Jörg Herold: Lichtschleife mit Datumsgrenze
Bedeutung der Daten
Lichtschleife mit Datumsgrenze
in den Boden eingelassene
Beton scheibe mit einem
Geschichtsdatum auf der Oberfläche
Die Installation "Lichtschleife mit Datumsgrenze" von Jörg Herold befindet sich im Außenhof des Paul-Löbe-Hauses, eines Parlamentsneubaus nördlich des Reichstagsgebäudes. In diesem Neubau, gestaltet von dem Münchner Architekten Stephan Braunfels, vollzieht sich der Großteil der parlamentarischen Arbeit, dort sind die Sitzungssäle der Ausschüsse des Deutschen Bundestages und die Arbeitsräume von deren Vorsitzenden und Sekretariaten untergebracht, aber auch das Besucherzentrum mit seinen Seminarräumen.
Oberfläche mit Geschichtsdatum
Die Architektursprache des Baus ist bestimmt von geometrischen
Grundformen, wie dem Quadrat für das Deckenraster oder dem
Kreis für die Rotunden mit den Sitzungssälen für die
parlamentarischen Ausschüsse. Eine dieser Grundformen, den
Kreis, greift Jörg Herold auf und gestaltet für seine
Installation " Lichtschleife mit Datumsgrenze" den nordwestlichen
Außenhof mit runden Betonscheiben, die in den Boden
eingelassen sind. Jede von ihnen trägt auf ihrer
Oberfläche ein Geschichtsdatum. Diese Scheiben legen sich wie
ein Gewebe über das Grün des auf Bodenhöhe
zurückgeschnittenen Buchsbaumbewuchses.
Der Spiegel wirft in den Hof
einen Lichtreflex, der im
Laufe des Jahres über
alle Geschichtsdaten auf
den Betonscheiben wandert.
An einem Steg oberhalb des Hofes ist ein runder Spiegel mit festem Neigungswinkel installiert, der einen Sonnenstrahl auf die Betonscheiben und ihre Geschichtsdaten lenkt. Innerhalb eines Jahres läuft der Sonnenstrahl entsprechend den jahreszeitlich veränderten Sonnenständen von einer Betonscheibe als "Brennpunkt Null" am 1. Januar über die der Sommersonnenwende bis hin zu derjenigen der Wintersonnenwende. Tag für Tag läßt der Sonnenstrahl jeweils andere Daten aufleuchten, läßt sie für kurze Zeit gleichsam aus dem Dunkel der Geschichte hervortreten. Bewußt hat der Künstler viele der Daten so gewählt, daß sie die Aufmerksamkeit auf historische Ereignisse lenken, die im allgemeinen wenig beachtet werden.
scheinbar gradlinige Geschichtsverläufe aufbrechen
Bereits in einer Vielzahl früherer Arbeiten hatte der in Leipzig geborene Künstler sich mit der Frage nach der Wahrnehmung von Geschichte auseinandergesetzt, mit dem faktischen Geschehen einerseits und der verarbeitenden Interpretation bis hin zur Mythenbildung andrerseits. Immer ging es Jörg Herold darum, vorgegebene Deutungsmuster scheinbar gradliniger Geschichtsverläufe aufzubrechen durch die Fokussierung von Ereignissen im Windschatten einer verbreiteten Geschichtsdeutung. Dieser Strategie des Künstlers entspricht, daß er für die Installation im Deutschen Bundestag in einem "Datenschlüssel" Geschichtsdaten sammelt, die der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind: so ein Brief Mileva Einsteins an ihren Mann über die Relativitätstheorie im Jahre 1905 oder die Versenkung des Flüchtlingsschiffes "Wilhelm Gustloff" in der Ostsee durch russische Torpedos im Jahre 1945 (Datenschlüssel und Katalogtext im Internet unter "bundestag.de", "Bau und Kunst", "Kunstwerke").
Innenhof mit Kunstwerk, im Hintergrund eine gläserne Rotunde des Paul-Löbe-Hauses
überindividuelle kosmische Ordnung
Die stets wiederkehrende Kreisform als Urbild und Keimzelle aller Schöpfung steht in einem tiefen inneren Zusammenhang zu Herolds Sicht der Geschichte. Der Kreis symbolisiert seit jeher - so auch als Planetenzeichen - die Sonne, die am Anfang aller Zeitmessung steht. Der Lichtstrahl der Sonne läuft in Herolds Installation als "Lichtspur" über die Datenscheiben - Zeit in ihrer kosmischen Urform und konkrete Menschheitsgeschichte berühren sich. Dieser Kreis kennt keinen Anfang und kein Ende, läßt keine Hierarchie von Daten zu, sondern nur das Verständnis von Geschichte als eines ganzheitlichen Gewebes, dessen einzelne Fäden je nach Deutung hervorgehoben werden und doch stets nur Teil des Ganzen sind. Jörg Herolds Geschichtskosmos offenbart die Bedingung des Humanen in der Spannung zwischen dem selbstgestalteten Schicksal des Einzelnen und seiner Einbettung in die Gemeinschaft und läßt die Freiheit als Möglichkeit individueller Entscheidung in übergreifenden Geschichtszusammenhängen aufleuchten. So blicken im Paul-Löbe-Haus die Abgeordneten, die in das Spannungsfeld aktueller politischer Fragen gestellt sind, auf das Gewebe des Datenteppiches von Jörg Herold, auf ein Gewebe historischer Daten aus über einem Jahrtausend, das die Menschen als Individuen zeigt, die an ihre Eigenverantwortlichkeit glauben und die doch zugleich um ihre Gebundenheit in der Gemeinschaft und ihre Teilhabe an einer überindividuellen kosmischen Ordnung wissen sollten.
Text: Andreas Kaernbach
Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages
english version
Lichtschleife mit Datumsgrenze
Blick in den begrünten und
mit Betonplatten versehenen Hof
Jörg Herold's installation "Lichtschleife mit Datumsgrenze" (Light Loop with the Date Line) is located in the outer courtyard of the Paul Löbe House, a new parliament building north of the Reichstag. The majority of parliamentary work takes place in this new building, which was designed by the Munich architect Stephan Braunfels. The conference rooms for the German Bundestag's parliamentary committees and offices for the committee chairpeople and their staffs are housed here, as are the visitors' center and its seminar rooms.
The building's architectural language is characterized by basic geometric forms, for example, the square ofthe ceiling grid or the circle of the rotundas leading to the parliamentary committee conference rooms. Jörg Herold employs one of these basic forms, the circle, and in his installation "Lichtschleife mit Datumsgrenze", has designed the northwest outer courtyard with circular concrete slabs, or "discs," set into the earth. Each of the discs displays a historical date on its surface. These discs extend like a network across the green carpet of evergreen box plants,which are trimmed back to the level of the courtyard ground. A round mirror has been installed at a fixed angle on a landing above the courtyard. The mirror reflects sunbeams onto the discs and their historical dates. Over the course of the year, as the seasons and the position of the sun change, the sunbeams focus on different discs. On January 1, the sunbeams rest on the concrete disc called "Brennpunkt Null" (Focal Point Zero), then shift across the various other discs to the summer solstice disc and later to the winter solstice disc. Each day, the sunbeams highlight a particular date, thereby permitting it to briefly emerge from the darker periods of history. Jörg Herold deliberately selected many of the dates in order to draw attention to historical events that are generally overlooked.
In many of his earlier works, Jörg Herold, who was born in Leipzig, examined the question of history and how it is perceived-from the real events and how they are processed and interpreted on the one hand, to the way myths are created on the other. Herold has always been concerned with upsetting the standard interpretations of seemingly linear courses of history by showing alternate scenes and by focusing on events aside from the widely accepted interpretation of history.
Draufsicht auf mehrere in den Boden
eingelassenen Betonscheiben mit einem
Geschichtsdatum auf der Oberfläche,
in der Mitte der vom Spiegel
erzeugte Lichtpunkt
Herold's strategy for the Bundestag installation is based on gathering together historical dates in a "key of dates." This includes dates that are largely unknown to the public: such as Joseph Beuys' crash in a divebomber over Russia in 1944, or the discovery of Kasper Hauser in Nuremberg in 1828, a letter of Mileva Einstein to her husband in 1905concerning the theory of relativity or the sinking of the refugee ship "Wilhelm Gustloff" in the Baltic Sea by Russian torpedoes in 1945. (The key listed up in internet under the keyword "www.bundestag.de" - "Bau und Kunst" - "Kunstwerke".)
The recurrent circular shape, which also appears in the artist's Piktografisches Alphabet (Pictogram Alphabet) paintings as the archetype and nucleus of all creation, is closely linked to Herold's view of history. Since time immemorial, a circle has been a planetary sign as well as a symbol of the sun, which is the beginning of any measure of time. The celestial disc recently discovered in Nebra impressively illustrates this. Dating back 3,600 years, the disc may be the oldest known depiction of the cosmos. The sunbeams in Herold's installation move as "traces of light" over the dated discs, thus bringing time in its original cosmic form and the tangible history of mankind together. This circle has no beginning and no end. It does not permit a hierarchy of information, but allows only for an understanding of history akin to a holistic weave, whose individual threads can be emphasized depending on interpretation, and yet remain only a part of the whole.
Jörg Herold's historical cosmos reveals the state of humankind caught between the self-determined fate of the individual and his or her ties to society, and highlights freedom as the chance for personal choice in overlapping historical contexts. Thus, in the Paul Löbe House, the members of parliament, who are placed in the arena of current political issues, look out at the web of dates created by Jörg Herold-a weave of historical dates from over a millennium, which depicts people as individuals who believe in their sense of personal responsibility and who should simultaneously be aware of their ties to society and the role they play in a supra-individual cosmic order.
Text: Andreas
Kaernbach
Curator of the German Bundestag Art Collection