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Interview
Das Duell mit der Lüge
Interview mit dem russischen Schriftsteller
Daniil Granin über die Kriegsbewältigung
Daniil Granin, Jahrgang 1919, gehört zu den
bedeutendsten lebenden russischen Schriftstellern. Mit seinen
kritischen Büchern ist er des öfteren in Konflikt mit der
sowjetischen Kulturpolitik geraten. Der Autor des "Blockadebuches"
spricht über Kriegserinnerungen in Russland und Deutschland
und über die Rolle der Literaten im Prozess der
Kriegsbewältigung.
Das Parlament: Herr Granin, vor
einigen Jahren wurde in Deutschland die Ausstellung "Verbrechen der
Wehrmacht" gezeigt. Für viele war sie schockierend.
Darüber, was für Russland die größte
Tragödie des letzten Jahrhunderts bedeutet, weißt man in
Deutschland relativ wenig, wie zum Beispiel über die Blockade
von Leningrad.
Daniil Granin: Diese Ausstellung habe
ich gesehen und denke, dass sie ehrlich war. Ich kann das aus
meiner eigenen Erfahrung behaupten. Ich habe während des
Krieges an der Leningrader Front gekämpft, die sich genau so
wie die Stadt Leningrad innerhalb des Blockadenringes befand. Was
genau war die Blockade? Sie war eine Schlaufe, die das deutsche
Kommando am Hals der Stadt zuschnürte, damit sie am Hunger
zugrunde geht. Die Deutschen haben sich seit der zweiten
Hälfte des Jahres 1942 nicht einmal bemüht, die Stadt zu
erstürmen. Sie hielten mit allen Kräften den Ring der
Blockade fest und wussten ganz genau, was in der Stadt passierte.
Man sollte nicht denken, dass sie es nicht wussten. Sie hatten
viele Quellen: Überläufer, die eigene Aufklärung.
Sie wussten, dass es keinen anderen Zugang von Lebensmitteln in die
Stadt gab außer der Straße des Lebens über den
Ladogasee, die mit dem Anfang des Frostwetters zu funktionieren
begann. Mit dieser Straße des Lebens konnte man relativ wenig
in die Stadt liefern, denn sie war unter ständigem Beschuss.
Warum hat man sie beschossen? Damit die Menschen schneller vor
Hunger sterben. Ich habe Tagebücher von Erich von Manstein
gelesen, Aufzeichnungen vom Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord,
Wilhelm von Leeb. Sie alle wussten, was in Leningrad passierte. Sie
fragten bei Hitler an, ob man die Stadt stürmen sollte. Er
sagte nichts dazu, ließ die Frage unbeantwortet. Denn
wofür Leningrad stürmen, wenn es hieß, dass die
Stadt zugrunde gehen sollte. Klar, die Militärs, gegen die man
kämpfte, konnten umkommen, so ist der Krieg. Aber wofür
musste man die Zivilbevölkerung zum Hunger verdammen?
Letztendlich trat von Leeb zurück, weil er nicht akzeptieren
konnte, dass die Wehrmacht, statt zu kämpfen, sich mit solchen
"Polizeioperationen" beschäftigte, die Zivilbevölkerung
zu Tode zu quälen und verhungern zu lassen.
Das Parlament: Nach dem Krieg
verbreitete sich in Westdeutschland trotzdem der Mythos von der
"sauberen" Wehrmacht.
Daniil Granin: Ja, das ist mir
bekannt. Es wurde angenommen, dass die Wehrmacht kämpfte, alle
Verbrechen von SS-Truppen begangen wurden und die Wehrmacht damit
nichts zu tun hatte. Aber ich war vor kurzem in einer Ausstellung
im Museum Karlshorst, die der Blockade gewidmet war. Dort gab es
Briefe von Heiner Heinz, einem deutschen Leutnant und Kommandeur
der MG-Kompanie, der an der Leningrader Front kämpfte,
ungefähr gegenüber dem Abschnitt unseres Batallions.
Stellenweise trennten uns 100 bis 150 Meter. Manchmal riefen die
Deutschen zu uns ohne jeden Rundfunk - "He Russe, komm zu uns Brot
essen!" - und hielten ein auf ein Bajonett aufgespießtes Brot
über dem Schützengraben hoch. Es war Winter 1941, dann
Frühling 1942 - die schlimmste Hungerzeit. Aus den Briefen
wird klar, dass Heinz über den Hunger wusste. So schreibt er
seiner Frau, dass "obwohl wir mit dem schnellen Fall von Leningrad
nicht rechnen - dieses Gesindel hat nicht vor, sich zu ergeben, -
sie werden gezwungen sein, uns in Ruhe zu lassen und langsam vor
Hunger zu sterben".
Das Parlament: Wenn man sich in
Deutschland an den Krieg erinnert, denkt man oft vor allem an das
Kriegsende, als der Krieg die deutsche Zivilbevölkerung
betroffen hat: Massenvergewaltigungen, Luftangriffe, Vertreibung
der Deutschen aus Ostpreußen und dem Sudetenland. Wird hier
nicht Ursache mit Wirkung verwechselt?
Daniil Granin: Bei uns wird viel
über den Krieg gelogen, aber auch in Deutschland gibt es nicht
weniger Lügen. Jede Seite will ihren Krieg als einen sauberen
Krieg darstellen. Aber es gibt keinen sauberen Krieg, jeder Krieg
wird früher oder später schmutzig. Auch der deutsche
Krieg war schmutzig, von Anfang an, und unser Krieg ist später
schmutzig geworden.
Das Parlament: Was weiß man
über einen solchen Krieg? Man sah ihn im Lichte des Sieges,
der alles rechtfertigte.
Daniil Granin: Wissen Sie, in
Deutschland wird momentan wieder ein gewisser Mythos gebildet, dass
der Krieg, den die Sowjetunion führte, nur gerecht war, bis
unsere Truppen in Deutschland einmarschiert sind. Dass wir in
Deutschland angefangen haben zu vergewaltigen, zu rauben, zu
zerstören. Es ist so, aber es ist auch anders. Es ist das
Eine, als die Deutschen in Russland einmarschierten - satte
Eroberer Europas, nicht mit Hassgefühl erfüllt, sondern
mit einem Gefühl der Verachtung uns gegenüber als
niedriger Rasse. Sie hatten kein persönliches "Konto", keiner
der deutschen Soldaten hatte irgendwelche eigenen Forderungen an
Russland. Die Nazi-Ideologie führte sie. Und das Andere war,
als wir Deutschland betraten, nach dem Verlust von Millionen von
Menschen, erschöpft durch den Krieg, nachdem wir den ganzen
Horror der SS-Strafkommandos gesehen hatten. Das sind zwei
völlig unterschiedliche Zustände. Wir alle hatten unser
persönliches Konto. Wir haben abgebrannte Dörfer gesehen,
Galgen, erschossene Partisanen. Wir haben die ganze Ungerechtigkeit
des Krieges gesehen, der über uns aus irgendwelchen
unbegreiflichen Gründen herfiel. Und natürlich sammelte
sich nach diesen schrecklichen Jahren des Krieges bei den Menschen
ein Gefühl des Hasses - persönliche Forderungen. Als wir
in Deutschland einmarschierten, vernichteten wir den Feind, der uns
viel Leid gebracht hat. Ja, das rechtfertigt nicht Mord und
Vergewaltigung. Aber ich als Schriftsteller urteile nicht, sondern
ich versuche Menschen zu verstehen. Es sind für mich zwei
unterschiedliche Geschichten - ich habe verschiedene Ansprüche
an sie.
Das Parlament: In letzter Zeit wurden
in Russland einige deutsche Soldatenfriedhöfe eröffnet,
die regelmäßig von deutschen Touristengruppen besucht
werden. Was halten Sie von diesen Veränderungen?
Daniil Granin: Ich sehe all das sehr
positiv. Ich habe mich selbst darin engagiert, hatte viele
Gespräche mit russischen Veteranen, die gegen deutsche
Friedhöfe auf dem russischen Boden sind. Doch der Hass ist
eine Sackgasse. Und Deutschland heute ist ein ganz anderes Land,
die Deutschen sind ein ganz anderes Volk. Man muss Deutschland
gerecht werden, es hat viel getan für die Demokratisierung
seines Lebens, um in gewissem Maße seine Schuld zu
büßen, von daher sind unsere heutigen Ansprüche an
Deutschland ungerechtfertigt.
Das Parlament: Herr Granin, vieles
verbindet Sie mit Deutschland. In der Schule haben Sie Deutsch
gelernt, waren im Krieg, sind nach dem Krieg oft nach Deutschland
gereist, haben Freunde dort.
Daniil Granin: Deutschland bedeutet
für mich ein Vorbild. Unsere Schicksale sind irgendwie
ähnlich, deutsches und russisches. Beide Völker haben ein
brutales totalitäres Regime erlebt. Das deutsche Volk hat in
den KZ viele würdige Menschen verloren, wir haben auch
Millionen von Menschen verloren. Wir haben unter unserer Ideologie
gelitten, die Deutschen unter ihrer. Deshalb war es für mich
wichtig zu beobachten, wie die Deutschen aus diesem Zustand
herauskommen. Das ist ein lehrreiches Beispiel.
Das Parlament: Welchen Beitrag hat
Literatur zum Versöhnungsprozess zwischen Deutschland und
Russland beigetragen?
Daniil Granin: Literatur existiert
nicht zu diesem Zweck, aber sie fördert gegenseitiges
Verständnis, aber natürlich nur wenn die Autoren
über ein gewisses Grad an Ehrlichkeit verfügen. Wir haben
in Russland viel über Deutschland aus den Werken von Heinrich
Böll, Günter Grass, Siegfried Lenz und Christa Wolf
erfahren. Das hilft, einander besser zu verstehen und besser
miteinander zu kommunizieren.
Das Parlament: Welche Rolle hat die
sowjetische Literatur im Prozess der Kriegsbewältigung
gespielt? Die Historiker haben über vieles, was den Krieg
betraf, nicht geschrieben.
Daniil Granin: Das ist richtig. Mehr
Wahrheit über den Krieg wurde in der schönen Literatur
gesagt. Sie hat sehr viel getan, denn solche Autoren wie Vassil
Bykov, Grigorij Baklanov, Svetlana Alexievich, Viktor Astafiev
halfen mit ihren Werken zu verstehen, was das für ein Krieg
war mit all seinen Schrecken und sogar mit seiner Romantik. In
diesem Sinne ist die sowjetische Kriegsliteratur ein großes
Denkmal. Und dass viele literarische Werke über den Krieg in
der Sowjetunion und in Russland stark kritisiert wurden, ist
völlig normal. Gute Literatur ist immer untraditionell,
deshalb ist es schwer, sie anzunehmen.
Das Parlament: Was bedeutet das
Kriegsthema heute für Sie?
Daniil Granin: Das Kriegsthema ist
für mich immer noch ein aktuelles Thema. Nicht nur, weil ich
persönlich damit verbunden bin. Nicht, weil es eine noch nicht
fertig geschriebene Geschichte ist, sondern weil es eine große
Tragödie ist, die wir bis heute erleben. Was bedeuten denn: 30
Millionen Tote? Unser Land ist immer noch krank von diesen
Verlusten, denn das sind 30 Millionen Witwen, Vaterlose,
Mütter, die ihre Kinder verloren haben, das ist eine
große Zahl an Kriegsinvaliden. Das sind verwüstete
Dörfer, die nie wieder aufgebaut wurden. All das ist immer
noch in unserem Leben präsent. Genauso wie die Lüge
über den Krieg, die immer noch existiert. Deshalb ist
Erzählen über den Krieg heute vor allem ein Duell mit der
Lüge.
Das Interview führte Elena Stepanowa
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