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Hermann Glaser / Anke Martiny
Zwischen Kollaps und Epochenwende
Staaten und Gesellschaften müssen ihren
Fortbestand immer neu sichern - zwei Publikationen gehen diesem
Phänomen auf den Grund
Obwohl Jared Diamond bei seiner Frage nach dem
Untergang oder dem Überleben von Gesellschaften den
ökologischen Gründen mit Recht große Bedeutung
einräumt - der Ökozid könnte in der Gegenwart eine
wichtigere Rolle spielen als Atomkrieg und Krankheiten -, ist das
Buch durch eine vieldimensionale Betrachtungsweise bestimmt. Dass
diese stringent bei den vornehmlich behandelten 13 Kulturen und
Landschaften durchgehalten wird, zeigt allein schon das
erstaunliche Wissen des Autors, der nach rund 650 Seiten
Darstellung seinem Werk noch ein eng gedrucktes
Literaturverzeichnis von 27 Seiten anfügt.
Diamond zu seiner Zielsetzung: "Als ich mit
den Planungen für dieses Buch begann … hatte ich die
naive Vorstellung, es würde ausschließlich von der
Schädigung der Umwelt handeln. Schließlich gelangte ich
zu einem fünfteiligen Schema für die Faktoren, die an
solchen Ereignissen mitwirken, und in diesem Rahmen versuche ich
jetzt, mutmaßlich umweltbedingte Zusammenbrüche zu
verstehen. Vier meiner Faktoren - Umweltschäden,
Klimaveränderung, feindliche Nachbarn und freundliche
Handelspartner - können sich in einer bestimmten Gesellschaft
als bedeutsam erweisen oder auch nicht. Der Fünfte, die
Reaktion einer Gesellschaft auf ihre Umweltprobleme, ist immer von
Bedeutung."
Das Zitat deutet an, dass der Leser auf
zurückhaltende Weise in einen Diskurs eingebunden ist, der
einer Reise in vielfach unbekannte oder nur in mythischer Vagheit
bekannte Weltreligionen gleicht. Man wird nicht mit apodiktischen
Erkenntnissen überwältigt, sondern heuristisch zum Denken
angeregt.
Von zwei Bauernhöfen ist im "Prolog" die
Rede, viele tausend Kilometer auseinander. Der eine steht in
Montana in den USA und floriert; der andere befindet sich in
Normannisch-Grönland und ist eine Ruine, Zeugnis einer
längst untergegangenen Bevölkerung. Wie im Kleinen, so im
Großen: Australien ist ein lebendig-pulsierender Kontinent;
die Maya-Welt ein Totenreich.
Wann und warum erleidet welche Kultur ihren
Nieder- und Untergang und was sind die Voraussetzungen fürs
Überleben? Kann antizipatorische Vernunft, welche die Lehren
der Vergangenheit ernst nimmt, Fortdauer garantieren? Wie kommt es
zu falschen Entscheidungen? "Wie um alles in der Welt konnte eine
Gesellschaft (gemeint ist die der Osterinseln) so offenkundig
katastrophale Entscheidungen treffen, alle Bäume zu
fällen, auf die sie angewiesen war?"
Diamond sucht nach Antworten: "Erstens sieht
eine Gruppe ein Problem unter Umständen nicht voraus, bevor es
tatsächlich da ist. Zweitens nimmt die Gruppe das Problem
unter Umständen nicht wahr, wenn es bereits eingetreten ist.
Nachdem sie es dann wahrgenommen hat, versucht sie drittens unter
Umständen nicht einmal, eine Lösung zu finden. Und wenn
sie es schließlich zu lösen versucht, gelingt dies unter
Umständen nicht. Die Erörterung der Gründe für
falsche Entscheidungen und Gesellschaftszusammenbrüche mag
deprimierend erscheinen, sie hat aber eine ermutigende Kehrseite:
Entscheidungen können auch erfolgreich sein. Wenn wir
verstehen, warum Gruppen so häufig falsche Entscheidungen
treffen, können wir vor dem Hintergrund dieses Wissens
möglicherweise Kriterien aufstellen und diese als Leitfaden
für gute Entscheidungen nutzen."
In diesem Sinne will der Verfasser die
Menschen unserer Zeit für die Gefahren, die sie oft selbst
hervorrufen, sensibilisieren. Er will ihnen deutlich machen, dass
die Zukunft bei aller Verherrlichung von Innovationen in
überwiegendem Maße ein "Produkt" der jeweiligen
Vergangenheit, der Herkunft ist. Determinismus ist freilich nicht
angebracht, auch wenn die Menschen Naturkatastrophen, wie gerade
das Jahr 2005 zeigt, ziemlich hilflos aufgeliefert zu sein
scheinen. Vorsorgender Schutz vor Unbill gehört jedoch zu den
Möglichkeiten denkender Menschen, die sich eben nicht nur dem
Augenblick überantworten.
Jared Diamond, Professor für Geografie
an der Universität von Kalifornien, der auch auf dem Gebiet
der Anthropologie und Genetik tätig ist, äußert zu
Ende seiner eindringlichen Darstellung eine Reihe von Hoffnungen.
Ein wesentlicher Grund für seine Zuversicht sind die
Verflechtungen in der modernen globalisierten Welt. Die
Gesellschaften früherer Zeiten hätten weder
Archäologen noch Fernsehen gehabt.
Als die Bewohner der Osterinseln im 15.
Jahrhundert eifrig das Hochland ihrer übervölkerten Insel
abholzten, um landwirtschaftliche Plantagen anzulegen, konnten sie
nicht wissen, dass sich Tausende von Kilometern weiter östlich
und westlich sowohl die Wikingergesellschaft in Grönland als
auch das Khmer-Reich im Endstadium des Niederganges befanden, dass
die Gesellschaft der Anasazi einige Jahrzehnte zuvor
zusammengebrochen war, dass die klassische Maya-Gesellschaft noch
einige Jahrhunderte früher das gleiche Schicksal erlitten
hatte und dass es dem mykenischen Griechenland weitere 2.000 Jahre
zuvor genauso ergangen war.
Heute brauchen wir nur Fernseher oder Radio
einzuschalten oder Zeitung zu lesen, um zu sehen, zu hören
oder zu lesen, was vor ein paar Stunden in Somalia oder Afghanistan
geschehen ist. Dokumentarfilme und Bücher zeigten uns in
anschaulichen Einzelheiten, warum die Gesellschaften auf der
Osterinsel, bei den Maya und anderswo in historischer Zeit
zusammengebrochen sind.
"Wir haben also die Möglichkeit, aus den
Fehlern der Menschen an weit entfernten Orten und in weit
entfernter Vergangenheit zu lernen. Diese Möglichkeit hatte
keine frühere Gesellschaft auch nur annähernd in dem
gleichen Ausmaß. Dieses Buch habe ich in der Hoffnung
geschreiben, dass eine ausreichende Zahl von Menschen sich
dafür entscheiden wird, die Gelegenheit zu nutzen und es
anders zu machen." Pessimisten würden da freilich mit Schiller
sagen: "Ach, vielleicht, indem wir hoffen, hat uns ein Unheil schon
getroffen."
Jared Diamond
Kollaps. Warum Gesellschaften
überleben oder untergehen.
Aus dem Amerikanischen von Sebastian
Vogel.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2005; 704
S., 22,90 Euro
Deutsche Kassandra" und "Prophet der nackten Tatsachen" wird er
genannt - Meinhard Miegel, der 1939 in Wien geborene
Sozialforscher. Mit seinem neuen Werk macht er den Versuch, den vor
drei Jahren mit seinem Buch "Die deformierte Gesellschaft"
gelungenen Erfolg international auszuweiten. Seine Analyse ist
nicht erfreulich: "Für den Westen geht ein goldenes Zeitalter
zu Ende."
Beim Vergleich mit den Riesenvölkern in
China und Indien und mit den zahlenmäßig starken
Schwellenländern von Brasilien über die Philippinen bis
Nordafrika zeigen sich "viele hundert Millionen Menschen,
mehrheitlich jung, arm, gut ausgebildet, lebenshungrig und
begierig, zum Gipfel aufzusteigen". Im Westen hingegen "wenige
Hundert Millionen Menschen, mehrheitlich alt, reich, ebenfalls gut
ausgebildet, aber ein wenig lebensmatt und von einem langen
Aufstieg zum Gipfel ermüdet".
Miegel hat recht, dass hier gewaltige
Veränderungen eintreten werden. Auch die Gefahren durch die
bedrohte Umwelt, durch Terror und Drogen (inklusive Alkohol und
Nikotin) sind richtig gewichtet. Vielleicht stimmt ja auch seine
These, dass die westlichen Demokratien nichts mehr haben,
"wofür es sich zu sterben lohnt".
Aber bevor man dieser Folgerung zustimmt,
sollte man einige Dinge nennen, die das Buch nicht
berücksichtigt. Zu den ärgsten Bedrohungen für einen
fairen Interessenausgleich zwischen Nord und Süd, Reich und
Arm, Alt und Jung, Weiß und Schwarz oder Gelb, Mann und Frau
in einer globalisierten Wirtschaft gehört zum Beispiel, dass
durch Schwarzhandel mit Drogen jeder Art, mit Waffen, Menschen und
Organen vermutlich mehr illegal erwirtschaftetes Kapital auf dem
Weltmarkt im Umlauf ist, als der legale Handel ausmacht.
Das Wort Geldwäsche taucht bei Miegel
nicht auf, die Begriffe Währungsspekulation und Korruption nur
ganz am Rande. Als Fehlentwicklungen in den nationalen westlichen
Gesellschaften werden zwar mit allen Zeichen der Empörung
Diebstahl, Graffiti-Schmierereien, Vandalismus und Fresssucht
genannt - lauter "Armutsdelikte". Steuerhinterziehung,
Versicherungsbetrug, Wirtschaftskriminalität, Preisabsprachen,
Spekulation, Missmanagement durch Kumpanei, Korruption,
Käuflichkeit der Politik kommen aber entweder gar nicht oder
nur am Rande vor.
Ebensowenig wird die von den Kapitaleignern
bewusst betriebene, äußerst fragwürdige
"Verwechslung" von betriebswirtschaftlichen Gewinnen und
volkswirtschaftlichen Verlusten in unserer globalisierten Welt
problematisiert. Hier hätte das Wort eines konservativen
Sozialforschers besonderes Gewicht gehabt. Wenn es schon richtig
sein soll, dass die Unternehmen dort produzieren, wo es
kostengünstiger ist, welche Rolle hat dann die Politik, hat
der Staat, um mit den nun beschäftigungslosen Menschen
umzugehen? Stattdessen liest man vom Werteverfall in der Familie
und von neuer Bescheidenheit. Insgeheim hätte der Autor die
Frauen doch lieber wieder zuhause und in materieller
Abhängigkeit vom Alleinernährer.
"Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit",
die Grundwerte der Aufklärung und der französischen
Revolution, mit "Wachstum, Arbeit, Sicherheit" zu übersetzen
(S. 239) und nicht die Begriffe "Freiheit, Gerechtigkeit,
Solidarität" heranzuziehen, wie es selbst in den
Parteiprogrammen konservativer Parteien geschieht, ist eine
Tendenz, der entschieden widersprochen werden muss. Vielleicht muss
man dafür ja nicht sterben wollen, aber diese Werte
müssen, ohne zu wackeln, die Richtschnur für den
politischen Einsatz der "Völker des Westens" bleiben, an die
sich der Autor wendet. Wobei angesichts der pointierten Sichtweise
Miegels die Assoziation "Völker, hört die Signale" nicht
fern liegt. Ob das aber dieselben "Völker" sind?
Meinhard Miegel
Epochenwende. Gewinnt der Westen die
Zukunft?
Propyläen Verlag, Berlin 2005; 312
S., 22,- Euro
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