Sylvia Bräsel
Tradition und Moderne in einem geteilten
Land
Korea präsentiert seine Literatur als
Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse
In Korea kam es einer Sensation gleich, dass
Ende Juli erstmals ein Treffen von Schriftstellern aus beiden
Teilen Koreas in Pjöngjang sowie auf den für jeden
Koreaner heiligen Bergen Baek-du und Myo-hyang im Norden
stattfinden konnte. Der große Lyriker Ko Un und der bedeutende
Romancier Hwang Sok-yong, die seit Jahrzehnten mit selbstlosem
Einsatz den Glauben an die Einheit des Volkes und seine kulturellen
Traditionen beschworen hatten, gehörten zu den Initiatoren auf
südkoreanischer Seite. 60 Jahre nach dem Ende der japanischen
Kolonialherrschaft (1910 - 1945) und der Teilung Koreas versuchte
man, mit den Mitteln der gemeinsamen Sprache und literarischen
Tradition die Mauern der Ideologien etwas durchlässiger zu
machen.
Seit der ehemalige südkoreanische
Präsident Kim Dae-Jung mit seiner "Sonnenscheinpolitik" und
seinem Besuch im Norden im Jahre 2000 eine auch mit viel Geld
beförderte langsame Annäherung einleitete, hat es immer
wieder Rückschläge gegeben. Doch vertrauensbildende
Maßnahmen erweisen sich letztlich als zukunftsträchtiger
als ausgerufene "Achsen des Bösen". In diesem internationalen
Kontext, in dem die Koreafrage gesehen werden muss, hat die
Eröffnung eines Lesesaals des Goethe-Instituts in
Pjöngjang eine nicht zu unterschätzende
Bedeutung.
In der Öffentlichkeit ist wenig bekannt,
dass das diesjährige Gastland Korea auf immerhin 122 Jahre
offizielle Beziehungen zu Deutschland verweisen kann. Bereits am
26. November 1883 war der erste deutsch-koreanische Handels-,
Freundschafts- und Schifffahrtsvertrag unterzeichnet worden. Neben
Diplomaten wirkten Wissenschaftler, Experten, Kaufleute,
Missionare, Musiker, Lehrer, Ärzte und nicht zuletzt
Reiseschriftsteller bei der Annäherung beider Länder und
Kulturen mit. Für die Frühzeit der Beziehungen haben noch
heute in Korea geschätzte Persönlichkeiten wie Paul Georg
von Möllendorff, Karl Christian Gottsche, Carl Andreas Wolter
und Norbert Weber maßgeblich zu einem positiven
Deutschland-Bild beigetragen.
Zudem blieb die deutsch-koreanische
Beziehungsgeschichte durch die politische Zurückhaltung und
Neutralität Deutschlands auch während der japanischen
Okkupation des Landes relativ unbelastet. So erfolgte zum Beispiel
nie eine formale Anerkennung der japanischen Annexion Koreas von
deutscher Seite. Die aus Anlass des Korea-Jahres bei iudicium in
München erschienene kommentierte Neuherausgabe der
Reiseschilderungen "Korea" des Journalisten Siegfried Genthe - 100
Jahre nach der Erstveröffentlichung 1905 - dokumentiert diese
bemerkenswert weltoffene Sicht auf Korea in einer Zeit imperialer
Bestrebungen.
Im Jahre 1970 wurde zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und der Republik Korea ein
Kulturabkommen abgeschlossen, das wenig später in Kraft trat.
Die rund 30.000 Menschen zählende koreanische Gemeinde in
Deutschland ist ein nicht zu unterschätzendes Potenzial
für Annäherung und Verständigung.
Spricht man in Deutschland über Korea,
so wird aber auch das noch zu Leistende beim Kulturaustausch
deutlich. Zwar sind die deutsch-koreanischen Beziehungen insgesamt
gut und stabil - insbesondere, was den Transfer von Technologie und
Management betrifft. Während jedoch in Südkorea viele
prominente deutsche Autorinnen und Autoren von Goethe, Schiller,
Büchner, Günter Grass bis Christa Wolf und Martin Walser
übersetzt sind, fällt der Umkehrschluss nicht so
günstig aus. Eine stärkere Einbindung des ostasiatischen
Landes in die deutsche Kommunikations- und Literaturwissenschaft
wäre in diesem Sinne wünschenswert.
Dabei sollte eine
fächerübergreifende und dialogisch orientierte Arbeit
angestrebt werden. Vielleicht ist die wachsende Beachtung
südkoreanischer Filmproduktionen in Presse und Fernsehen ein
erster Schritt in diese Richtung. Denn es zeigt sich, dass sich
eine vorrangig emotionale Sympathie für das durch Bruderkrieg
und Teilung gezeichnete Korea ohne fundiertes Wissen rasch
verbraucht. Es ist eine Binsenweisheit, dass sich
Internationalität und Weltoffenheit im Sinne von Max Weber
nicht im Selbstlauf oder allein durch Beschwörung der
Vergangenheit herausbilden.
Für viele junge Deutsche sind die
Ereignisse des Koreakrieges und seine Folgen längst tote
Geschichte(n). Vor Jahrzehnten bewegten Schlagzeilen wie Stephan
Heyms Rückgabe aller US-militärischen Auszeichnungen aus
Protest gegen den Koreakrieg im Jahre 1952 die Öffentlichkeit.
Pablo Picasso schuf sein Gemälde "Massaker in Korea" und Peter
Weiß suchte noch in den 60er-Jahren in seinem Diskurs
über die Vorgeschichte des Befreiungskrieges in Vietnam einen
Vergleich mit dem Koreakonflikt.
Noch sind in Deutschland koreanische Autos
bekannter als koreanische Autoren. Es mangelt an Projekten und
Publikationen, die über punktuelle Analysen einzelner
Schwerpunkte hinausreichen. Oft bleiben übergreifende
historische oder politische Zusammenhänge gerade in der
breiten Presse ausgespart. Nicht selten prägen Kurzberichte
über das nordkoreanische Atomprogramm oder einseitige
Meldungen aus Ökonomie und Wissenschaft (Embryonenforschung)
das gegenwärtige Koreabild. Für einen umfassenden Dialog
zwischen den Kulturen bleibt noch manches zu tun.
Die Wahl Koreas als Schwerpunktland der
diesjährigen Frankfurter Buchmesse gibt erstmals die
Möglichkeit, sich umfassender über das Land, das mit
seiner dynamischen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen
Entwicklung Maßstäbe setzt, auch auf schöngeistigem
Gebiet zu informieren. Erfreulicherweise liegen inzwischen eine
Reihe von Übersetzungen koreanischer Literatur ins Deutsche
vor, die gelebten Alltag in Gegenwart und Geschichte thematisieren
und dialogische Strukturen über die Auseinandersetzung mit
"Menschheitsmustern" - Macht, Krieg, Frieden, Glück, Liebe,
Hass - auf verschiedenste Art und Weise dem fremdkulturellen Leser
zum Nachdenken anbieten.
Insbesondere den rührigen Verlagen
Pendragon in Bielefeld und Peperkorn in Göttingen ist es zu
danken, dass in den letzten zehn Jahren koreanische Literatur im
deutschsprachigen Raum in ansprechender Form vorgestellt werden
konnte.
Die "Edition Peperkorn" hat sich auf
Literatur, Kultur und Sprache konzentriert. So kann der
interessierte Leser hier Publikationen wie "Die Anfänge des
koreanischen Buchdrucks mit Metalllettern", "Der
Präventivkrieg Amerikas in Korea 1950" oder ein Lehrbuch
"Koreanisch für Anfänger" finden. Darüber hinaus
bietet der Verlag koreanische Lyrik, Epik und Dramatik (zum
Beispiel von Lee Kang-Baek und Oh Tae-Suk) in Übertragung an.
Gerade ist nach dem Band "Der Wächter der Wolke" eine weitere
Lyriksammlung des großen Poeten Kim Soo-Young (1921 - 1968)
"Jenseits des Rausches" erschienen.
Kim, der in einer politisch bewegten Zeit
gegen das autokratische Regime unter Syngman Rhee und später
gegen die Militärdiktatur von Park Chung-Hee anschrieb, wandte
sich mit einem bis dahin in Korea ungewöhnlichen
künstlerischen Sprachgebrauch gegen Mittelmaß und
Duckmäusertum. Konfuzianistische Traditionen galten nicht mehr
als unantastbar, und nicht selten wurde provokant mit Tabus
gebrochen. Diese künstlerische Aufarbeitung der Zeit, die an
eine intensive Beschäftigung mit westlichen Literaturen
gekoppelt war, beförderte auf spezifische Weise den Prozess
der koreanischen Identitätssuche.
Heute gilt Kim Soo-Young als bedeutender
Lyriker des Landes, der für viele Poeten der nachfolgenden
Generationen wie zum Beispiel Hwang Tong-gyu oder den bei abera
erschienenen Autor Hwang Chi-Woo zum Vorbild wurde. Der Anglist und
Lyriker Hwang Tong-gyu geht dabei in seinem Band "Windbestattung"
(Peperkorn) ganz eigene Wege, indem er auf Tradition baut und die
Moderne der Mega-Stadt Seoul - etwa die durch die rasche
Industrialisierung geschlagenen Wunden - in einer
künstlerischen Gratwanderung zwischen Leben und Tod zu orten
sucht. Zenbuddhistische Reflexionen, die als faszinierende
Momentaufnahmen oder Naturbilder einer Wanderung auf den Pfaden der
1000-jährigen Tempel und Klöster gelesen werden
können, lassen über den Sinn des Lebens jenseits von
Kulturgrenzen nachdenken.
Dagegen geben Romane wie "Der Platz" von Choi
In-Hun (Edition Peperkorn) oder "Menschen aus dem Norden, Menschen
aus dem Süden" von Lee Hochol (Pendragon) auf ganz andere
Weise interessante Einblicke in Geschichte und Erinnerungskultur.
Beide Bücher tragen deutlich autobiographische Züge. Die
Struktur des Nachdenkens, angeregt durch die Suche nach
Identität und Lebensräumen in der modernen
südkoreanischen Gesellschaft, treibt die Handlungen voran; sie
geben interessante Einblicke in Familienstrukturen und
entsprechende Denkmuster zwischen Nord und Süd in den letzten
50 Jahren.
"Was überwunden werden muss, soll
erzählt werden", könnte man als Motto für die
Literatur von schreibenden Frauen in Südkorea - zum Beispiel
Oh Jung-Hee - setzen. Die Edition "Moderne koreanische Autoren" bei
Pendragon ist inzwischen auf rund 30 Bände angewachsen und
präsentiert einen interessanten Querschnitt der Gattungen und
Generationen. Neben einem Band des sensibel die Prozesse zwischen
Mensch und Natur erkundenden Lyrikers Kim Kwang-Kyu ("Die Tiefe der
Muschel") wurden die Romane "Jugendjahre" und "Der entstellte Held"
des bekannten Autors Yi Munjol publiziert.
Besondere Verdienste hat sich der Verlag um
jüngerer Autorinnen erworben. Jo Kyung Ran ("Zeit zum
Toastbacken" und "Wie kommt der Elefant in mein Schlafzimmer") und
Eun Heekyung ("Ein Geschenk des Vogels") sprechen offen und bewusst
provokativ über Sexualität, Partnerschaft, Liebesverrat
und den Wunsch nach Gemeinsamkeit in einer modernen Stadt, die wie
"ein steinernes Meer" den Menschen seine selbsterschaffenen Grenzen
aufzeigt. In dem gerade auf deutsch bei Pendragon erschienenen
Roman von Eun Heekyung wird aus der Sicht eines
zwölfjährigen Mädchens ein vielschichtiges Bild der
koreanischen Gesellschaft der 60er-Jahre entworfen. Das Spiel mit
Episoden zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft fügt
sich zu einem Gedankenmosaik fern jeder Exotik und gerinnt
letztlich zu einer unerbittlichen Bestandsaufnahme menschlicher
Defizite.
Der Koreakrieg, die Teilung des Landes in der
Folge des Zweiten Weltkrieges und die damit verbundenen Probleme
für die Familien, ferner Militärdiktatur und Mechanismen
der Entfremdung in einer modernen Industriegesellschaft sind die
wichtigsten Themen der koreanischen Gegenwartsliteratur.
Der Süden des letzten noch geteilten
Landes auf der Erde, der sich mit dem Logo "Enter Korea"
selbstbewusst als Gastland in Frankfurt präsentiert, ist heute
eine führende Industrienation, die sich nach den
wirtschaftlichen Erfolgen nunmehr auch auf kulturellem Gebiet der
Weltöffentlichkeit vorstellen möchte. Die auf deutsch
vorliegenden Bücher bieten unterhaltsamen und vielschichtigen
Stoff zum Nachdenken. Verwiesen sei an dieser Stelle auf den schon
1996 erschienenen Band zur zeitgenössischen Literatur und
bildenden Kunst aus Korea, auf "die Horen" und die Gedichtsammlung
des bedeutenden Poeten Ko Un bei Suhrkamp (Nachauflage
2005).
Bereits im Juni 2000 konnte man diesen
inzwischen als Anwärter auf den Literatur-Nobelpreis
gehandelten Autor im Fernsehen an der Seite des damaligen
südkoreanischen Präsidenten in der nordkoreanischen
Hauptstadt Pjöngjang erleben. Der Schriftsteller war mit einer
offiziellen Delegation des Präsidenten Kim Dae-Jung - der wie
Ko Un für die Demokratisierung Südkoreas und eine
"Sonnenscheinpolitik" gegenüber dem Norden eintrat - zu den
vielbeachteten Annäherungsgesprächen nach Nordkorea
gereist. Mir blieb in Erinnerung, wie er in diesem hoffnungsvollen
Augenblick für das koreanische Volk sein Glas auf einen
Menschheitstraum erhob, der sein Leben geformt hatte: Friede,
Annäherung und Versöhnung mit dem verfeindeten Norden der
geteilten Heimat.
Kaum ein anderer Dichter des modernen Korea
hat sich seine Erkenntnisse so schmerzlich und kreatürlich
abgerungen wie Ko Un. Seine Werke sind bitter erstrittenen in Kunst
und Alltag. Ko Un personifiziert jüngste koreanische
Geschichte und Gegenwart. Sein Lebensweg liest sich wie eine in die
Geschichte des Landes eingeschriebene Odyssee. Unumstritten
gehört Ko Un zu den faszinierendsten
Künstlerpersönlichkeiten im modernen Südkorea.
Insbesondere sein Einsatz für Demokratie und Menschenrechte
machten ihn über die Grenzen seiner Heimat hinaus
bekannt.
Hat man das Glück, Ko Un persönlich
zu begegnen, ist man fasziniert von seinem Charme und der
Universalität seines Wissens, das in einen harmonischen
Gedankenaustausch einfließt. Seine natürliche
Weltläufigkeit erwächst aus Menschenbildung und tiefer
Einsicht in die Mechanismen menschlichen Seins. Eindringlich und
ohne jede Selbstdarstellung spricht er von Kunst und Politik.
Nationale und internationale Fragen verschmelzen dabei nicht selten
und eröffnen neue Sichtweisen auf zukünftige Aufgaben.
Vielleicht macht gerade diese Fähigkeit den Autor zu einem
universalen Poeten, der beim diesjährigen Poesiefestival
"Weltklang" im Juni auf dem Potsdamer Platz in Berlin seine
deutschen Zuhörer zu begeistern wusste.
Der Deutsche Taschenbuch Verlag
präsentiert aus Anlass der diesjährigen Buchmesse gleich
ein ganzes "Korea-Paket" mit den großen Romanen des
bedeutenden Romanciers Hwang Sok-yong ("Die Geschichte des Herrn
Han" und "Der ferne Garten"), mit der Neuauflage einer
Lyrik-Anthologie und einem repräsentativen Sammelband
"Koreanische Erzählungen". Der letztgenannte Band möchte
bewusst Brücken zwischen Ostasien und Europa
schlagen.
Die Sammlung vereint acht recht
unterschiedliche zeitgenössische Autorinnen und Autoren aus
Korea. Unter diesem Aspekt kann das Buch - das unter anderem
Erzählungen von Lee Hochol, Hwang Sok-yong, Kim Young-ha und
Han Kang umfasst - wie ein Kompendium zur jüngsten Geschichte,
aber auch zu Entwicklungslinien und Tendenzen der koreanischen
Literatur gelesen werden. Zwischen dem ältesten Autor Lee
Hochol (geboren 1932) und der jüngsten Autorin Han Kang
(geboren 1970) liegen fast 40 Jahre Altersunterschied und viele
bewegende Ereignisse der Weltgeschichte. Das Spektrum der Autoren
reicht somit von der "Hangul-Generation" bis zur "Generation
386".
In Südkorea bezeichnet man heute
Autoren, die in den 30er- und 40er-Jahren geboren wurden und sich
erst nach der Unabhängigkeit Koreas von Japan in ihrer
Muttersprache Koreanisch (Hangul) ausbilden durften, als
"Hangul-Generation". Denn während der Zeit der kolonialen
Abhängigkeit war es den Koreanern nicht gestattet, auf
Koreanisch zu schreiben oder zu publizieren. Verschiedenste
Persönlichkeiten des modernen Koreas, etwa die großen
Dichter Kim Soo-Young und der Diktator Park Chung-Hee, wurden in
Japan erzogen und ausgebildet. In den Schulen durfte nur Japanisch
gelehrt werden, das auch offiziell Amtssprache in der Kolonie Korea
war. Ziel dieser Politik war die kulturelle Auslöschung
Koreas.
Welche bedeutsame Rolle in diesem Kontext
einer in Schriftform überlieferbaren Sprache zukommt,
lässt sich am Koreanischen eindrucksvoll belegen. Durch das
bereits im Jahre 1443 unter König Sejong geschaffene
Hangul-Alphabet konnte die eigenständige Kultur der Koreaner
über Jahrhunderte hinweg weitergegeben werden und somit
überleben. Noch heute künden Legenden wie jene um den
ersten Einiger der koreanischen Reiche, König Munmu, und das
in Korea populäre Lied "Arirang" vom Nationalgefühl wie
auch vom Trauma der kulturellen Nivellierung durch die
übermächtigen Nachbarn Japan und China.
Am Beginn der Anthologie steht die
Erzählung "Panmunjom", die Lee Hochol bereits 1961 schrieb.
Das Datum symbolisiert die Hoch-Zeit des "Kalten Krieges" und
erinnert thematisch an Bücher wie "Der geteilte Himmel" von
Christa Wolf und "Mutmaßungen über Jakob" von Uwe
Johnson. Im Zentrum steht die Begegnung eines jungen Mannes aus dem
Süden mit einer jungen Frau aus dem Norden. Doch ein Happy End
beziehungsweise eine Liebesgeschichte sind undenkbar. Die Dialoge
zeigen nur das Labyrinth von Kommunikationsbarrieren, grotesken
Missverständnissen und extremen Ängsten, die auch mit
einem Gespräch über Shakespeare oder Dostojewski nicht
mehr auszugleichen sind. Die Wunden und Mauern in den Köpfen
erweisen sich auf beiden Seiten als ein "Panzer", der nicht
abgelegt werden kann.
In den vergangenen Jahrzehnten sind
verstärkt literarische Wortmeldungen hinzugetreten, die zum
Teil über die bereits angesprochene jüngste
Zeitgeschichte eine Auseinandersetzung mit den Jahren der
Militärherrschaft und dem nationalen Trauma Kwangju suchen. Im
Mai 1980 hatte sich in der Hauptstadt der Provinz Chollanam-do eine
Widerstandsbewegung gegen die damalige Militärregierung unter
Chun Do-Hwan organisiert, die blutig niedergeschlagen wurde. Dieses
Trauma der jüngsten südkoreanischen Vergangenheit hat das
Land und seine Kunst nachhaltig beeinflusst und einen schwierigen
Befreiungsakt von Unterdrückung und Duckmäusertum
eingeleitet.
Die "polierte Industriegesellschaft"
Südkoreas wird in nicht wenigen Publikationen kritisch
hinterfragt. Entfremdung, Kommunikationslosigkeit, Materialisierung
oder die Zerstörung der natürlichen Umwelt werden dabei
zu Warnsignalen.
Auch das besondere Verhältnis zu Japan
kann nicht unerwähnt bleiben. Koloniale Unterdrückung und
Beförderung in die Moderne stellen hier keinen Widerspruch
dar. Zudem ist dem südkoreanischen Diktator Park Chung-Hee,
der jede demokratische Regung im Innern unterdrückte, die
Modernisierung Koreas in einem atemberaubenden Tempo (Deutschland
brauchte knapp 100 Jahre für einen Industrialisierungsprozess,
der in Südkorea nicht einmal 30 Jahre dauerte) und die
Annäherung an Japan durch eine geschickte Außenpolitik
gelungen. Andererseits jedoch verlor Korea genau dadurch sein
ureigenes Ethos, denn das Militär dominierte die
Zivilgesellschaft.
Insbesondere jüngere Schriftsteller und
Schriftstellerinnen wie Kim Yong-ha (geboren 1968), Han Kang
(1970), Kang Sok Kyong (1951) und Gong Jiyoung (1963) setzen heute
auf eine kompromisslose Bestandsaufnahme der Lebensformen in der
modernen Industriegesellschaft. Hier sei angemerkt, dass im
Großraum der Hauptstadt Seoul inzwischen rund 13 Millionen
Menschen leben. Diese rasante Industrialisierung leitete eine
Zerstörung traditioneller Lebensformen ein, die in
kürzester Zeit zu verkraften war.
Die jüngeren Autoren, die in die
aufstrebende Industriegesellschaft Südkoreas hineingeboren und
durch die politischen Unruhen der 80er-Jahre geformt wurden (darum
auch "Generation 386" genannt), geben mit ihren Werken dem Leser
viel Zündstoff an die Hand. Ihnen wird in ihrer Heimat
übrigens eine ähnlich aktivierende Rolle wie in Europa
der 68er-Generation zugeschrieben. Mit illusionslosem Blick orten
sie die Defizite der polierten Wohlstandsgesellschaft, geißeln
Gleichgültigkeit, Egoismus und Liebesunfähigkeit in den
zwischenmenschlichen Beziehungen.
Erzählen wird so zu einem Vorgang des
Öffentlich-Machens und zu einem Gradmesser von Vergessen und
Verdrängen. Das belegt auf originelle Weise die Erzählung
"Klingende Weihnachtsgrüße" des 1968 geborenen Kim
Young-ha aus dem Jahre 2004. Wie bereits bei Hwang Sok-yong wird
ein Mordfall zum Auslöser der Handlung. Bei Kim hat jedoch der
"Krieg" inzwischen die privaten Beziehungen erreicht. Misstrauen,
Egoismus und Liebesunfähigkeit offenbaren sich hinter der
Fassade einer im geruhsamen Wohlstand dahinlebenden Mittelschicht.
Ein Mord und eine klingende Weihnachtskarte erinnern an das
Verdrängen der eigenen Biographie, an Schuld aus
Gedankenlosigkeit und menschliches Versagen.
In der südkoreanischen Literatur wurde
mit dieser in ein globales Zeitalter mit ihren Chancen und Risiken
hineingewachsenen Generation ein formaler und thematischer Umbruch
eingeleitet. Die Erzählungen von Han Kang, Kim Young-Ha, Gong
Jiyoung und auch KANG Sok-Kyong zeigen eine grundsätzlich
veränderte Sicht auf das Ich und die Welt, die
innerkoreanische Geschichte in weltliterarischer Dimension und in
einer Hinwendung zu einer konfliktreichen Innerlichkeit aufzuheben
scheint. Angesprochen sind globale Fragen von alltäglicher
Entfremdung in einer anonymisierten Welt, erzählt wird von
Liebesunfähigkeit, Anpassung, Verlust an Gemeinsamkeit
zwischen Fiktion und Illusion, Bewusstem und Unbewusstem bis hin zu
traumatischen Verstrickungen und durchgespielten
Aggressionen.
Letztlich geht es um das Offenlegen von
Problemen, Widersprüchen und heutigen Ängsten in
verschiedensten Lebensbereichen. All das sollte nicht nur im Rahmen
der Buchmesse zu einer "literarischen Grenzüberschreitung"
ermuntern.
Die Autorin arbeitet als Dozentin für
Literaturwissenschaft und Ostasiatische Geschichte an der
Universität Erfurt und ist zudem als literarische
Übersetzerin tätig.
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