Harald Loch
Gelingt Europas Gelehrten die
Verständigung?
Eine neue Disziplin - die
Europawissenschaft
Das große Projekt, das unter dem Namen
"Europäische Union" gerade in letzter Zeit so viele Zweifel
aufgeworfen hat, bekommt eine theoretische Grundlage. Unter dem
Begriff "Europawissenschaft" hat sich seit einiger Zeit ein noch
recht diffuser Forschungszweig herausgebildet. Zum ersten Mal ist
jetzt ein Buch unter diesem Titel erschienen, dessen
ausdrücklicher Sinn in der Etablierung einer solchen
interdisziplinären Disziplin besteht.
Die Herausgeber Gunnar Folke Schuppert und
Ingolf Pernice von der Humboldt Universität Berlin sowie
Ulrich Haltern von der Universität Hannover haben gemeinsam
mit 18 weiteren Autoren einen bemerkenswerten Sammelband
veröffentlicht, in dem der Grundstein für diese neue
Wissenschaftsdisziplin gelegt und in dem sie auch argumentativ
begründet werden soll. Das Vorhaben geht davon aus, dass es
intensiver Grundlagenforschung bedarf, um Europa als Gegenstand und
als Herausforderung von Forschung gerecht zu werden.
Als zentrale Bestandteile werden hierbei
European Gouvernance und European Know-How formuliert. Vor allem
erscheint es mehreren Autoren erforderlich, die nationalstaatlichen
Denk- und Begriffskategorien zu überwinden. Es geht ihnen
allerdings auch in Europa um die Errichtung und Wahrung einer
Ordnung des effizienten und legitimen Regierens.
Aber die staatswissenschaftlichen Grundlagen
scheinen für dieses Europa, das nicht (nur) Staatenbund und
nicht (ganz) Bundesstaat ist und sein wird, nicht ausreichend. Die
"dritte Form" benötigt erst einmal einer umrisshaften
Beschreibung durch die Grund lagenforschung. In der Tat engen die
"klassischen Disziplinen" den theoretischen Ansatz hierfür ein
und verhindern wissenschaftliche Phantasie. So mögen sich auch
einige der Missverständnisse bei der Formulierung wie bei der
Ablehnung des Entwurfs für eine europäische Verfassung in
Frankreich und den Niederlanden erklären.
Grundlagenforschung
Gerade das Prozesshafte der europäischen
Integration ist für zeitgenössische Teilnehmer an diesem
Prozess nicht recht nachvollziehbar. Dieses Konstruktionselement
"Entwicklung" bedarf einer stabileren theoretischen Basis.
Grundlagenforschung ist keine Veranstaltung für das breite
Publikum. Ihre Erkenntnisse, so kontrovers sie im Rahmen dieser
neuen Disziplin auch diskutiert werden, fließen aber in die
angewandten Wissenschaften und in die Politik selbst. Solche
europäische Grundlagenforschung ist unentbehrlich für die
Anhebung des öffentlichen Diskurses auf ein Niveau, das der
Einzigartigkeit des Vorhabens gerecht wird.
Besonders erhellend sind solche
Beiträge, die den multidisziplinären Ansatz bereits in
sich selbst entwickeln (Jürgen Kocka, Hans Joas und Christoph
Mandry). Hier werden aus historischer, religionsgeschichtlicher,
rechtlicher und philosophischer Perspektive Begriffe und
Phänomene in einem offenen Diskurs behandelt, in dem der
Reichtum der historischen Entwicklung und die gegenseitige
Beeinflussung verschiedener Wertekataloge als Ursache dafür
benannt werden, dass nicht eine "bloße Addition von
Traditionssträngen die Gefahr eines
,Containerverständnisses' von Kultur
heraufbeschwört".
Gerade deshalb erfordert in der Geburtsstunde
der Europawissenschaft das Buch, das sich als ihre
Gründungsurkunde versteht, einen kritischen Blick, ob die
Fundamente groß und fest genug sind. Die Einwände richten
sich nicht gegen die vorzüglichen Beiträge. Es fragt sich
aber, ob das Gewicht des Institutionellen oder Historischen nicht
übermäßig ist.
Sicher kann man die Staatlichkeit der
Europäischen Union an den drei klassischen Kriterien messen,
ob ein Staatsvolk, ein Staatsgebiet und eine Staatsgewalt bestehen.
Aber es ist auch wichtig, wie sich die Menschen in Europa
verständigen, welche Sprachen sie sprechen, welche
Schriftzeichen sie verwenden. Oder: wie stehen eigentlich
Dänen oder Ungarn zu den Überseegebieten
Frankreichs?
Methodischer Kritikpunkt
Ein anderes Defizit besteht bei den
Problemen, die die klassische Volkswirtschaftslehre, verstanden als
Nationalökonomie, nicht lösen kann. Oder auch: Wie viele
hochqualifizierte Arbeitskräfte soll Europa für das
Inganghalten des Prozesses seiner Einigung, für das
Aufrechterhalten einer ordentlichen Gouvernance eigentlich
bereitstellen? Derartige Einwände betreffen den Kreis der im
interdisziplinären Diskurs zu beteiligenden Wissenschaften, um
diese neue Europawissenschaft nicht zu eng auszulegen.
Ein methodischer Kritikpunkt wiegt noch
schwerer: Ist eigentlich die Begründung einer
Europawissenschaft auf nationaler Basis möglich? Entsteht dann
nicht die "deutsche" Europawissenschaft und wachsen in anderen
Ländern andere heran, die dann erst später in einem
mühevollen Verständigungsprozess wieder ins Gespräch
kommen müssen?
Die verfassungs- und völkerrechtlichen
Beiträge des Buches sind aus kontinentaleuropäischer
Sicht geschrieben. Eine angelsächsische Betrachtung käme
sicher zu anderen Ansätzen. Die europäische
Grundlagenwissenschaft braucht eine europäische
Öffentlichkeit und einen europäischen Diskurs - die hat
es zuletzt im Zeitalter der Aufklärung gegeben. Der
deutschsprachige Sammelband "Europawissenschaft" stellt diese
europaweite wissenschaftliche Öffentlichkeit noch nicht her,
wird vielleicht einmal Bestandteil von ihr sein. Er zeigt aber bei
all seinen Qualitäten, dass er selbst das Problem des
partikularen Ansatzes nicht löst, sondern es eher
verschärft.
Gunnar Folke Schuppert, Ingolf Pernice und
Ulrich Haltern (Hrsg.)
Europawissenschaft.
Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
2005; 813 S., 78,- Euro
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