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Das Parlament
Nr. 41 / 10.10.2005

 
Bundeszentrale für politische Bildung
 

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Barbara Minderjahn

Chauvinismus und Clanstrukturen

Georgien: Aus dem Land der Rosenrevolution

Um zu erklären, wie ihr Land entstanden ist, erzählen die Georgier gerne folgende Legende: "An dem Tag, als Gott das Land an die Menschen verteilte, kamen die Georgier zu spät. Zuerst zürnte ihnen der Herr. Doch dann begannen die Georgier zu feiern. Ihr Wein, ihre Fröhlichkeit und ihr Gesang versöhnten Gott, und er schenkte ihnen das Land, das er sich selbst vorbehalten hatte." Georgien - ein Paradies auf Erden? Die Realität sieht ernüchternder aus. In dem kleinen Kaukasusstaat leben viele Menschen seit Jahren in Armut. Die Infrastruktur des Landes, das heißt die Straßen, die Gas-, Strom- und Wasserversorgungssysteme und die Häuser verrotten zusehends.

In den Städten sind ganze Häuserzeilen vom Einsturz bedroht. Das historische Zentrum von Tiflis hat die Regierung in den letzten zwei Jahren zwar etwas aufpoliert. Der Rustaveli, die Prachtstraße der Hauptstadt, wurde erst vor kurzem neu asphaltiert, die öffentlichen Gebäude und die alten Geschäfte renoviert. Doch abseits der Vorzeigemeile verfällt der einstige Glanz weiter, und auf dem Land sieht die Lage noch schlimmer aus. Schlaglöcher und tiefe Furchen erschweren die Fortbewegung auf den Hauptverkehrsstraßen, so dass manche Orte selbst im Sommer nur noch mit Geländewagen erreichbar sind. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Konflikte und Auseinandersetzungen zwischen den ethnischen und politischen Minderheiten des Landes. Sowohl in Abchasien, einer Region im Nordwesten des Landes, als auch in der östlich davon gelegenen Provinz Südossetien herrscht nach wie vor ein latenter Bürgerkrieg. Der Staat kontrolliert nur ein Teil des von ihm beanspruchten Territoriums. Kriminalität und bewaffnete Gangs machen sich breit.

Auslöser für Georgiens Misere war das Ende der Sowjetunion. Als der Macht- und Steuerungsapparat im Kreml zusammenbrach, kollabierten auch die Wirtschaftsstrukturen in der gesamten Region. Der Staat, der jahrelang die Produktion, den Verkauf und die Warenlogistik kontrolliert hatte, hörte damals von einem auf den anderen Tag auf zu existieren, und es gab niemanden, der ihn so schnell ersetzen konnte. In dieser Situation begann ein Verteilungskampf um Macht, Geld und Einfluss, der bis heute die Grundlage für Armut, Bürgerkrieg und Kriminalität legte. Doch mittlerweile sind rund 15 Jahre vergangen. Warum bekommt Georgien die Probleme noch immer nicht in den Griff? Boris Chochiev, Minister für besondere Angelegenheiten der autonomen Region Südossetien, sieht es so: "Georgien hat es doch als Staat nie gegeben. Das war doch teilweise Bestandteil des russischen Reiches. Und auch jetzt gibt es Georgien als Staat im eigentlichen Sinne nicht mehr. Georgien, das ist heutzutage Tiflis, Kutaisi und der zentrale Teil des Landes. Aber bald wird alles vollständig auseinander fallen."

Abspaltungsversuche

Boris Chochievs Einschätzung ist höchst brisant und politisch motiviert. Die Südosseten wollen sich ja gerade von Georgien abspalten und suchen nach einer Legitimation für ihre politische Absicht. Dennoch steckt hinter der Äußerung eine ernstzunehmende Frage, nämlich die nach dem Verhältnis zwischen Bürger und Nation. Die Südosseten und Abchasen sind in dieser Hinsicht Extremfälle - sie betrachten sich nicht als Georgier und wollen eine eigene Nation gründen. Aber auch bei den anderen Georgiern ist das Nationalgefühl nur auf einer oberflächlichen Ebene ausgeprägt. Sie betonen zwar oft, wie sehr sie ihr Land lieben und wie stolz sie auf alles sind, was georgisch ist - Wein, Gesang, ihre Sprache, die wunderschöne Landschaft, selbst das verschmutzte Leitungswasser schmeckt angeblich besser als an jedem anderen Ort. Aber die Menschen definieren sich nicht als Georgier, also als Bevölkerung eines gemeinsamen Staates, sondern vor allem als Swanen, Kacheten, Samegrelen, Imereten oder noch kleinteiliger als eine Familie aus Kutaisi, Batumi, Gori oder Mestia. Der eigene Clan, das heißt die Familie, die Verwandten und die Freunde sind dementsprechend wichtiger als die Nation.

Diese Haltung macht es schwer, ein funktionierendes Staats- und Wirtschaftssystem aufzubauen. Als der Rustaveli in Tiflis Anfang des Jahres neu geteert werden sollte, musste die Regierung den Boulevard mit Bussen abriegeln, damit niemand auf die Baustelle fährt. Einfache Straßenschilder oder Absperrungen hätten nicht gereicht. Die Menschen hätten sogar über den Bürgersteig versucht, auf die Fahrbahn zu gelangen, nur um ihren gewohnten Weg nutzen zu können. Ob die Straße dadurch noch vor Fertigstellung wieder zerstört worden wäre, hätte nur wenige interessiert. So muss der Staat ein Vielfaches der Anstrengung aufbringen, um auch nur kleine Fortschritte zu erzielen. Oft gelingt es ihm nicht. Wie sollen Politiker beispielsweise ein unabhängiges Rechtswesen durchsetzen, wenn die Mehrheit der Bevölkerung dieses Rechtssystem nicht respektiert, wenn viele in Streitfällen gar nicht erst zum Gericht gehen, sondern die Probleme lieber direkt - durch Bestechung oder per Faustrecht - lösen und sich niemand dagegen wehrt? Oder wie will ein Richter einen Sachverhalt klären, wenn selbst die Klägerseite bei der Verhandlung nicht vor Gericht erscheint? Die Beispiele sind vielfältig. Egal ob beim Recht, im Gesundheitssystem, beim Umweltschutz oder in der Wirtschaft - ein Gemeinwohl lässt sich nur dann etablieren, wenn auch die Bürger dafür kämpfen. Doch sowohl das Vertrauen in die staatlichen Institutionen als auch der nationale Gemeinschaftssinn sind nicht besonders ausgeprägt, und das hat auch traditionelle Gründe.

Auf dem heutigen Gebiet Georgiens lebten schon seit Jahrtausenden unterschiedliche ethnische und religiöse Bevölkerungsgruppen und verschiedene Groß- und Kleinfürsten mal mehr, mal weniger friedlich zusammen. Schon damals kämpften die Angehörigen dieser Clans um Einfluss, Macht, Reichtum und Besitz. Zwar gab es auch damals schon Zeiten, in denen Georgien von einem einheitlichen Staatswesen regiert wurde. Doch in anderen Epochen zerfiel das Gebiet wieder in getrennte Herrschaftsgebiete. Assyrische und uratische Chroniken erwähnen beispielsweise vor mehr als 3.000 Jahren das Diaochische Königreich im heutigen Ostgeorgien. Zwischen dem 6. und dem 4. Jahrhundert vor Christus blühte in Westgeorgien das legendäre Königreich "Kolchis". Zeitgleich entstand im Osten Georgiens das Königreich Iberien. Vereint wurden die Gebiete dann von einem Pontier namens Kwastele Ason. Und sein Nachfolger, der Iberer Parnawas, regierte 65 Jahre lang einen Staat, der den größten Teil des heutigen Georgiens umfasst.

Die Idee, Georgien als bürgerliche Nation zu begreifen, kam erst im 19. Jahrhundert auf und zwar just zu der Zeit, als Russland das Land besetzt hatte. Reiche georgischen Familien schickten damals ihre Söhne an die europäischen Universitäten, wo sie mit dem Geist der Romantik, dem Liberalismus und dem Nationalismus in Berührung kamen. Es entstand eine intellektuelle Schicht, die ein nationales Selbstbewusstsein entwickeln und unter dem Motto "Heimat, Sprache und Glaube" die georgische Kultur wiederbeleben wollte. Doch den Georgiern blieb nicht viel Zeit, ihr Nationalgefühl zu entwickeln. Die Revolution von 1917 und die Errichtung der Sowjetunion beendete die kurze nationalstaatliche Epoche.

Balanceakt

Mehr als alles andere muss es dem jungen georgischen Staat heute also darum gehen, Bürgerengagement und verantwortungsvolles Nationalbewusstsein zu etablieren. Weil in Georgien viele Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten leben, darf er dabei allerdings die Grenze zum Nationalismus nicht überschreiten. Mit diesem Balanceakt tut sich der junge georgische Präsident Michail Saakaschwili schwer. Der Rosenrevolutionär hat es zu seinen Zielen erklärt, das Nationale in Georgien zu stärken. Vor anderthalb Jahren, kurz nach seiner Ernennung zum Präsidenten, tauschte er dementsprechend die alte Flagge gegen eine neue, mit nationalen Symbolen besetzte Fahne aus und führte eine bewegende Nationalhymne ein. Einige Monate später vertrieb er die korrupten regionalen Machthaber der autonomen georgischen Republik Adscharien und unterwarf die Region der staatlichen Kontrolle aus Tiflis. In diesem Sommer gründete er so genannte Sommercamps, in denen vor allem Jugendliche der armenischen, aserbaidschanischen, südossetischen, abchasischen und anderer Minderheiten georgisches Staatsbewusstsein und Respekt für die Vielfalt Georgiens erlernen sollten. All das soll der nationalen Einheit und dem Gemeinwohl dienen. Doch um Verantwortungsbewusstsein und bürgerliches Engagement für die Gemeinschaft zu entwickeln, brauchen die Menschen die Erfahrung, dass ihnen der Staat hilft und nicht schadet. Genau das Gegenteil befürchten aber viele in Anbetracht der jüngsten Maßnahmen. In der Regierungszeit von Michail Saakaschwili hat die staatliche Willkür weiter zugenommen und die demokratische Freiheit abgenommen. Journalisten beklagen sich über Repressalien, Gefangene über Folter. Gleichzeitig ist die Angst vor Unterdrückung bei den zahlreichen ethnischen und religiösen Minderheiten im Land gestiegen.

Die neue Flagge beispielsweise beinhaltet das Wappen der alten georgischen Herrscherfamilie und ist besetzt mit fünf roten Kreuzen. Doch elf Prozent der Georgier sind Muslime. Für sie ist das Kreuz nicht ein Zeichen von Gemeinsamkeit und Integration, sondern von Verfolgung ihres eigenen Glaubens. Auch die Sommercamps, die für viele Jugendliche eine willkommene Ablenkung von Armut und beengten Lebensverhältnissen darstellen, beobachten viele Eltern mit Sorge. In den Camps werden die Kindern nicht nur auf Georgien, sondern vor allem auch auf den Präsidenten und seine Anhänger eingeschworen.

Darüber hinaus sind sie militärisch straff organisiert und dienen, georgischen Zeitungen zufolge, zur Vorbereitung auf eine militärische Ausbildung. Falsche Wege aber führen zum falschen Ziel. Nationalismus könnte Georgien endgültig auseinander brechen lassen. Nation-Building muss auf Vertrauen in den gemeinsamen Staat fußen, nicht auf Chauvinismus oder gar illegitime Gewalt.


Barbara Minderjahn arbeitet als freie Journalistin in Köln bereist häufig Osteuropa.

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