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Das Parlament
Nr. 41 / 10.10.2005

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Cyrus Salimi-Asl

Mit Tamerlan in die Zukunft

Nationenbildung in Zentralasien und dem Südkaukasus
Sie sind jung, sie sind unabhängig und haben fast alles, was sie brauchen: die ehemaligen südlichen Sowjetrepubliken Kasachstan, Usbekistan, Aserbaidschan und Armenien. Seit 14 Jahren sind sie vier neue Nationen, die sich heute um die Festigung und Entwicklung ihrer souveränen Staaten kümmern müssen. Es sind keine "failed states" wie Irak oder Haiti, dafür funktionieren sie zu gut. Es gibt handlungsfähige Regierungen, Armeen, Eisenbahnen, Industrieanlagen, Telefonnetze, Bildungs- und Gesundheitssysteme, Zeitungen und Fernsehsender. Dafür hapert es aber mit demokratischer Legitimation der Machthaber und starken zivilgesellschaftlichen Gegenkräften. Und überall grassieren Nepotismus, Klientelismus, Personenkult und Korruption.

Kasachstan beispielsweise rangiert nach dem Korruptions-Index von Transparency International aus dem Jahr 2004 auf dem 122. Platz von 145 untersuchten Ländern, Aserbaidschan sogar auf dem 140. Platz. Zum Vergleich: Deutschland steht an 15. Stelle - was eigentlich auch schon schlimm genug ist.

Als die vier südlichen Sowjetrepubliken 1991 selbstbewusst ihre Unabhängigkeit erklärten, galt es zunächst zu improvisieren. Die Armenier konnten zumindest historisch auf ein antikes Königreich zurück-blicken. Nomadenvölker wie die Kasachen hingegen kannten nie einen eigenen Staat; und die Khanate Buchara, Kokand und Chiwa waren ebenfalls keine modernen Nationalstaaten. Wer in Zentralasien lebte, kannte keine Grenzen, sondern nur unendlich erscheinende Weite. Heute indes vermint Usbekistan seine Landesgrenzen, aus Angst vor wem? Kasachstan und Usbekistan treiben den Prozess der nationalen Identität am entschiedensten voran. Beide schufen Gründungsmythen, die die gegenwärtige Staatswerdung als historische Vollendung einer bereits in der Vergangenheit angeblich existierenden (Kultur-)Nation sehen.

Usbekistan hat kurzerhand ausgerechnet, oder bezeichnenderweise, Tamerlan (1336 - 1405) zum Nationalhelden erklärt. Der als blutrünstiger Tyrann verrufene Herrscher - bei der Eroberung der iranischen Stadt Isfahan sollen nach Angaben der Chronisten rund 70.000 Menschen massakriert und ihre Schädel zu Türmen aufgehäuft worden sein - gilt den Usbeken nun qua Verordnung als ihr Spiritus Rector. In Taschkent thront seine überlebensgroße Statue auf jenem Platz, auf dem sich einst Lenin und Stalin als überlebensgroße Standbildnisse vom Volk huldigen ließen.

Doch wie will man in Zentralasien "Usbekisches" von "Iranischem" oder "Arabischem" messerscharf trennen? Der für die Region typische Synkretismus speist sich aus Einflüssen verschiedener Kulturen: Iraner, Chinesen, Griechen, Araber, Türken, alle haben hier ihre Spuren hinterlassen. Tamerlan war mongolischer Abstammung, auch wenn er auf dem Gebiet des heutigen Usbekistans, in Shahrisabz, geboren wurde. Manche Kasachen machen nun sogar Dschinghis Khan den Mongolen streitig. Dass die wichtigsten "iranisch-tadschikischen" Städte Zentralasiens, Samarkand und Buchara, heute in Usbekistan liegen, ist ja lediglich Ergebnis der Stalinschen Nationeneinteilung in Zentralasien: Divide et impera!

Der Umgang mit Minderheiten spielt bei jeder Staatsgründung eine wichtige Rolle, insbesondere in Zentralasien, wo kein Staat ethnisch homogen ist: Russen und Usbeken leben in allen zentralasiatischen Republiken; Tadschiken in Usbekistan, Kasachen und Kirgisen im benachbarten China (Xinjiang) und Uiguren nicht nur in China, sondern auch in Kasachstan und Kirgistan.

Besser stehen Armenien und Aserbaidschan da, wo die Titularbevölkerung mehr als 90 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Das Staatsvolk ist also ethnisch fast deckungsgleich mit der Bevölkerung. In Usbekistan stellt die Titularnation immerhin noch über 80 Prozent der Bevölkerung, in Kasachstan jedoch gerade einmal knapp die Hälfte - bei rund 30 Prozent Russen, die vor allem im Norden und Nordosten des Landes leben.

Die kasachische Regierung war somit weitsichtig, als sie nach der Unabhängigkeit das Idealbild einer kasachstanischen Nation entwarf, in der sich alle Nationen wiederfinden sollten: Kasachen wie Russen, zwangsangesiedelte Wolga-Deutsche wie Ukrainer, Polen wie Uiguren. Doch die Realität sieht anders aus. Junge Russen sagen ganz offen, dass sie sich als Russen fühlen und nach Moskau blicken. Die Wolga-Deutschen haben in den vergangenen Jahrzehnten stets ihre Sonderrolle gelebt, insbesondere als aus Deutschland beträchtliche Zuschüsse flossen. Der Anteil beider Minderheiten ist indes dank einer stark anhaltenden Auswanderung beträchtlich gesunken. Von rund einer Million Wolga-Deutschen bei der Unabhängigkeit vor 14 Jahren sind etwa nur noch 300.000 im Land geblieben; Tendenz fallend.

Die propagierte "Kasachstanisierung" läuft letztlich auf eine kaum verhüllte Kasachisierung hinaus; in den Schlüsselpositionen sind in den vergangenen Jahren systematisch Russen gegen Kasachen ausgewechselt worden - auch weil viele Elite-Russen das Land verlassen haben. Unter Polizisten und Soldaten sind Angehörige der russischen Minderheit selten geworden. Mit der Durchsetzung der kasachischen Sprache als Hauptsprache sind viele Minderheiten, die des Kasachischen nicht mächtig sind, von zahlreichen Posten schlichtweg ausgeschlossen. Auf die Sprache als Symbol nationaler Unabhängigkeit und Selbstbestimmung legen die neuen unabhängigen Staaten freilich ein besonderes Augenmerk für ihre Identitätsstiftung. In Armenien und Aserbaidschan enthielten dagegen schon die Sowjetverfassungen einen Passus, der die Sprachen der Titularnation zur Staatssprache erhob.

Deutlicher Ausdruck dieser Politik, mit der sowjetischen Vergangenheit zu brechen, ist die Änderung von Orts- und Straßenbezeichnungen. Kasachstans Hauptstadt Astana hieß früher Zelinograd. Der Lenin-Prospekt in Almaty nennt sich heute Freundschafts-Prospekt (Dostyk auf Kasachisch). Präsident Nasarbajew hat die massive Umbenennung in der Vergangenheit kritisiert, weil dies ein Grund dafür wurde, die russische Minderheit zur Ausreise zu veranlassen. Heute munkeln die Kasachen, dass die zentrale Almatiner Furmanow-Straße, die auffälligerweise noch immer den Namen eines sowjetischen Funktionärs trägt, für Nasarbajew selbst reserviert sei.

"Die Identitätsfrage ist ganz wichtig für die innere Stabilität der neuen unabhängigen Staaten", meint auch Wulf Lapins, zuständig für Zentralasien und den Südkaukasus bei der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES). Dass die Territorien der Staaten nicht klar voneinander abgegrenzt sind und sogar ihre Integrität auf dem Spiel stehe, schwäche die jungen Republiken, zumal sie keine Anbindung an historische Vorbilder moderner Nationalstaatlichkeit haben, wie beispielsweise die baltischen Staaten.

Die sowjetische Grenzziehung führte zu kuriosen Ergebnissen: So ist das Batken-Gebiet (Oblast) in Kirgistan durchsetzt mit sieben Enklaven, die zu Usbekistan und Tadschikistan gehören; die Straße von Taschkent nach Samarkand läuft 40 Kilometer über kasachisches Territorium. Lapins sieht auch das regionale Umfeld nicht eben positiv, mit Nachbarn wie Russland, China oder Iran, die für das Gegenteil von Demokratie und Rechtstaatlichkeit stehen. "Die Balten hatten Paten wie Polen oder Finnland, die ihnen geholfen haben beim Transformationsprozess", ergänzt Lapins.

Stabil ist Aserbaidschan mit Sicherheit, nicht zuletzt dank seines verstorbenen "Monarchenpräsidenten" Heidar Alijew, der 2003 von seinem Sohn Ilcham beerbt wurde. Heidar Alijew drängte den Einfluss der Armee zurück, handelte im Nagorno-Karabach-Konflikt den Waffenstillstand mit Armenien aus und öffnete das Land ausländischen Investoren. Die Erdölstadt Baku boomt, doch der Großteil der Bevölkerung lebt weiter in Armut. Alijew sorgte auch für innere Sicherheit: Nach offiziellen Zahlen des Innenministeriums ist die Verbrechensrate von 1992 bis 1998 um 36 Prozent gefallen.

In der Außenpolitik korrigierte Alijew den extrem pro-türkischen Kurs seines Vorgängers Elchibey. Ohne die USA als strategischen Partner aufzugeben, setzt sein Sohn Ilcham nun verstärkt auf gutnachbarschaftliche Beziehungen zu Russland und Iran. Immerhin ist fast ein Viertel der 70-Millionen-Bevölkerung Irans Aseri, ein Großteil lebt rund um die Stadt Täbris. Alijew möchte die Iraner, die sehr gute Beziehungen zu Armenien pflegen, im Nagorno-Karabach-Konflikt zumindest ein Stück weit auf die eigene Seite ziehen. Religiöser Einfluss aus dem Iran ist durch die Annäherung nicht zu befürchten. Aserbaidschan gibt sich betont säkular. Untersuchungen belegen, dass 90 Prozent der Bevölkerung die Politik von jedwedem religiösen Einfluss freihalten wollen.

Der Einfluss radikal-islamischer Gruppen auf die politische Stabilität kann sowohl für Zentralasien als auch für Aserbaidschan als gering eingestuft werden. Islamistische Gruppen wie die "Islamische Bewegung Usbekistans" (IMU) oder die in ganz Zentralasien aktive "Hizb-ut-Tahrir" (HT) haben viel von ihrer Stärke und Anziehungskraft verloren. Die IMU gilt heute praktisch als zerschlagen, nachdem ihre Anführer Tohir Juldaschew und Dschumaboi Namangani mutmaßlich ums Leben gekommen sind. Die HT hat zwar viele Sympathisanten, vor allem in Usbekistan, aber die Idee eines zentralasiatischen Kalifats hat sich nicht als Magnet erwiesen. Die aus dem Nahen Osten (gegründet 1953 in Jordanien) importierte Bewegung verfügt über keine konsistente soziale Basis und wird praktisch überall von den Behörden verfolgt. Großzügige Schätzungen gehen von einer Mitgliederzahl von 10.000 Personen in ganz Zentralasien aus.

"Der Islam stellt keine Gefahr für die Region dar", bestätigt Wulf Lapins. Er könne ein Problem in Usbekistan werden, aber die Gefahren durch den so genannten radikalen Wahabismus werden seiner Meinung nach "überschätzt und instrumentalisiert". Usbekistans allmächtiger Staatspräsident Islam Karimow weist den Westen seit Jahren auf die Gefahren hin, die der Region durch islamistische Strömungen drohten. Die USA und amerikanische Think-Tanks haben diese Sichtweise in weiten Teilen übernommen und reden bisweilen vom "Kampf um die Köpfe" und der Bedrohung amerikanischer Interessen durch radikal-islamische Kräfte.

Armenien muss sich erst noch aus einer beträchtlichen Isolation befreien. Das Land hat weder Zugang zum Schwarzen noch zum Kaspischen Meer und ist in der Region politisch blockiert: im Westen von der Türkei, die ihre Grenzen zu Armenien geschlossen hält, im Osten von Aserbaidschan. Wichtigster strategischer Verbündeter und größter Handelspartner bleibt Russland. Im Süden hat sich der Iran als zuverlässiger Partner erwiesen. Präsident Kotscharjan und seine Machtelite stützen sich vor allem auf die engen Beziehungen mit Moskau; die Demonstrationen vom Frühjahr 2004 waren keine Gefahr für die politische Stabilität, zeugen aber von der Unzufriedenheit der Bevölkerung über soziale Ungerechtigkeit, Korruption und Misswirtschaft. Dabei gilt Armenien der Europäischen Entwicklungsbank (EBRD) als das das fortgeschrittenste Land der GUS bei den Marktreformen. Die geographische und politische Isolation bremst jedoch das Wachstum. Dazu macht sich der negative Einfluss der US-Politik in Armenien bemerkbar: Ein armenisches Chemieunternehmen wurde von US-Sanktionen betroffen, weil es in den Iran exportieren wollte. Die USA missbilligen auch den Bau einer Gas-Pipeline vom Iran nach Armenien, die Ende 2006 fertig sein soll. Dennoch sucht Armenien eine engere Bindung an die USA, um sich aus der Abhängigkeit von Russland zu lösen, und liebäugelt ebenso wie Aserbaidschan sowohl mit dem EU- als auch mit dem NATO-Beitritt.

Als kontraproduktiv erweist sich das amerikanische Bestreben, den Einfluss Irans einzudämmen und eine Achse Moskau-Teheran zu verhindern. Dabei sind Russland und der Iran die einzigen beiden Staaten, die sowohl an den Südkaukasus als auch an Zentralasien grenzen, also natürlicherweise an stabilen politischen Verhältnissen und gutnachbarschaftlichen Beziehungen interessiert sind. Eine amerikanische Politik, die darauf abzielt, den Iran zu isolieren, Chinas wachsenden Einfluss zurückzudrängen und Russlands Rolle einzunehmen, zwingt Kasachstan wie Usbekistan, Armenien und Aserbaidschan zu einem komplizierten Spagat - mit zum Teil negativen Auswirkungen auf die Innenpolitik. Der Schulterschluss der USA mit Usbekistan ist ein beredtes Beispiel: Gedeckt durch den "Kampf gegen den Terror" konnte Präsident Karimow sein repressives Regime weiter festigen.


Cyrus Salimi-Asl ist Orientalist bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Berlin.

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