Pressemitteilung
Stand: 18.06.2001
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse: Erinnerung an die Mauer in Berlin wach halten
Es gilt das gesprochene
Wort
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse eröffnet am Sonntag, 17. Juni, in Berlin (Friedrich-Ebert-Platz) die Veranstaltung "13. August 1961 - 40. Jahrestag des Mauerbaus" und führt dabei u.a. aus:
"Wer am 13. August 1961 das Radio einschaltete, dem fuhr ein gewaltiger Schrecken in die Glieder - die Sonntagsstimmung war dahin. Die Sender verkündeten, dass über Nacht DDR-Kampfgruppen, Volkspolizei und militärische Einheiten die innerstädtische Grenze zwischen der DDR und West-Berlin abgeriegelt hatten - durch Bau von Zäunen und Barrikaden, durch Kappung aller Verkehrswege.
Die Menschen in Deutschland, insbesondere die Berlinerinnen und Berliner, waren schockiert, verunsichert, empört. Es gab spontane Protestaktionen an den geschlossenen Übergängen in der Wollankstraße, in der Warschauer Straße, am Brandenburger Tor. Doch diese wurden von der Polizei schnell aufgelöst.
Bereits am 13. August 1961 spielten sich dramatische Szenen an der Grenze ab. Verzweifelte Menschen riskierten ihr Leben bei dem Versuch, die Sperranlagen zu überwinden. Wir alle kennen die unerträglichen Bilder von damals: Menschen, die sich westseitig aus ihren Häusern abseilen, Menschen, die sich in die Rettungstücher der West-Berliner Feuerwehr fallen lassen, Menschen, die auch ohne jede Sicherung aus dem Fenster springen - sie alle in größter Verunsicherung und Angst.
Die ersten Opfer dieser Grenze waren Rudolf Urban und Ida Siekmann. Sie stürzten, noch im August 61, bei ihrer Flucht aus Häusern an der Bernauer Straße in den Tod. Die Häuser wurden später gesprengt.
Vom ersten Tag an war die Berliner Mauer ein untrügliches Symbol für menschliches Leid, für die gewaltsame Trennung von Familien, von Liebenden, von Freunden, von Kollegen. Vom ersten Tag an war die Berliner Mauer steingewordene Metapher einer menschenverachtenden Politik.
Die SED-Führung und ihre Ideologen stilisierten die abgesperrte Grenze zum "Antifaschistischen Schutzwall". Dieser sollte einen angeblich drohenden Präventivkrieg der Westmächte vereiteln helfen und die politische Handlungsfähigkeit der DDR unter Beweis stellen.
Doch in Wirklichkeit kam der brutalen Grenze eine andere Funktion zu: Sie sollte nicht das Eindringen eines äußeren Feindes verhindern, im Gegenteil. Sie sollte die Fluchtwelle der Ostdeutschen stoppen - ein für alle Mal.
Über 2,5 Millionen Menschen hatten zwischen der Staatsgründung der DDR im Oktober 1949 und dem Mauerbau das Land verlassen - für den SED-Staat eine vernichtende Abstimmung mit den Füßen. Jeder zweite Flüchtling war unter 25 Jahre alt. Neben den jungen gingen vor allem die gut ausgebildeten Menschen weg. Und das hieß damals: weg für immer. Mit Wiedereinreise auf Besuch war nicht zu rechnen.
Die SED-Führung wusste die vermeintlich Schuldigen für diese Fluchtwelle zu benennen: Schuld hatten "die anderen", Schuld hatte der "Klassenfeind". Die SED machte "Kindesräuber", "Kopfjäger" und "Menschenhändler" im Westen, in der Bundesrepublik für den Massenexodus verantwortlich. An ein gründliches Versagen der eigenen Politik, an den politischen Frust der Menschen im eigenen Land mochte im SED-Apparat niemand glauben.
Die mentalen, lebensweltlichen und politischen Folgen des Mauerbaus für die Menschen in der DDR waren am 13. August 61 noch kaum abzuschätzen. Viele dachten, der absurde Spuk sei bald vorbei, die "geschlossene Gesellschaft" sei eine Fiktion. Doch sie sahen sich getäuscht - für 28 lange Jahre.
...
Die Selbstbefreiung der Ostdeutschen, der Fall der Mauer, der Aufbruch zur Einheit - das war eine euphorische, eine herrliche Zeit. Heute wissen wir: Für manch einen war es auch eine Zeit neuer Illusionen, unrealistischer Erwartungen, nicht einlösbarer Hoffnungen. Nicht alle Träume reiften, nicht alle Träume konnten reifen.
Dennoch: Für Millionen von Menschen, und ich bekenne mich sehr gerne zu ihnen, zählt das Erleben des Mauerfalls zu den schönsten, zu den wichtigsten Momenten ihrer Biographie. So wie 28 Jahre zuvor - allerdings in genauer Umkehrung der Gefühlslage - der Mauerbau für Millionen Deutsche einen äußerst schmerzhaften biographischen Einschnitt bedeutete, einen Bruch in ihrer Lebensplanung, eine schwere Belastung für ihre familiären und freundschaftlichen Bindungen.
Die Revolution in der DDR, die 89/90 zum Fall der Mauer und in die Einheit führte, hatte viele Väter und Mütter, denen unser Herzensdank gebührt - und zwar nicht nur an den üblichen Gedenk- und Feiertagen: Dazu zählt die westdeutsche Entspannungspolitik von Willy Brandt bis Helmut Kohl, dazu zählen die Gewerkschaft Solidarnosc in Polen, die den Runden Tisch erfand, Michael Gorbatschow, der dem Kalten Krieg den Rücken kehrte, die Ungarn, die durchlässige Schneisen in ihren Grenzzaun schnitten, die mutigen Bürgerrechtler in Berlin, Leipzig, Jena und anderen Städten.
Doch die gebotene historische Chance ergreifen, die starren Verhältnisse im Lande aufbrechen, politische Änderungen herbei demonstrieren - das mussten die DDR-Bürger selbst. Ihr eigener Protest, ihr eigenes Tun war elementare Voraussetzung dafür, dass die Mauer fallen konnte, dass die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und die Nachbarn in Europa den deutsch-deutschen Wunsch nach Herstellung der staatlichen Einheit akzeptierten.
Der Fall der Mauer war nicht nur ein symbolisches Ereignis ersten Ranges, das beispielhaft für Zivilcourage und für die Macht des Volkswillens steht. Der Fall der Mauer und die Herstellung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 veränderten das Nachkriegseuropa gründlich. Wir dürfen nicht vergessen: Erst mit dem 3. Oktober 1990 ist Deutschland in die volle völkerrechtliche Gleichberechtigung entlassen worden. Erst mit dem 3. Oktober 1990 und dem Ende der deutschen Teilung konnte der völkerrechtliche Schlussstrich unter den Zweiten Weltkrieg gezogen werden. Mehr noch: alle Grenzen um Deutschland herum sind heute wechselseitig anerkannt. Und das gab es in der deutschen Geschichte noch nie!
Deutschland ist heute eingebunden in die europäische und atlantische Gemeinschaft, zu denen auch unsere östlichen Partner gehören werden. Sie haben uns 1989/90 geholfen, und jetzt ist es an uns, ihnen zu helfen - ihnen zu helfen auf ihrem Weg in das europäische Bündnis.
Deutschland ist heute umzingelt von Freunden - auch das ist ein Novum in unserer Geschichte! Es wurde erst möglich, nachdem die Mauer ihren bedrohlichen Charakter, ihre aggressive Funktion endgültig verloren hatte. Die Mauer hat Geschichte geprägt und ist heute selbst Teil der Geschichte, Teil persönlicher Erinnerungen, auf immer bewahrt im kollektiven Gedächtnis.
In den letzten zehn, elf Jahren hat sich das Erscheinungsbild Berlins, des vereinten Berlins stark gewandelt. Die Stadt ist zusammen gewachsen - räumlich und baulich. Sie wächst unter Schmerzen und Widerborstigkeiten kulturell und mental zusammen. Der brutale Schnitt durch die Stadt, der einst ihren Alltag bestimmte - vom Verkehrsfluss bis zu den täglichen Gewohnheiten der Menschen in Ost und in West -, ist für Touristen und für junge Menschen nur noch schwer rekonstruierbar, der Geist jener Jahre nur schwer nachfühl-bar.
Die verständliche Freude über den Mauerfall hat dazu geführt, dass heute die Spuren dieser Grenze weitgehend aus dem Stadtbild verschwunden sind. Das Abräumen, das Einebnen dieser DDR-Hinterlassenschaft erfolgte überaus gründlich. Und das ist aus einem Grund auch bedauerlich: Es erschwert die Vermittlung eines authentischen Geschichtsbildes.
Gleichwohl: Wer sich heute über die doppelte Vergangenheit der Stadt Berlin, über die Schrecken und Folgen der jahrzehntelangen Teilung informieren will, findet vielfältige Anhaltspunkte, Informationsstellen, kleinere Gedenkorte. Die Narbe im Stadtkörper ist nicht verschwunden, und sie darf nicht verschwinden: Sie gehört zum Gesicht dieser Stadt. Sie erinnert an menschliches Leid.
Dass diese Erinnerung wachgehalten wird, verdanken wir wesentlich dem Engagement von Opferverbänden, freien Trägern, öffentlichen Institutionen, Kirchen, Stiftungen und einzelnen Persönlichkeiten. Sie alle leisten eine sehr verantwortliche, zumeist ehrenamtliche Arbeit, die allergrößten Respekt verdient.
Ihnen wird nichts geschenkt, oft nicht einmal die gebotene Aufmerksamkeit. Sie haben zu kämpfen gegen mancherlei handfeste Widerstände, gegen die Ignoranz und Gleichgültigkeit vieler Menschen, die nichts mehr hören wollen "von gestern", und sie haben zu kämpfen um finanzielle Unterstützung. Um so ermutigender sind, angesichts dieser Probleme, die Ergebnisse ihrer Sisyphus-Arbeit.
So wurde beispielsweise in den Innenstadtbezirken der Mauerverlauf mit doppelten Pflasterreihen im Straßenboden markiert. Illustrierte Informationstafeln weisen auf die Bedeutung der jeweiligen Orte hin. Die "Geschichtsmeile Berliner Mauer", zu der es endlich auch Kartenmaterial gibt, macht den ehemaligen Grenzverlauf und die damaligen Übergänge erfahrbar, nachvollziehbar. Dieser Lehrpfad führt zu den Mauer-Gedenkstätten und wird in den kommenden Monaten um zusätzliche Stationen erweitert.
Ein sehr anschaulicher und hart erkämpfter Ort der Erinnerung ist die Gedenkstätte Bernauer Straße, die auf dem ehemaligen Todesstreifen zwischen den Bezirken Mitte und Wedding einen räumlichen Eindruck von den Grenzanlagen vermittelt. Die notwendigen historischen Informationen findet der Besucher im dazugehörigen "Dokumentationszentrum Berliner Mauer".
Spuren des Grenzregimes lassen sich an vielen Ecken Berlins entdecken - an der Oberbaumbrücke, am ehemaligen Übergang Bornholmer Straße, am baulich und ästhetisch verfremdeten "Checkpoint Charly". Und auch hier, am Friedrich-Ebert-Platz, wird die Erinnerung wach gehalten. Jeder Besucher, der vom Brandenburger Tor kommend in den Reichstag geht, wird durch weiße Mahnkreuze auf der Parkseite an das traurige Schicksal der Maueropfer erinnert.
Ein anderes, ebenso kenntliches Symbol ist der Wachturm am Potsdamer Platz. Von ehemals 302 Türmen dieser Art sind heute nur drei erhalten, einer davon im Stadtzentrum. Ich finde, dieser Wachturm darf nicht zerstört oder "zurückgebaut" werden, auch wenn das Grundstück noch so attraktiv sein sollte für Tiefgaragen und andere Bauvorhaben. Wir haben eine politische Verantwortung nicht nur für die Stadtbebauung, sondern auch für unsere Geschichte. Und in dieser wurde schon gründlich genug rasiert.
Wir brauchen diese authentischen Gedenkorte. Von ihnen darf und soll Irritation ausgehen, und sie dürfen im heute schicken Stadtraum ruhig wie eine Deformation oder wie eine Wunde wirken. Gedenkorte bedürfen nicht der Ästhetisierung, der Unterordnung unter andere Zwecke, und sie lassen sich nicht nach Geld bemessen.
Die Aufgabe von Gedenkorten und von Gedenkveran-staltungen ist es, gedankliche Anstöße zu geben. Den Schrecken in all seinen Dimensionen können sie nicht reproduzieren. Sie können Denkprozesse auslösen. Sie können die Erinnerung an Geschichte wachhalten. Sie können auf eine subtile Weise vermitteln, welche historischen Verwerfungen das Leben von Generationen geprägt hat, das Leben der Eltern und, vermittelt über sie, auch das Leben der Kinder. Die Kinder können verstehen lernen, warum ihre Vorfahren so oder so handelten. Und sie können noch gezieltere Fragen stellen: Warum hast Du dich so oder so verhalten? Warum hast Du dieses getan und jenes unterlassen? Und wenn dies geschieht, dann kann Erinnerungsarbeit auch Gründe für heutiges Verhalten liefern. Dann ist Erinnerungsarbeit ein lebendiger, ein kommunikativer, ein heilsamer Prozess, aus dem Verant-wortung für die Zukunft erwachsen kann.
In diesem Sinne danke ich allen, die sich an den Veranstaltungen zum 40. Jahrestag des Mauerbaus beteiligen. Stellvertretend danke ich der Bundeszentrale für politische Bildung, dem Deutschlandfunk, dem Dokumentationszentrum Berliner Mauer, der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur sowie dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam."
Bundestagspräsident Wolfgang Thierse eröffnet am Sonntag, 17. Juni, in Berlin (Friedrich-Ebert-Platz) die Veranstaltung "13. August 1961 - 40. Jahrestag des Mauerbaus" und führt dabei u.a. aus:
"Wer am 13. August 1961 das Radio einschaltete, dem fuhr ein gewaltiger Schrecken in die Glieder - die Sonntagsstimmung war dahin. Die Sender verkündeten, dass über Nacht DDR-Kampfgruppen, Volkspolizei und militärische Einheiten die innerstädtische Grenze zwischen der DDR und West-Berlin abgeriegelt hatten - durch Bau von Zäunen und Barrikaden, durch Kappung aller Verkehrswege.
Die Menschen in Deutschland, insbesondere die Berlinerinnen und Berliner, waren schockiert, verunsichert, empört. Es gab spontane Protestaktionen an den geschlossenen Übergängen in der Wollankstraße, in der Warschauer Straße, am Brandenburger Tor. Doch diese wurden von der Polizei schnell aufgelöst.
Bereits am 13. August 1961 spielten sich dramatische Szenen an der Grenze ab. Verzweifelte Menschen riskierten ihr Leben bei dem Versuch, die Sperranlagen zu überwinden. Wir alle kennen die unerträglichen Bilder von damals: Menschen, die sich westseitig aus ihren Häusern abseilen, Menschen, die sich in die Rettungstücher der West-Berliner Feuerwehr fallen lassen, Menschen, die auch ohne jede Sicherung aus dem Fenster springen - sie alle in größter Verunsicherung und Angst.
Die ersten Opfer dieser Grenze waren Rudolf Urban und Ida Siekmann. Sie stürzten, noch im August 61, bei ihrer Flucht aus Häusern an der Bernauer Straße in den Tod. Die Häuser wurden später gesprengt.
Vom ersten Tag an war die Berliner Mauer ein untrügliches Symbol für menschliches Leid, für die gewaltsame Trennung von Familien, von Liebenden, von Freunden, von Kollegen. Vom ersten Tag an war die Berliner Mauer steingewordene Metapher einer menschenverachtenden Politik.
Die SED-Führung und ihre Ideologen stilisierten die abgesperrte Grenze zum "Antifaschistischen Schutzwall". Dieser sollte einen angeblich drohenden Präventivkrieg der Westmächte vereiteln helfen und die politische Handlungsfähigkeit der DDR unter Beweis stellen.
Doch in Wirklichkeit kam der brutalen Grenze eine andere Funktion zu: Sie sollte nicht das Eindringen eines äußeren Feindes verhindern, im Gegenteil. Sie sollte die Fluchtwelle der Ostdeutschen stoppen - ein für alle Mal.
Über 2,5 Millionen Menschen hatten zwischen der Staatsgründung der DDR im Oktober 1949 und dem Mauerbau das Land verlassen - für den SED-Staat eine vernichtende Abstimmung mit den Füßen. Jeder zweite Flüchtling war unter 25 Jahre alt. Neben den jungen gingen vor allem die gut ausgebildeten Menschen weg. Und das hieß damals: weg für immer. Mit Wiedereinreise auf Besuch war nicht zu rechnen.
Die SED-Führung wusste die vermeintlich Schuldigen für diese Fluchtwelle zu benennen: Schuld hatten "die anderen", Schuld hatte der "Klassenfeind". Die SED machte "Kindesräuber", "Kopfjäger" und "Menschenhändler" im Westen, in der Bundesrepublik für den Massenexodus verantwortlich. An ein gründliches Versagen der eigenen Politik, an den politischen Frust der Menschen im eigenen Land mochte im SED-Apparat niemand glauben.
Die mentalen, lebensweltlichen und politischen Folgen des Mauerbaus für die Menschen in der DDR waren am 13. August 61 noch kaum abzuschätzen. Viele dachten, der absurde Spuk sei bald vorbei, die "geschlossene Gesellschaft" sei eine Fiktion. Doch sie sahen sich getäuscht - für 28 lange Jahre.
...
Die Selbstbefreiung der Ostdeutschen, der Fall der Mauer, der Aufbruch zur Einheit - das war eine euphorische, eine herrliche Zeit. Heute wissen wir: Für manch einen war es auch eine Zeit neuer Illusionen, unrealistischer Erwartungen, nicht einlösbarer Hoffnungen. Nicht alle Träume reiften, nicht alle Träume konnten reifen.
Dennoch: Für Millionen von Menschen, und ich bekenne mich sehr gerne zu ihnen, zählt das Erleben des Mauerfalls zu den schönsten, zu den wichtigsten Momenten ihrer Biographie. So wie 28 Jahre zuvor - allerdings in genauer Umkehrung der Gefühlslage - der Mauerbau für Millionen Deutsche einen äußerst schmerzhaften biographischen Einschnitt bedeutete, einen Bruch in ihrer Lebensplanung, eine schwere Belastung für ihre familiären und freundschaftlichen Bindungen.
Die Revolution in der DDR, die 89/90 zum Fall der Mauer und in die Einheit führte, hatte viele Väter und Mütter, denen unser Herzensdank gebührt - und zwar nicht nur an den üblichen Gedenk- und Feiertagen: Dazu zählt die westdeutsche Entspannungspolitik von Willy Brandt bis Helmut Kohl, dazu zählen die Gewerkschaft Solidarnosc in Polen, die den Runden Tisch erfand, Michael Gorbatschow, der dem Kalten Krieg den Rücken kehrte, die Ungarn, die durchlässige Schneisen in ihren Grenzzaun schnitten, die mutigen Bürgerrechtler in Berlin, Leipzig, Jena und anderen Städten.
Doch die gebotene historische Chance ergreifen, die starren Verhältnisse im Lande aufbrechen, politische Änderungen herbei demonstrieren - das mussten die DDR-Bürger selbst. Ihr eigener Protest, ihr eigenes Tun war elementare Voraussetzung dafür, dass die Mauer fallen konnte, dass die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs und die Nachbarn in Europa den deutsch-deutschen Wunsch nach Herstellung der staatlichen Einheit akzeptierten.
Der Fall der Mauer war nicht nur ein symbolisches Ereignis ersten Ranges, das beispielhaft für Zivilcourage und für die Macht des Volkswillens steht. Der Fall der Mauer und die Herstellung der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 veränderten das Nachkriegseuropa gründlich. Wir dürfen nicht vergessen: Erst mit dem 3. Oktober 1990 ist Deutschland in die volle völkerrechtliche Gleichberechtigung entlassen worden. Erst mit dem 3. Oktober 1990 und dem Ende der deutschen Teilung konnte der völkerrechtliche Schlussstrich unter den Zweiten Weltkrieg gezogen werden. Mehr noch: alle Grenzen um Deutschland herum sind heute wechselseitig anerkannt. Und das gab es in der deutschen Geschichte noch nie!
Deutschland ist heute eingebunden in die europäische und atlantische Gemeinschaft, zu denen auch unsere östlichen Partner gehören werden. Sie haben uns 1989/90 geholfen, und jetzt ist es an uns, ihnen zu helfen - ihnen zu helfen auf ihrem Weg in das europäische Bündnis.
Deutschland ist heute umzingelt von Freunden - auch das ist ein Novum in unserer Geschichte! Es wurde erst möglich, nachdem die Mauer ihren bedrohlichen Charakter, ihre aggressive Funktion endgültig verloren hatte. Die Mauer hat Geschichte geprägt und ist heute selbst Teil der Geschichte, Teil persönlicher Erinnerungen, auf immer bewahrt im kollektiven Gedächtnis.
In den letzten zehn, elf Jahren hat sich das Erscheinungsbild Berlins, des vereinten Berlins stark gewandelt. Die Stadt ist zusammen gewachsen - räumlich und baulich. Sie wächst unter Schmerzen und Widerborstigkeiten kulturell und mental zusammen. Der brutale Schnitt durch die Stadt, der einst ihren Alltag bestimmte - vom Verkehrsfluss bis zu den täglichen Gewohnheiten der Menschen in Ost und in West -, ist für Touristen und für junge Menschen nur noch schwer rekonstruierbar, der Geist jener Jahre nur schwer nachfühl-bar.
Die verständliche Freude über den Mauerfall hat dazu geführt, dass heute die Spuren dieser Grenze weitgehend aus dem Stadtbild verschwunden sind. Das Abräumen, das Einebnen dieser DDR-Hinterlassenschaft erfolgte überaus gründlich. Und das ist aus einem Grund auch bedauerlich: Es erschwert die Vermittlung eines authentischen Geschichtsbildes.
Gleichwohl: Wer sich heute über die doppelte Vergangenheit der Stadt Berlin, über die Schrecken und Folgen der jahrzehntelangen Teilung informieren will, findet vielfältige Anhaltspunkte, Informationsstellen, kleinere Gedenkorte. Die Narbe im Stadtkörper ist nicht verschwunden, und sie darf nicht verschwinden: Sie gehört zum Gesicht dieser Stadt. Sie erinnert an menschliches Leid.
Dass diese Erinnerung wachgehalten wird, verdanken wir wesentlich dem Engagement von Opferverbänden, freien Trägern, öffentlichen Institutionen, Kirchen, Stiftungen und einzelnen Persönlichkeiten. Sie alle leisten eine sehr verantwortliche, zumeist ehrenamtliche Arbeit, die allergrößten Respekt verdient.
Ihnen wird nichts geschenkt, oft nicht einmal die gebotene Aufmerksamkeit. Sie haben zu kämpfen gegen mancherlei handfeste Widerstände, gegen die Ignoranz und Gleichgültigkeit vieler Menschen, die nichts mehr hören wollen "von gestern", und sie haben zu kämpfen um finanzielle Unterstützung. Um so ermutigender sind, angesichts dieser Probleme, die Ergebnisse ihrer Sisyphus-Arbeit.
So wurde beispielsweise in den Innenstadtbezirken der Mauerverlauf mit doppelten Pflasterreihen im Straßenboden markiert. Illustrierte Informationstafeln weisen auf die Bedeutung der jeweiligen Orte hin. Die "Geschichtsmeile Berliner Mauer", zu der es endlich auch Kartenmaterial gibt, macht den ehemaligen Grenzverlauf und die damaligen Übergänge erfahrbar, nachvollziehbar. Dieser Lehrpfad führt zu den Mauer-Gedenkstätten und wird in den kommenden Monaten um zusätzliche Stationen erweitert.
Ein sehr anschaulicher und hart erkämpfter Ort der Erinnerung ist die Gedenkstätte Bernauer Straße, die auf dem ehemaligen Todesstreifen zwischen den Bezirken Mitte und Wedding einen räumlichen Eindruck von den Grenzanlagen vermittelt. Die notwendigen historischen Informationen findet der Besucher im dazugehörigen "Dokumentationszentrum Berliner Mauer".
Spuren des Grenzregimes lassen sich an vielen Ecken Berlins entdecken - an der Oberbaumbrücke, am ehemaligen Übergang Bornholmer Straße, am baulich und ästhetisch verfremdeten "Checkpoint Charly". Und auch hier, am Friedrich-Ebert-Platz, wird die Erinnerung wach gehalten. Jeder Besucher, der vom Brandenburger Tor kommend in den Reichstag geht, wird durch weiße Mahnkreuze auf der Parkseite an das traurige Schicksal der Maueropfer erinnert.
Ein anderes, ebenso kenntliches Symbol ist der Wachturm am Potsdamer Platz. Von ehemals 302 Türmen dieser Art sind heute nur drei erhalten, einer davon im Stadtzentrum. Ich finde, dieser Wachturm darf nicht zerstört oder "zurückgebaut" werden, auch wenn das Grundstück noch so attraktiv sein sollte für Tiefgaragen und andere Bauvorhaben. Wir haben eine politische Verantwortung nicht nur für die Stadtbebauung, sondern auch für unsere Geschichte. Und in dieser wurde schon gründlich genug rasiert.
Wir brauchen diese authentischen Gedenkorte. Von ihnen darf und soll Irritation ausgehen, und sie dürfen im heute schicken Stadtraum ruhig wie eine Deformation oder wie eine Wunde wirken. Gedenkorte bedürfen nicht der Ästhetisierung, der Unterordnung unter andere Zwecke, und sie lassen sich nicht nach Geld bemessen.
Die Aufgabe von Gedenkorten und von Gedenkveran-staltungen ist es, gedankliche Anstöße zu geben. Den Schrecken in all seinen Dimensionen können sie nicht reproduzieren. Sie können Denkprozesse auslösen. Sie können die Erinnerung an Geschichte wachhalten. Sie können auf eine subtile Weise vermitteln, welche historischen Verwerfungen das Leben von Generationen geprägt hat, das Leben der Eltern und, vermittelt über sie, auch das Leben der Kinder. Die Kinder können verstehen lernen, warum ihre Vorfahren so oder so handelten. Und sie können noch gezieltere Fragen stellen: Warum hast Du dich so oder so verhalten? Warum hast Du dieses getan und jenes unterlassen? Und wenn dies geschieht, dann kann Erinnerungsarbeit auch Gründe für heutiges Verhalten liefern. Dann ist Erinnerungsarbeit ein lebendiger, ein kommunikativer, ein heilsamer Prozess, aus dem Verant-wortung für die Zukunft erwachsen kann.
In diesem Sinne danke ich allen, die sich an den Veranstaltungen zum 40. Jahrestag des Mauerbaus beteiligen. Stellvertretend danke ich der Bundeszentrale für politische Bildung, dem Deutschlandfunk, dem Dokumentationszentrum Berliner Mauer, der Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur sowie dem Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam."
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Quelle:
http://www.bundestag.de/bic/presse/2001/pz_010618