Udo Scheer
Menetekel vom großen Scheitern
Jens Biskys harscher Verriss der
Aufbaubemühungen im Osten
Obwohl "die Umgestaltung des Ostens mit heiligem
Ernst betrieben" worden sei, sei die Einheit "der ers-te große
Misserfolg in der bundesdeutschen Geschichte".
Missverständnisse und Kränkungen, eine Neiddebatte
über die Milliardentransfers hätten zu "Trotz und
Resignation auf beiden Seiten geführt". Doch werde die
"Gefahrenquelle Einheit..., die ökonomische und soziale
Zeitbombe Ost" gern beschwiegen. Das sind einige der provozierenden
Eingangsthesen in Jens Biskys neuem Buch.
Vor einem Jahr sorgte sein Debüt
"Geboren am 13. August", seine Abrechnung mit dem eigenen
staatsnahen DDR-Leben, für beträchtliches Aufsehen.
Immerhin steht der Vater - und PDS-Vorsitzende - Lothar Bisky
für eine beachtliche Karriere als Partei-Intellektueller.
Öffentlich kaum bekannt ist dagegen dessen gut benotete
inoffizielle Arbeit für die MfS-Auslandsspionage (IM
"Bienert", Reg.-Nr.: XV 2276/66). Während seiner Professur an
der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED
abgeschaltet, wurde er als Rektor der Filmhochschule
Potsdam-Babelsberg neu aktiviert (IM "Klaus Heine", Reg.-Nr.: XV
437/87). Von 1992 bis 1994 leitete er den brandenburgischen
Untersuchungsausschuss zu Manfred Stolpes
Stasi-Verwicklungen.
"Vor den Vätern denken die Söhne",
schrieb ein Kritiker zu Jens Biskys Abnabelung. Mit seinem zweiten,
schnell nachgeschobenen Buch schlägt der studierte
Kulturwissenschaftler und Redakteur der "Süddeutschen Zeitung"
nun das vielschichtige und zugleich populär-populistische
Medien- und Stammtischthema vom "Stand der Einheit" an.
Ganz im Trend und bisweilen in
feuilletonistischem Event-Stil erklärt er, "warum die Einheit
unser Land gefährdet". Ähnlich reißerisch wie der
Buchtitel menetekeln Kapitelüberschriften über den
"Abschied von leeren Landschaften" oder die "Vorboten der
Angstgesellschaft". Als ostdeutsches Markenzeichen zeichnet er eine
"stille Gesellschaft der Abschottung" in "Duldungsstarre". Ein
Bild, das wenn überhaupt, wohl am ehesten auf eine Randgruppe
verbitterter Altgenossen zutreffen dürfte.
Während mancher im Ausland respektvoll
anerkennt, die innere Einheit Deutschlands sei weiter gediehen als
etwa in Italien zwischen Mailand und Sizilien oder in Spanien
zwischen Baskenland und Barcelona, kann Bisky des Beifalls
Frustrierter in Ost wie West sicher sein, wenn er pauschal und
flott erklärt: Der Osten drohe "zu verarmen..., zu
vergreisen... zu verblöden". Was interessiert da das
Mehrheitsbefinden, die vom Statistischen Bundesamt mit rund 7,5
(von 10 möglichen) Punkten ermittelte nahezu identische
Lebenszufriedenheit in Ost und West - oder die seit Ende der
90er-Jahre erreichte Angleichung des Lebensstandards in den unteren
und mittleren Einkommensgruppen?
Der heraufbeschworenen Dramatik der
"Vergreisung" des Ostens durch demografische Entwicklung und
Abwanderung der gut ausgebildeten Jugend widerspricht er selbst -
wie er sich überhaupt mehrfach widerspricht -, wenn er 150
Seiten weiter 2,4 Millionen Abwanderern (1991 bis 2003) 1,6
Millionen Zuwanderer gegenüber stellt. Geburtenrückgang,
das Ende der Überflussgesellschaft, höherer
Investitionsbedarf in Bildung und Forschung sind wohl eher
gesamtdeutsche Probleme, die sich allerdings in Ostdeutschland
früher und schärfer konturieren.
Eine der längst unbestrittenen Ursachen
dafür ist die - auch von Bisky reflektierte - verfehlte
Wirtschaftspolitik, die mit der Währungsunion ohne Entlastung
der Betriebe von verdeckten SED-Altschulden und mit der
folgenschweren Treuhandpraxis der Privatisierung statt Sanierung zu
einer so noch nie da gewesenen Deindustrialisierung führte.
Angesichts der Überproduktion auf dem westdeutschen Markt
bestand für die Produktivkraft Ost kaum Bedarf. Der Markt
werde es schon richten - durch diese später selbst
eingestandene Fehleinschätzung der Regierung Kohl bleibt ein
selbsttragender Wirtschaftsstandort Ost wohl auf lange Sicht
illusorisch.
Dennoch macht sich Bisky zum energischen
Streiter wider den Solidarpakt II, zweieinhalb Mal soviel in den
"sozialen Frieden" wie in den Aufbau Ost zu investieren. "Der
Westen zahlt, der Osten leidet", steht so provozierend wie ungenau
in dicken schwarzen Lettern.
Interessanterweise gleichen Zahlen und
Argumente verblüffend denen des PDS-Euopaabgeordneten
André Brie in seinem Beitrag "Deutsch-deutsche Fremdheiten" in
dem ansonsten so informativen und analytisch kompetenten Band "Am
Ziel vorbei" (Ch. Links, Berlin 2005)
Ideen sind gefragt. Jens Bisky versucht sich
damit immerhin auf den letzten zwölf Seiten. Er sieht - kaum
bestreibar - eine Einheit dauerhafter Differenzen, favorisiert
steuerbegünstigte Zonen und verstärkte
Bildungsinvestitionen gleichermaßen in schwächeren
Regionen in Ost und West. Daneben verfällt er auf einige
Abstrusitäten, plädiert für "Schrumpfungspolitik"
nicht nur beim Wohnungsabriss in Satellitenstädten, sondern
auch durch Auflösung kleiner Dörfer. Letzteres erinnert
fatal an frühere administrative Zwangsumsiedlungen.
Oder er fordert: "Der Staat muss sich aus der
Wirtschaftspolitik zurückziehen", so als hätten die
wohlgesetzten Konjunkturspritzen unter Ludwig Erhard nicht erst
diesen Sozialstaat ermöglicht, als hätte die politische
Zurückhaltung bei der Privatisierung der DDR-Wirtschaft nicht
wesentlich zur Problemlage Ost beigetragen. Das sind wohl eher
Vorschläge für den Papierkorb.
Gleichwohl sind Zukunftsprojekte zwingend
gefragt: Ausbau von Bildung und Forschung, um Lebensperspektiven
für junge Menschen zu sichern; Investitionsprogramme,
zugeschnitten auf die regionalen Besonderheiten und die
demografische Entwicklung; Neudefinition von Arbeit, die
gemeinwohlorientierte Tätigkeiten und soziales Engagement
einschließt. Statt Schwarzmalerei und destruktiver Panikmache
kann Ostdeutschland mit seinen einschneidenden Erfahrungen zu einem
Modellfall und Vorreiter für die notwendige Kurskorrektur der
gesamten Gesellschaft im postindustriellen Zeitalter werden. Die
Einheit ist da, sie ist ein Ausdehnungsraum. Es liegt an uns, wie
wir sie gestalten. Jens Biskys polemisch zugespitzte Betrachtungen
regen zum Widerspruch und liefern Denkanstöße.
Jens Bisky
Die deutsche Frage. Warum die Einheit
unser Land gefährdet.
Rowohlt Berlin, Berlin 2005; 224 S., 12,90
Euro
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