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Dirk Klose
Reales und Absurdes im Alltag
Schriftsteller erkunden Menschen, Geschichte und
Landschaften
Ein guter Reisebericht kann mitunter mehr
über Land und Leute aussagen als eine wissenschaftliche
Abhandlung. Es fällt auf, wie sich in unseren Tagen immer mehr
Schriftsteller bemühen, mit literarischen Mitteln bestimmte
Regionen mit ihren Menschen und in ihrem historischen Werdegang zu
schildern. Der diesjährige Bücherherbst bringt dafür
mehrere markante Beispiele, von denen hier eine kleine Auswahl
vorgestellt werden soll.
Der Schrifsteller Günter de Bruyn war
schon in der Zeit der deutschen Teilung ein "gesamtdeutscher"
Autor. Seine Bücher fanden sowohl in der DDR als auch in der
Bundesrepublik viel Zuspruch. In den vergangenen Jahren hat sich de
Bruyn, der im märkischen Görsdorf bei Beeskow
südöstlich von Berlin lebt, Themen der
brandenburgisch-preußischen Geschichte zugewandt; sein neues
Buch ist für ihn expressis verbis eine "Liebeserklärung"
an seine märkische Heimat. Er taucht dabei tief in die
Geschichte des kleinen Ortes ein und nimmt ihn als Beispiel
für Entwicklun- gen der Mark insgesamt. "Des Heiligen
Römischen Reiches Streusandbüchse", wie sie seit
Jahrhunderten genannt wurde, war von der Natur - abgesehen von
Wasser und Wald - nicht eben reich gesegnet. Das Leben der Menschen
war und ist hart; landwirtschaftlicher Ertrag musste den Böden
mühsam abgerungen werden. Ein bescheidener Wohlstand hat sich
erst sehr langsam und spät eingestellt.
De Bruyns Buch ist ein Geschichtsbuch der
Mark. Bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die gleichermaßen
harte und fürsorgliche Hand der preußischen Herrscher
überall spürbar. Die Bauernbefreiung im Zuge der
Stein-Hardenbergschen Reformen erwies sich dann für viele
Bauern als keineswegs so segenbringend, wie es aus der
Rückschau scheint; das märkische Landproletariat gab es
dann bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts.
Der Autor bringt über den sowjetischen
Vormarsch im Frühjahr 1945 mehrere Berichte; man weiß,
die Rache der Sieger war furchtbar, für die Hybris der
NS-Führung mussten auch hier die kleinen Leute bezahlen. Gegen
Ende seines Buches, das dichterische Imagination und historische
Genauigkeit zusammenfügt, verklärt de Bruyn am Beispiel
einer alten Dorfkirche die Mark als Ort der Stille und
Besinnlichkeit in unruhiger Zeit: "Die Hektik der Zeit, die
Rückbesinnung verbietet, scheint von der efeubewachsenen
halbhohen Mauer ferngehalten zu werden. Sie bewahrt, wer weiß
wie lange, das Beste, das wir hier haben: eine
unzeitgemäße Stille."
Ein gescheitertes Loblied
Noch immer gilt es als gute Verlagstradition,
einem Autor die Treue zu halten, auch wenn die Moden schwanken und
nicht immer Konjunktur für ihn herrscht. Der Rostocker
Hinstorff-Verlag betreut seit Jahren in vorbildlicher Weise das
Werk des Schriftstellers Franz Fühmann (1922-1984).
Fühmann, aus dem Böhmischen stammend, lebte in der DDR;
von einem systemtreuen Anhänger des Systems wandelte er sich
mehr und mehr zu einem kritischen Schriftsteller, den
schließlich die Staatssicherheit für so gefährlich
hielt, dass sie ihn überwachen zu müssen
glaubte.
Im Jahre 1967 hatte er den Auftrag erhalten,
zum 20. Jahrestag der DDR im Oktober 1969 ein Loblied zu schreiben.
Auf den Spuren von Theodor Fontanes "Wanderungen" sollte er
ebenfalls durch die Mark streifen - festgelegt wurde der weitere
Umkreis um Fontanes Geburtsstadt Neuruppin - und von den
Aufbauleistungen der jungen DDR in der Landwirtschaft berichten. Zu
diesem Zeitpunkt waren die großen Umwälzungen wie
Bodenreform und Kollektivierung vorbei; die Zeit für eine
erste positive Zwischenbilanz schien gekommen.
Fühmann war guten Willens, ja, er machte
sich geradezu mit Feuereifer ans Werk, wohl weil auch er von den
offiziellen Fortschrittsparolen zutiefst überzeugt war.
Zweimal war er unterwegs, einmal in den letzten beiden Monaten des
Jahres 1967, dann noch einmal im Sommer 1968. Aber dabei kam es
anders; Fühmann kehrte völlig desillusioniert zurück
und sah sich außerstande, einen positiven Bericht abzuliefern.
Seine mit immensem Fleiß gemachten Aufzeichnungen blieben in
der Schublade und sind erst jetzt - in einer vorbildlichen Edition
mit genauem Anmerkungsapparat, Register und mit Fühmanns
Extra-Exzerpten - von Mitarbeitern der Akademie der Künste in
Berlin zugänglich gemacht worden.
Das Buch fasziniert von der ersten Seite an,
weil Fühmann in einem sehr direkten Stil schreibt und weil man
buchstäblich eine Wandlung vom Saulus zum Paulus miterlebt.
Fühmann glaubt, die vielgepriesenen Errungenschaften des
Sozialismus wie LPG, MTS (Landwirtschaftliche
Produktionsgenossenschaft, Maschinen-Traktoren-Station) und
gemeinsame Bewirtschaftung unmittelbar zeigen zu können. Aber
fast immer erlebt er das Gegenteil: Es hapert an Material und
Gerät, die Koordination klappt nicht, eine starre
Bürokratie geht an den alltäglichen Notwendigkeiten
vorbei, und fast am schlimsten sind die menschlichen Reibereien.
Wie es denn mit der Kooperation klappe, fragt Fühmann einen
LPG-Vorsitzenden: "Es ist schon theoretisch nicht einfach. In der
Praxis schaut das zur Zeit so aus: Wenn sich die leitenden Kader
nicht sympathisch sind, stirbt die Kooperation. Man geht noch nicht
vom ökonomischen Vorteil aus, sondern vom persönlichen
Verhältnis. Wenn einer schlecht geschlafen hat, dann
kündigt er die Kooperation auf."
Glanzstücke des Buches sind die
kräftigen Menschenschilderungen: Fühmann spricht mit
engagierten LPG-Vorstehern, die unendlich mühsam etwas
voranbringen; er findet resignierende ältere Menschen,
stumpfsinnige Jugendliche, die nur saufen und randalieren, dann
auch voller Idealismus arbeitende Frauen in Bildung und Verwaltung.
In historischen Quellen findet er das unglaublich harte Leben der
Märker:
"Eine legendäre Botenfrau aus dem
vorigen Jahrhundert. Zweimal mit einer Kiepe Waren von Wustrau nach
Neuruppin gebracht. Einmal von Wehen überrascht, unterwegs im
Siebgraben ein Kind geboren, abgenabelt, auf die Kiepe gelegt, in
der Stadt bei der Hebamme hinterlegt, dann Waren ausgetragen wie
immer. Sehen Sie, das ist der Märker. Wir haben Deutschland
viel Kraft gegeben, viel standhaftes Blut!"
Fühmann hat auch Augen für das
"Abenteuer der Landschaft" - für das Luch, die Moore und
Wälder, für alte Schlösser und Kirchen. Aber am Ende
resigniert er; er kann nicht jubeln und spürt auch, dass er
hier nicht hinpasst: "Ich will dankbar sein, ehrlich dankbar. Die
Reisen nach Preußens Schoß haben mir deutlich gemacht,
was ich eigentlich bin: ein österreichischer
Schriftsteller."
Freude am Defätismus
Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk
gilt in seiner Heimat als "shooting star". Seine bissigen Texte
über Themen aus gesellschaftlichen und geografischen
Rändern haben ihn auch bei uns bekannt, ja inzwischen
berühmt gemacht. Stasiuk hat einen Blick für die Dinge am
Rande, für das scheinbar Nebensächliche, das bei ihm zum
Prisma der heutigen Wirklichkeit wird. Er sagt von sich selbst,
dass er eine "Freude am Defätismus" habe.
Stasiuk reist regelmäßig durch Ost-
und Südosteuropa. Gleichermaßen mit Häme und mit
Anteilnahme sieht er die Reste des untergegangenen Sozialismus -
"mich interessiert der Schwund, der Zerfall". Und den Zerfall sieht
er überall, in den Balkanstaaten, in den rumänischen,
slowakischen, moldawischen Dörfern, in den Weiten der
ungarischen Tiefebene, die für den Leser schier
erdrückend wird, im Donaudelta, wo die Welt zu Ende ist. Es
sind virtuose Menschen- und Landschaftsbeschreibungen, deren
Suggestion man sich kaum entziehen kann: "Ja, ich liebe dieses
balkanische Chaos, das ungarische, slowakische, polnische, diese
wunderbare Schwerkraft der Materie, diese herrliche
Schläfrigkeit, dies Pfeifen auf die Tatsachen, die konsequente
Sauferei am Mittag und die glasigen Blicke, die mühelos durch
die Wirklichkeit hindurchgehen, um sich furchtlos dem Nichts zu
öffnen." Dem Nichts - Stasiuk zeigt, wie nahe wir alle
letztlich am Nichts leben.
Die Deutschen im Osten
Bis 1939 lebten in den ost- und
südosteuropäischen Ländern rund vier Millionen
Deutsche. Sie waren Jahrhunderte zuvor ins Land gekommen, gerufen
vom Zaren, von den Habsburgern, oder getrieben von Hunger und Not
in den süddeutschen oder sächsischen Landen. Heute ist
das eine Welt von gestern, der Krieg hat auch hier furchtbar
"tabula rasa" gemacht.
Karl-Markus Gauß, dem wir schon mehrere
einfühlsame Berichte aus dem Osten verdanken, hat sich jetzt
auf die Spuren der letzten Deutschen gemacht. Es gibt sie noch,
entweder als "deutschstämmig" in die jeweiligen Länder
verwoben oder als deutsche Minderheit sehnsüchtig auf die
Ausreise nach Deutschland hoffend. Gauß fand sie im Memelland
in Litauen, in der Bergregion Zips im äußersten Osten der
Slowakei ("wir wurden 1945 einfach vergessen") und in Städten
und Kolonien im Umkreis von Odessa.
In Litauen haben sich diese Menschen
arrangiert; EU-Mitgliedschaft und Reisemöglichkeiten haben die
mentale Distanz zum Land fast aufgehoben. In der slowakischen Zips,
dem hintersten Winkel des Landes, wird der Leser Zeuge einer zu
Ende gehenden alten Kultur, auch wenn sie in rührenden Festen
und Zeremonien immer wieder beschworen wird.
Rund um Odessa wohnen viele auf Ausreise
hoffende Deutsche in den Beresaner, den Kutschurganer und den
Großliebentaler (!) Kolonien. Die Zarin Katharina hatte die
Deutschen einst ins Land gerufen. In unzähligen
Gesprächen mit Gauß werden das Auf und Ab im Leben der
Menschen, werden Deportation, dürftigste
Lebensverhältnisse und mitunter dann auch wieder vitaler
Lebenswille mit den Chancen auf einen neuen Erfolg deutlich. Der
Autor ist ein Meister der Beobachtung und der Milieuschilderung;
den Leser stimmt das Buch fast wehmütig angesichts einer sich
wohl endgültig auflösenden Kultur.
Günter de Bruyn
Abseits. Liebeserklärung an eine
Landschaft.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2005; 202
S., 19,90 Euro
Franz Fühmann
Das Ruppiner Tagebuch.
Auf den Spuren Theodor
Fontanes.
Hrsg. von Barbara Heinze und Peter
Dehmel.
Hinstorff Verlag, Rostock 2005; 544 S.,
29,90 Euro
Andrzej Stasiuk
Unterwegs nach Babadag.
Aus dem Polnischen von Renate
Schmidgall.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2005; 304
S., 22,80 Euro
Karl-Markus Gauß
Die versprengten Deutschen. Unterwegs in
Litauen, durch die Zips und am Schwarzen Meer.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2005; 238 S.,
21,50 Euro
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