus durchgesetzt
hat, ein faschistisches System entstanden sein. Unter den
Vorzeichen eines globalisierten Kapitalismus würden wir es
heute mit nichts anderem als einer Art Weltfaschismus zu tun haben
müssen. Dies jedoch ist ein Gespenst, das nur in den
Alpträumen einiger zur Paranoia neigenden Intellektueller
existiert.
Der Zivilisationstheoretiker Norbert Elias
hat in seiner "Studie über die Deutschen" die 68er-Bewegung
und aus ihrem Zerfall hervorgegangene terroristische Gruppierungen
wie die RAF als Ausdruck eines Generationenkonflikts zu
interpretieren versucht. In Reaktion auf die NS-Vergangenheit habe
sich in der jüngeren Generation ein Affekt ausgebildet, den er
als "negatives Nationalgefühl" bezeichnet. Nach zwei extrem
nationalistischen Wellenbewegungen und zwei desaströsen
Niederlagen sei nach 1945 eine Tendenz zur Selbststigmatisierung
und zum Selbsthass übriggeblieben. Die ungebremste
Verurteilung der Bundesrepublik durch die
außerparlamentarische Bewegung hänge wahrscheinlich, so
vermutete er, mit diesem "Ausfall eines positiven nationalen
Wir-Bildes" zusammen.
Das klingt durchaus plausibel, ist
andererseits jedoch nicht ganz unmissverständlich.
Schließlich wurde von ihm ja nicht etwa in einer schlichten
Gegenreaktion die Wiedergeburt eines neuen Nationalgefühls
gefordert. Was Elias meinte, war die objektive Schwierigkeit, nach
zwei verheerenden Kriegen und der Vernichtung der europäischen
Juden eine Art innerer Balance gewinnen und so wieder ein positiv
besetzbares Kollektivgefühl ausbilden zu
können.
Der Abstand zwischen der Gegenwart und 1968
ist mittlerweile weitaus größer als jener zwischen 1968
und 1945. Insofern lagen den 68ern Nationalsozialismus und Krieg
näher als der jungen Generation von heute die Revolte von
1968. Diese historisch gewachsene Distanz hat jedoch nicht allein
zu Spannungen unter den nach 1945 folgenden Generationen
geführt.
Die grundsätzliche Infragestellung des
Bestehenden, die sich die 68er-Bewegung zur Aufgabe gemacht hatte,
wird von den Jüngeren inzwischen jedoch zumeist als
befremdlich angesehen. Dies muss nicht unbedingt das Zeichen einer
gewachsenen Indifferenz sein. Vielleicht ist es Ausdruck einer
neuen Selbstverständlichkeit im Umgang mit Politik, Staat und
Gesellschaft. Der Abgrund, der sich früher der jüngeren
Generation im Anblick der von Deutschen begangenen NS-Verbrechen
öffnete, scheint heute nicht mehr, jedenfalls nicht mehr in
einstiger Schärfe zu existieren.
Dr. Wolfgang Kraushaar ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des
Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS).
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