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Gerd Rüdiger Wegmarshaus
Der dynamische Parteichef in der
Kremel-Greisenriege
Glasnost und Perestroika: Michail Gorbatschows
Versuch, die Sowjetunion zu reformieren
Die russischen Wörter "Glasnost" und "Perestroika" sind
seit ihrer Einführung in das politische Lexikon der damaligen
Sowjetunion zu stehenden Begriffen in fast allen Sprachen der Welt
geworden. Eine solche Karriere, eine derartige Präsenz im
Bewusstsein der Menschen gelang bislang nur wenigen russischen
Wörtern. Im 20. Jahrhundert, dem Zeitalter der Extreme (Eric
Hobsbawm), einer Epoche revolutionärer Verirrungen, standen
russische Wörter als Bezeichnungen für gewaltsamen
Umsturz, für Enthusiasmus und utopische Verheißung ebenso
wie für brutale Unterdrückung und zynischen Massenmord:
"Bolschewik", "Stalinist", "Politkommissar" "Lubjanka",
"Gulag".
Sehr im Gegensatz dazu markierten die Schlagwörter
"Glasnost" und "Perestroika" in der UdSSR den Versuch einer
neuartigen, auf Dialog, Verständigung und Ausgleich
orientierten Politik. Mit der Wahl Michail Gorbatschows zum
Generalsekretär des ZK der Kommunistischen Partei im
Frühjahr 1985 begann in der Sowjetunion eine Phase radikalen
Wandels in Politik und Ideologie, in Wirtschaft, Kultur und
Gesellschaft. Die politische Ausgangslage für Gorbatschow war
zwiespältig und verwirrend. Einerseits: Der Sowjetkommunismus
war nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem bedeutenden Machtblock in
der Welt geworden und hatte sich zum großen Gegenspieler der
liberalen Gesellschaften des Westens entwickelt. Moskau gebot
über ein beeindruckendes geostrategisches Imperium, das
Sowjetreich verfügte über einen gewaltigen, den USA
nahezu ebenbürtigen Militärapparat. Andererseits: Das
sowjetische Gesellschafts- und Wirtschaftssystem befand sich in
einer offenkundigen Krise, die sich in dramatisch zunehmender
Ineffizienz der Planwirtschaft, in einer ausgeprägten
technologischen Innovationsschwäche, in Korruption und
Amtsmissbrauch, in politischer Entfremdung und Zynismus zeigte.
Außenpolitisch war diese Krise deutlich erkennbar an der
strategischen Überdehnung des Sowjetimperiums, an dem
aussichtslosen Krieg in Afghanistan und am ruinösen
Rüstungswettlauf mit den USA. Verschärfend wirkten der
Freiheitskampf der Solidarnosc-Gewerkschaft in Polen und die
Liberalisierungspolitik in Ungarn. Hinzu kam die politische und
kulturelle Wirkung von prominenten Intellektuellen, die als
Dissidenten entweder inhaftiert waren beziehungsweise ins Ausland
gedrängt wurden: Andrej Sacharow, Alexander Solschenizyn, Lew
Kopelew, Joseph Brodsky.
Im Angesicht dieser für die vergreisten Machthaber im Kreml
desolaten Lage erschien die Wahl des jungen, dynamischen, vor
Optimismus sprühenden Michail Gorbatschow zum
Generalsekretär als ein lichter Hoffnungsschimmer. Als
gewählter Parteichef setzte Gorbatschow seinen ganzen
persönlichen Charme, sein überragendes
Kommunikationstalent, sein strahlendes Charisma ein, um eine Wende
in der festgefahrenen Sowjetpolitik zu erreichen. Mit Perestroika
und Glasnost wählte Gorbatschow radikale, ja
revolutionäre Mittel, um die erstarrten Strukturen
aufzubrechen und eine innen- und außenpolitische
Neuorientierung durchzusetzen. Das erklärte Ziel bestand
darin, das angeschlagene sowjetische Staatsschiff wieder flott zu
machen und dem Sozialismus als Idee und Praxis neuen Glanz zu
verleihen. Im politischen Programm von Michail Gorbatschow spielten
daher Perestroika und Glasnost als zwei gegenseitig sich
stützende und ergänzende Momente eine zentrale Rolle.
Perestroika (wörtlich: Umbau, Umgestaltung) zielte auf die
Überwindung der verkrusteten post-stalinistischen Strukturen
in Parteiapparat, Regierung und Verwaltung, auf eine Belebung von
Wirtschaft, Kultur und Kunst sowie auf eine Dynamisierung von
Wissenschaft und Forschung. Das politische Sowjetsystem sollte in
all seinen Bereichen offener, effizienter und bürgernäher
werden und sich durch ein transparentes, auf Kandidatenwettbewerb
gegründetes Wahlsystem demokratisch legitimieren
können.
Glasnost meinte das offene Aussprechen, das öffentliche
Verhandeln gesellschaftlicher Problemlagen. Glasnost zielte auf
politische Transparenz, auf die Schaffung einer bis dahin
unbekannten demokratischen Diskussionskultur, in der
öffentliche Analyse- und Kritikfähigkeit, Bürgersinn
und aktive Partizipation erst gedeihen können. Gorbatschow
wurde am Beginn seiner Amtszeit von der Bevölkerung wie eine
Rettergestalt enthusiastisch begrüßt. Er erwies sich als
ein wahrer Meister der politischen Kommunikation; auf seinen Reisen
durch das weite Land gelang es ihm überzeugend, eine
Atmosphäre spontaner Freude, offener Sympathie und
aufrichtiger Übereinstimmung zu erzeugen. Allerdings:
Misstrauen und verdeckter Widerstand waren von Anfang an Begleiter
seiner Reformpolitik: Wurde Gorbatschow von der altstalinistischen
Nomenklatura anfangs lediglich misstrauisch beargwöhnt, so
schlug die Ablehnung später in offene Anfeindung von seiten
orthodoxer Hardliner um, die in seiner Politik einen Ausverkauf des
Sozialismus sahen.
Im Westen wurden Gorbatschow und dessen neue Politik
zunächst mit durchaus gemischten Gefühlen aufgenommen:
Enthusiastisch durch Margret Thatcher, vorsichtig bis skeptisch von
Ronald Reagan und von Helmut Kohl. Es stand die Befürchtung im
Raum, dass mit Glasnost und Perestroika lediglich die traditionelle
sowjetische Machtpolitik in neuer, gefälliger Verpackung
präsentiert werde, dass die gewohnte Sowjetpolitik nunmehr
anstelle von grimmigen und verkniffenen Nein-Sagern von einem
strahlenden und wortgewandten Überredungskünstler
verkauft werde. Diese, durchaus verständlichen
Befürchtungen erwiesen sich allerdings als unbegründet.
Gorbatschow meinte, was er sagte, wenn er von einem "Neuen Denken"
in der Außenpolitik sprach: Verantwortung für die gesamte
Menschheit, Überwindung der Block-konfrontation, Abbau von
Feindbildern, Vertrauensbildung, ehrliche und
überprüfbare Rüstungsbegrenzung, mutige
Abrüstung im konventionellen und nuklearen Bereich.
Das Eis des Kalten Krieges begann zu tauen, zwischen den
nuklearen Supermächten USA und UdSSR wurden Abkommen
geschlossen zur verifizierten, verlässlichen Begrenzung
strategischer Arsenale. Wirtschaftliche, wissenschaftliche und
kulturelle Kontakte nahmen in erfreulicher Weise zu. Obschon die
Grenzen zwischen Ost und West einstweilen noch Bestand hatten,
erschien es vielen Menschen leichter, sich zu begegnen. Ein Wind
des Wandels und der Hoffnung erfasste das geteilte Europa.
In der Sowjetunion freilich kam die Perestroika nur mühsam
voran: Handfeste, positive Ergebnisse, vor allem in der Wirtschaft
und im täglichen Leben der Menschen blieben weitgehend aus.
Mehr noch: die zahlreichen Versuche, die starre Planwirtschaft zu
reformieren, indem man den Unternehmen größere
Freiräume bot, die Menschen zu Initiative und
Eigenverantwortung ermutigte, zeigte kaum positive Wirkungen. Im
Gegenteil: Die Versuche, die sowjetische Kommandowirtschaft durch
Einbau marktwirtschaftlicher Elemente in Schwung zu bringen,
scheiterten. Das zentralistische Wirtschaftssystem erwies sich als
unreformierbar. Die Folgen waren fatal: Sinkende Produktion, leere
Regale.
Hinzu kamen im sowjetischen Vielvölkerstaat nationale
Spannungen und Unruhen, die sich im Kaukasus und in Zentralasien in
teilweise blutigen Exzessen entluden. Im Baltikum vollzog sich eine
singende Revolution. Die Völker Estlands, Lettlands und
Litauens forderten unmissverständlich ihre staatliche
Unabhängigkeit: Moskau solle das Unrecht der Okkupation
eingestehen und die Freiheit gewähren. Dazu allerdings war
Gorbatschow nicht bereit. Er glaubte an die gemeinsame Zukunft in
einer gesellschaftlich reformierten, demokratisch erneuerten
Sowjetunion. Um dieses Ziel zu erreichen, forcierte Gorbatschow
seine politischen Anstrengungen: Ein neues Wahlrecht führte zu
einem mehr pluralistisch zusammengesetzten Parlament.
Unabhängige Bürgerinitiativen, kritischer Journalismus,
parteipolitische Vielfalt und die Aufarbeitung der Verbrechen des
Stalinismus leiteten die weitere Demokratisierung ein. Dies aber
führte nicht zu einer Neugestaltung der Sowjetunion. Das Ende
des Sowjetkommunismus war damit besiegelt. Außen- und
europapolitisch bewirkten Glasnost und Perestroika einen
völligen Umbruch. Gorbatschow entließ die Länder
Ostmitteleuropas nach der Revolution 1989 aus der
Einflusssphäre Moskaus und er machte den Weg frei für die
deutsche Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990.
Glasnost und Perestroika zielten ursprünglich auf einen
besseren Sozialismus. Die Erneuerung des Sowjetsystems aber war
undurchführbar. Gorbatschows bleibende Leistung ist sein
Beitrag zur Überwindung der Spaltung Europas und zur
Herstellung der deutschen Einheit.
Dr. Gerd Rüdiger Wegmarshaus ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt
(Oder).
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