|
 |
Johannes Varwick
Das Fenster für Reformen ist offen
Die Strukturen und Verfahren der Vereinten
Nationen entsprechen nicht mehr der Realität
Wenn es in der internationalen Politik so etwas
wie ein "Fenster der Gelegenheit" gibt, dann könnte dieses
Fenster derzeit vergleichsweise weit offen stehen. Denn es besteht
weitgehender Konsens darüber, dass die Organisation der
Vereinten Nationen (UNO) reformiert werden muss, weil Strukturen
und Verfahren nicht mehr den weltpolitischen Realitäten
entsprechen. Insbesondere in Folge des Irak-Krieges 2003/2004 und
der damit sichtbar gewordenen Machtlosigkeit der Weltorganisation
hat die Reformdebatte an Intensität zugenommen, und auch die
Umsetzungschancen haben sich verändert.
UN-Generalsekretär Kofi Annan hat
seitdem bei ungezählten Gelegenheiten an die Mitgliedstaaten
appelliert, die Regeln und Institutionen der UNO einer
grundlegenden und umfassenden Reform zu unterziehen. Die
Weltgemeinschaft stehe an einer Weggabelung, die nicht weniger
entscheidend als die Gründung der UNO im Jahre 1945 sei. Im
März 2005 hat Annan - nach intensiver Beratung durch
verschiedene Expertengremien - einen Reformplan vorgelegt, der die
umfassendste Reform der Vereinten Nationen in ihrer Geschichte zum
Ziel hat. Der Bericht muss nun in den Mitgliedstaaten sowie im
Herbst 2005 in der UN-Generalversammlung diskutiert werden. Noch
ist offen, ob er das Schicksal zahlreicher UN-Reformpapiere ereilt
und allenfalls für Politikwissenschaftler von Interesse ist,
oder ob er politische Bedeutung erhält und seine zahlreichen
Ideen aufgegriffen und umgesetzt werden.
Die Reformagenda ist ebenso lang wie komplex.
So spiegelt der Sicherheitsrat mit seinen bisher fünf
ständigen Mitgliedern (China, Frankreich, Großbritannien,
Russland, USA) nicht mehr die weltpolitischen Machtkonstellationen
des 21. Jahrhunderts wider, das Völkerrecht muss den neuen
Bedrohungsformen angepasst werden, die zahlreichen
Sonderorganisationen und Spezialorgane der UNO haben sich zu einem
undurchschaubaren Konglomerat entwickelt, das dringend gestrafft
werden muss, und schließlich muss über die
Prioritätensetzung im Spannungsfeld zwischen
Friedenssicherung, Stärkung der Menschenrechte,
Armutsbekämpfung und Schutz der globalen Umwelt entschieden
werden. Unabhängig davon muss jede Reformdebatte mit einer
Analyse der globalen Herausforderungen und der Beantwortung einiger
grundlegender Fragen nach der Ordnung des internationalen Systems
beginnen: Bis zu welchem Grad kann den Staaten die Erosion ihrer
Souveränität zugunsten kollektiver Mechanismen zugemutet
werden? Inwieweit halten sich die Staaten an gemeinsam verabredete
Beschlüsse und in welchem Maße ist deren Verletzung,
Missachtung oder mangelnde Unterstützung hinnehmbar? Wie
können Macht und Recht in ein ausgewogenes Verhältnis
zueinander gebracht und widerstreitende Interessen in konstruktiver
Weise ausgeglichen werden?
Auf diese Fragen lassen sich freilich
verschiedene Antworten formulieren, die dann jeweils
unterschiedliche Konsequenzen für die daraus ableitbare Rolle
der UNO in der internationalen Politik haben. Einerseits wird ihr
lediglich eine untergeordnete Rolle beigemessen, und
Reformbemühungen sollen sich darauf beschränken, die
Effizienz der Organisation in den Bereichen zu erhöhen, in
denen sich die Mitgliedstaaten einig sind, dass sie die UNO als
Forum, Akteur oder Instrument nutzen wollen. Andererseits werden
hohe Erwartungen an die UNO gestellt, die bis hin zu der Hoffung
reichen, mit Hilfe der UNO ein internationales Milieu zu formen
beziehungsweise zu stabilisieren, in dem Konflikte nicht mit Gewalt
gelöst werden und die Zusammenarbeit zwischen Staaten norm-
und regelgeleitet abläuft.
Viel gewonnen wäre bereits, wenn sich
die Mitgliedstaaten in den Politikbereichen, in denen gemeinsamer
Handlungsbedarf definiert wurde, intensiver engagierten. Einer
dieser Bereiche ist das System der Friedenssicherung. Noch ist
offen, ob die Vereinten Nationen hier Relevanz behalten oder ob sie
bei den neuen Kriegs- und Bedrohungsformen völlig an den Rand
gedrängt werden. Die der sicherheitspolitischen Strategie in
der Zeit des Ost-West-Konflikts zugrunde liegende Philosophie der
Abschreckung funktioniert jedenfalls unter den neuen Gegebenheiten
nicht mehr ohne weiteres. Zudem sind die Grenzen des
Selbstverteidigungsrechtes - dem gemäß UN-Charta neben
der vom Sicherheitsrat auf Grundlage von Kapitel VII sanktionierten
Gewaltanwendung einzige Fall legitimer Gewaltanwendung - unscharf
geworden. Einige Staaten sind der Auffassung, dem Sicherheitsrat
müsse auch in der Praxis eine Art
"Gewaltlegitimierungsmonopol" zukommen. Andere Staaten sehen
negative Folgen, wenn in jedem Fall auf die Sanktionierung von
Gewaltanwendung durch den Sicherheitsrat bestanden wird. So sind
durchaus Fälle vorstellbar, in denen er aufgrund von - nicht
zwangsläufig rationalen - Vetodrohungen blockiert ist, aber
dennoch unmittelbarer Handlungsbedarf besteht.
Voraussetzung für die Akzeptanz der
Sicherheitsratsentscheidungen ist auch eine ausgewogenere
Zusammensetzung. Alle Reformpläne sehen deshalb eine
Aufstockung von 15 auf 24 Mitglieder vor. Allerdings bleibt
umstritten, ob es neue ständige Mitglieder geben (im
Gespräch sind Deutschland, Brasilien, Japan, Indien und ein
afrikanischer Staat) und ob diesen wie den alten ständigen
Mitgliedern ein Vetorecht zugebilligt werden soll. Die
institutionellen Hürden für einen Beschluss darüber
sind und bleiben gleichwohl derart kompliziert, dass es mehr als
ungewiss ist, ob tatsächlich im Herbst darüber
entschieden werden kann.
Zudem wird intensiv diskutiert, das
Völkerrecht im Lichte der neuen Bedrohungen fortzuentwickeln.
Denkbar wäre, etwa darüber zu entscheiden, wo die
Toleranzgrenze bei der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen,
der Unterstützung des internationalen Terrorismus oder aber
auch der systematischen Verletzung von Menschenrechten liegt. Es
müsste dann ein nachvollziehbarer Kriterienkatalog entwickelt
werden, bei dem ein Eingreifen der Staatengemeinschaft
gerechtfertigt sein kann. Solche Definitionsversuche sind mit
zahlreichen Schwierigkeiten verbunden, und es ist zudem eher
unwahrscheinlich, dass es gelingen wird. Die Alternative ist aber,
den Status quo zu erhalten, der ebenfalls unbefriedigend ist. Auch
der Bereich Menschenrechtsschutz gehört zu den Bereichen, die
reformiert werden sollen. Kern der Vorschläge des
Generalsekretärs ist die Einrichtung eines Menschenrechtsrats,
der die ineffektive Menschenrechtskommission ablösen soll.
Zudem sollen endlich eine Konvention gegen Terrorismus
verabschiedet werden und ein wirksames Vorgehen zur Bekämpfung
von Armut und Unterentwicklung beschlossen werden. Dazu zählt
auch das Einfordern der Jahrzehnte alten Verpflichtung der
Industriestaaten, 0,7 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für
Entwicklungshilfe zur Verfügung zu stellen.
Multilaterale Zusammenarbeit im Rahmen der
Vereinten Nationen ist oft mühsam, ineffektiv und zeitraubend.
Einerseits ist bei bestimmten Problemkonstellationen (etwa in
Fragen der Weltumweltpolitik) unstrittig, dass nur ein
multilateraler Ansatz Erfolg versprechend sein kann. Andererseits
sind andere Problemkonstellationen offensichtlich multilateral
nicht immer effektiv zu bearbeiten. Hier gilt es, jenseits von
"wishful thinking" eine nüchterne Bestandaufnahme vorzunehmen
und die UNO nicht zu überfordern oder gar von ihr Leistungen
zu verlangen, die sie nicht erbringen kann. Die besondere
Qualität der UNO liegt darin, dass sie unterschiedliche
Bereiche miteinander verbindet und sich "neuen und alten", "harten
und sanften" Bedrohungen stellen kann. Damit wird versucht,
traditionelle Elemente des Sicherheitsbegriffs mit der
Gewährleistung von Menschenrechten, dem Recht auf Entwicklung
sowie dem Recht auf eine lebenswerte Umwelt zu verbinden. Diese
Verknüpfung im Rahmen einer universalen Organisation bietet
enorme Chancen, es sind aber auch - jenseits von überzogenem
UN-Enthusiasmus und undifferenzierter Fundamentalkritik - die
Grenzen zu beachten.
Die Weltorganisation war in ihrer Geschichte
stets abhängig von den wechselhaften politischen Konjunkturen
für multilaterale Zusammenarbeit, und der Reformprozess
dürfte sich auch weiterhin vornehmlich in kleinen Schritten
vollziehen. Die Chancen für einen "großen Wurf" beim
Thema UN-Reform sind mithin insgesamt gering, und die
Weltorganisation dürfte auch zukünftig nicht in der Lage
sein, die hochgesteckten Erwartungen zu erfüllen. Zu
unterschiedlich sind die Vorstellungen in den Mitgliedstaaten
darüber, was die Organisation in welchen Politikfeldern
leisten und wie intensiv sich ihres Instrumentariums bedient werden
soll.
Das "Fenster" ist also nicht so weit
geöffnet, wie es sich die Befürworter einer umfassenden
Reform wünschen mögen. Der anhaltende Reformbedarf sollte
aber nicht den Blick dafür verstellen, dass die
Weltorganisation für die Stabilität des internationalen
Systems unverzichtbar ist. Sie hat sich, trotz aller Zeichen von
Schwäche in den vergangenen Jahren, als eine Institution
erwiesen, mit der flexibel auf neue (und alte) Herausforderungen
reagiert werden kann. Es kommt wie so oft darauf an, was die
Mitgliedstaaten aus diesem Rahmen machen.
Professor Johannes Varwick arbeitet am Institut für Politische
Wissenschaft der Christian-Albrechts-Universität zu
Kiel.
Zurück zur Übersicht
|