Lutz Mäurer
Deutschlands prekäre Mittellage als
politische Herausforderung
Heinz Brills geopolitische Analysen
Mitte August zeichnete sich ab, dass die ehrgeizigen Ambitionen
der Bundesregierung auf einen ständigen Sitz im
UN-Sicherheitsrat gescheitert waren. "Die wesentlichen Knackpunkte
sind die Interessen", räumte Außenminister Joschka
Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) im ARD-Morgenmagazin ein:
"Es gibt regionale Interessen, die alle zusammengeführt werden
müssen." Interessen im geographischen Raum bestimmen nach wie
vor die internationale Politik.
Diesem Thema widmet sich Heinz Brill seit Jahrzehnten. Der
Autor, der von 1978 bis 1997 beim Amt für Studien und
Übungen der Bundeswehr tätig war, hat der politischen
Klasse immer wieder die Bedeutung von Geopolitik vor Augen
geführt. Geopolitik definiert Brill als "die Lehre vom
Einfluss des geographischen Raumes auf die Politik eines
Staates".
Auch mit seinem neuen Buch, einer Sammlung von Analysen und
Aufsätzen von 1974 bis 2004, macht Brill die Bedeutung der
Geopolitik für die internationale Politik deutlich. Geopolitik
- der Begriff war einst durch Theorien der Nationalsozialisten wie
etwa die vom Lebensraum belastet. Dies habe sich lähmend auf
die deutsche Forschung in diesem so wichtigen Wissenschaftsfeld
ausgewirkt. "Hier wirkt Geopolitik als Reizwort und löst
Ängste aus." Brill weiter: "Obwohl gerade für Deutschland
aufgrund seiner prekären Mittellage in Europa die Geopolitik
von besonderem Interesse ist, gehören gegenwarts- und
zukunftsweisende geopolitische Analysen - ebenso wie das nationale
Interesse - zu den Tabubereichen und Denkverboten der Politik."
Schwerpunkt des Bandes ist Deutschlands geopolitische und
geostrategische Lage im Wandel. Brill schildert die
sicherheitspolitische Entwicklung der Bundesrepublik vor dem
Hintergrund der strategischen Doktrinen anderer
Großmächte wie Frankreich, USA und Großbritannien.
Ein entscheidender Faktor für die deutsche Sicherheitspolitik
war und ist seine gefährdete oder als gefährdet
angesehene Lage im Zentrum Europas. In der Zeit des Kalten Krieges
bedeutete dies: "Das deutsche Territorium erfüllte eine
Glacisfunktion. (...) Alle Mächte gedachten sich auf deutschem
Boden selbst zu verteidigen."
Das Ende dieses bedrohlichen Daseins als "Frontstaat" am Rande
des westlichen Bündnissses kam mit der Beilegung des
Ost-West-Konflikts. Deutschland ist von einer geopolitischen
Randlage wieder in eine Mittellage gerückt. Brill benennt
folgende geopolitischen und geostrategischen Merkmale, die sich aus
dieser Position ergeben und Grundlagen künftiger
sicherheitspolitischer Planungen sein sollten: "Zahlreiche
Nachbarn, Zwang zu Bündnissen, Transitland Nummer eins in
Europa, Nord-Süd- und Ost-West-Drehscheibe,
Weltwirtschaftsmacht mit hoher Abhängigkeit von den
Weltmärkten."
Der grundlegende Wandel europäischer Politik zwinge
Deutschland dazu, den geographischen und institutionellen Rahmen
seiner Sicherheitspolitik neu zu bestimmen. Diese wird in der
Politikwissenschaft oft als Balance zwischen drei Kreisen
beschrieben: einer atlantischen, einer europäischen und einer
nationalen Orientierung.
"Wenn auch die europäische Sicherheitsidentität
zunehmend an Bedeutung gewinnt, so wird man auf absehbare Zeit den
deutsch-amerikanischen Sicherheitsbeziehungen eindeutig
Priorität einräumen müssen", schreibt Brill, der
keine Zweifel an seiner kritischen Haltung gegenüber der
rot-grünen Außenpolitik lässt. Joschka Fischers
These, dass der Kern des Europagedankens nach 1945 die Absage an
das Prinzip der "balance of power", des europäischen
Gleichgewichtssystems und des Hegemonialstrebens einzelner Staaten
sei, widerspricht Brill: "Genau darum geht es, wenn auch die Mittel
bei der Interessenwahrnehmung sich geändert haben." Kein
Zweifel: Der Autor ist Anhänger der realistischen Schule der
Politikwissenschaft.
Neben dem Hauptthema Deutschland stellt der Autor weitere
geopolitische Faktoren in der internationalen Politik vor, darunter
Probleme der 80er-Jahre wie der NATO-Beitritt Spaniens oder der
Falkland-Krieg, aktuelle Fragen wie NATO-Osterweiterung,
Balkan-Krise oder die Debatte um die Thesen Huntingtons vom Krieg
der Kulturen.
Da Brills Sammelband Schriften aus mehreren Jahrzehnten
enthält, bleibt es nicht aus, dass sich Aussagen wiederholen
oder längst Überholtes vorgestellt wird. Dennoch ist die
Grundannahme des Autors zutreffend: Auch wenn in Zeiten der
Globalisierung der Stellenwert der Faktoren Raum, Entfernungen und
Grenzen schwindet, kann geopolitisches Denken helfen, Konzepte
für eine internationale Sicherheitspolitik zu erstellen und
sie den neuen weltpolitischen Anforderungen anzupassen.
Heinz Brill
Geopolitische Analysen.
Beiträge zur deutschen und internationalen
Sicherheitspolitik 1974-2004.
Biblio Verlag, Bissendorf 2005; 459 S., 34,- Euro
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