Karl -Otto Sattler
Mandat zwischen Plenarsaal und
Panzerfahrzeug
Rudolf Bindig zieht Bilanz seiner Arbeit
für den Europarat
Tief in der Provinz weist ein Schild den Weg zu einem entlegenen
Dorf. Das Team aus Straßburg, das für den Europarat in
Russland den Ablauf von Duma-Wahlen inspiziert, entscheidet sich
spontan für eine Visite in diesem kleinen Örtchen. Die
Chefin des Wahllokals ist perplex und strahlt
überglücklich: Schon oft habe sie von der Existenz
internationaler Beobachter gehört, und jetzt tauchen die doch
leibhaftig bei ihr auf! Im Nu werden kulinarische
Köstlichkeiten samt Wodka aufgetischt. Rudolf Bindig: "Die
Dame wollte uns gar nicht mehr ziehen lassen."
Der seit 2002 als Leiter der Bundestagsdelegation in der
Parlamentarischen Versammlung des Europarats amtierende
SPD-Politiker sitzt in seinem nüchtern eingerichteten
Büro im Straßburger Palais de l'Europe und lässt den
Blick zurückschweifen. 17 Jahre Engagement im Abgeordnetenhaus
des Staatenbunds, die nun zu Ende gehen: Da werden neben der
Verabschiedung von Resolutionen, Gekungel hinter den Kulissen des
Wabenbaus und Kampfabstimmungen im Halbrund des Plenarsaals auch
ganz persönliche Erlebnisse wieder präsent. Sie waren
indes nicht immer so erfreulich. Denn Auftrag des Europarats ist
die Durchsetzung demokratischer Rechtsstaatlichkeit auf dem
Kontinent - und dazu gehören auch Recherchen vor Ort. Zu
seinen "erschütterndsten Erfahrungen" zählt Bindig seine
Inspektionen in diversen osteuropäischen Gefängnissen.
"Einfach schrecklich" seien die Zustände gewesen: dramatisch
überfüllte Zellen, grassierende Krankheiten,
katastrophale hygienische Verhältnisse.
Tief im Gedächtnis des 65-Jährigen haften geblieben
sind die vielen Reisen ins tschetschenische Kriegsgebiet. Einmal
hatten dort russische Soldaten für den Straßburger
Abgesandten ein Picknick im Freien hergerichtet: Während des
Essens war am Horizont Geschützdonner zu vernehmen. Durch
Grosny konnte sich Bindig nur in Panzerfahrzeugen bewegen. Ein Flug
mit Moskauer Militärs im Helikopter endete abrupt: Wegen
Raketenbeschusses drehte der Hubschrauber schnurstracks ab.
Solche Situationen bleiben Bindig in Zukunft erspart. Die
Herbstsession in der ersten Oktoberwoche des Europarats-Parlaments
war die letzte Sitzung für den Oberschwaben: Er wird diesem
Abgeordnetenhaus nicht mehr angehören, nachdem er bei der
Bundestagswahl auf eine erneute Kandidatur verzichtet hat. Der
Sozialdemokrat hat seine Funktionen aber formell bis zum Auftakt
der Wintertagung im Januar inne, bei der die 18 frisch nominierten
Mitglieder des neuen Bundestags ihre Arbeit im Europarart aufnehmen
werden. Im November fährt Bindig zu einer Wahlbeobachtung nach
Tschetschenien. Aber die Zeit des Abschieds naht: "Das fällt
natürlich schwer, da kommen gemischte Gefühle auf."
Im Europarat hat der altgediente Volksvertreter eines
schätzen gelernt: "Man ist Teil eines Netzwerks von
Abgeordneten überall auf dem Kontinent. In dieser großen
europäischen Familie entsteht ein gewisses
Gemeinschaftsgefühl". Aber Bindig kapriziert sich nicht nur
auf persönliche Reminiszenzen, ihn treibt der Staatenbund bis
zuletzt vor allem politisch um. Und da sorgt er sich um dessen
künftige Rolle auf der internationalen Bühne: Der
Europarat, der "in schwieriges Fahrwasser" geraten werde,
dürfe sich von Brüssel nicht die Butter vom Brot nehmen
lassen. Denn die EU, auf 25 Mitgliedsländer angewachsen,
entpuppt sich zusehends als Konkurrent und mischt sich nun auch in
die historische Mission Straßburgs ein - den Kampf für
Menschenrechte und demokratische Rechtsstaatlichkeit. Jetzt plant
Brüssel sogar die Errichtung einer eigenen
"Grundrechts-Agentur" mit 100 Mitarbeitern. Das fuchst Bindig: "Der
Europarat muss sich auf die Hinterbeine stellen und sich
gegenüber der EU behaupten", so Bindig. Da sei auch der bei
der Herbstsitzung des Parlaments gewählte neue
Menschenrechtskommissar Thomas Hammarberg (Schweden) gefordert.
Nicht nur Gefahren von außen ist zu begegnen. In gewissem
Sinne, analysiert der SPD-Politiker, "droht der
Menschenrechtsgerichtshof an seinem Erfolg zu ersticken".
Abertausende Klagen von Bürgern zwischen Atlantik und Kaukasus
gehen jedes Jahr ein. Doch dieser Masse von Beschwerden ist kaum
noch Herr zu werden. Die Straßburger Urteile sorgen nicht
selten für Aufsehen. Der scheidende deutsche Delegationsleiter
ist indes der Überzeugung, "dass der Staatenbund in der
öffentlichen Wahrnehmung auch politisch häufig
unterschätzt wird".
Aber ist der Europarat ein echter Machtfaktor? Ob Folter und
Misshandlungen in Gefängnissen, Ausweisung von Ausländern
oder auch Organhandel: Die Kritik in den fachlich meist sehr
fundierten Berichten des Straßburger Parlaments wird in den
betreffenden Ländern oft nur zögerlich und halbherzig
umgesetzt. Bindigs Resümee seiner 17 Jahre: Ein "Machtfaktor"
sei der Europarat wohl weniger, doch könne er als "moralische
Instanz und Gestaltungsfaktor" Einfluß nehmen - trotz
fehlender exekutiver Rechte gegenüber nationalen
Regierungen.
Erfolg und Misserfolg gehen Hand in Hand: Diese Erfahrung hat
auch Bindig gemacht. Den Schutz von Minderheitenrechten in den
Konventionen des Europarats führt der SPD-Mann mit auf seinen
Einsatz zurück. Ebenso war es auch ihm als Berichterstatter
für Estland in den 90er-Jahren zu verdanken, dass sieben
Häftlinge nicht hingerichtet wurden: Bedingung für die
von Bindig mitgestaltete Aufnahme der Balten ins Palais de
l'Europe.
Nicht so rosig sieht die Bilanz für Russland und
Tschetschenien aus, wo Bindig jahrelang als Europarats-Beauftragter
aktiv war. Zunächst konnte der Europarat in Moskau innere
Reformen durchsetzen. Doch jetzt wurde mit dem Ausbau der
autokratischen Herrschaft von Präsident Wladimir Putin so
manches Rad wieder zurückgedreht. So leide etwa die
Unabhängigkeit der Justiz und die Pressefreiheit, vor allem
beim Fernsehen, kritisiert Bindig. Besonders große
Enttäuschung macht sich bei Tschetschenien breit, wo
Vertreibungen, Entführungen und Folter noch immer an der
Tagesordnung sind.
Vielleicht muss sich der Europarat doch mehr Respekt
verschaffen. Da möchte Bindig auch die 315 Mitglieder der
Straßburger Deputiertenkammer in die Pflicht nehmen. Sie
müssten ihr Doppelmandat stärker wahrnehmen, um auch in
ihren heimischen Volksvertretungen dem Staatenbund zu mehr Geltung
und Renommée zu verhelfen.
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