Pressemitteilung
Stand: 17.11.2002
Ansprache von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der zentralen Gedenkfeier des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V. am 17.11.2002 (Reichstagsgebäude)
Anrede,
im Prolog zu seinem Theaterstück "Draußen vor der Tür" beschreibt Wolfgang Borchert die Situation seines Helden: "Ein Mann kommt nach Deutschland. Er war lange weg, der Mann. Sehr lange. Vielleicht zu lange. Und er kommt ganz anders wieder, als er wegging."
Beckmann, Wolfgang Borcherts Figur, kehrte aus dem Zweiten Weltkrieg zurück, doch bereits 25 Jahre zuvor, im Jahre 1920 waren Zehntausende aus dem Ersten Weltkrieg ebenfalls "als andere" heimgekommen. Sie waren heimgekommen aus dem ersten Krieg der Geschichte, in dem Massenvernichtungswaffen zum Einsatz kamen - ein Krieg, der über 10 Millionen Menschen das Leben kostete. Die Heimkehrer hatten die Kälte, das Granatfeuer und das Giftgas überlebt, an denen ihre Kameraden ebenso elend zugrunde gegangen waren wie die Schlachtopfer im gegenüberliegenden, oft nur wenige Meter entfernten Graben, die angeblich ihre Erbfeinde waren.
Weil so viele von ihnen "als andere" zurückgekommen waren, wurde im Jahre 1920 der Volkstrauertag auf Initiative des ein Jahr zuvor gegründeten "Volksbundes deutscher Kriegsgräberfürsorge" ins Leben gerufen. 1922, vor achtzig Jahren, fand die Gedenkfeier erstmals hier im Reichstagsgebäude statt. Als ich vor drei Jahren zum ersten Mal hier vor Ihnen sprechen durfte, habe ich die wechselvolle Geschichte dieses Tages nachgezeichnet. Ich habe damals daran erinnert, dass die Hoffnung, die die Initiatoren mit diesem Tag verbunden hatten, sich im Europa der zwanziger und dreißiger Jahre nicht erfüllen sollte - die Hoffnung, dass der Gedenktag nicht nur Raum für Trauer und Erinnerung bieten, sondern auch jene "Abkehr vom Hass" befördern möge, zu der Reichstagspräsident Paul Löbe in seiner Rede 1922 so eindringlich aufgerufen hatte.
Die Weimarer Republik, wirtschaftlich instabil und ohne feste demokratische Verankerung, taumelte in die Arme Hitlers, die Idee des Volkstrauertages verkam zur undifferenzierten Heldenmystifizierung und der Gedanke der Völkerfreundschaft verkehrte sich in Rassenwahn und Völkermord. Das 20. Jahrhundert erlebte nach nur 21 Jahren einen weiteren, noch schrecklicheren Weltkrieg, der den ersten um ein Vielfaches an Opfern und Zerstörung überbot und über 55 Millionen Tote zurückließ. Vor sechzig Jahren ist die Schlacht um Stalingrad zum Synonym eines menschenverachtenden Vernichtungskrieges geworden, der verbrannte Erde und vernichtete Leben zurückließ.
Seit der "Volksbund" im Jahre 1949 - weil er sich nicht abschrecken ließ vom Missbrauch einer richtigen Idee - erneut die Initiative ergriffen, Bundespräsident Theodor Heuss sie aufgegriffen und den Volkstrauertag zum nationalen Trauertag erklärt hat, erfüllt dieser Tag und erfüllt dieser Verband zwei für unsere Gesellschaft wichtige Aufgaben.
Der Gedenktag hilft - auch heute noch - vielen Familien der Toten, dem Schmerz und der Trauer eine Zeit und an den Gräbern auch einen Ort zu geben - der Trauer über den Verlust des Vaters, Bruders und Sohnes, der Mutter, Schwester, Tochter, der Verwandten, Nachbarn und Freunde. Neben der Hilfe für die Hinterbliebenen der Gefallenen hat die Friedensarbeit des Volksbundes mehr und mehr an Bedeutung gewonnen. Die wichtigsten Adressaten dieser Friedensarbeit sind seit den fünfziger Jahren in immer differenzierterer Form junge Menschen aus ganz Europa. Gemeinsam pflegen Jugendliche aus den Ländern der damaligen Kriegsgegner und aus Staaten, die bis vor 12 Jahren noch durch den "eisernen Vorhang" getrennt waren, Kriegsgräber in ganz Europa.
Die Schrecken des Krieges, das Leid der Millionen von Opfern wollen und dürfen wir nicht vergessen. Aber im Wissen um das Geschehene wollen wir an einer gemeinsamen Zukunft bauen. Eine Zukunft, in der wir Partner, Nachbarn, Freunde sind - in einem friedlichen und demokratischen Europa. Erst im vergangenen Jahr konnten Kriegsgräberstätten in Nadolice bei Breslau, in Mamonowo bei Kaliningrad, sowie in Estland und Ungarn eingeweiht werden. Diese Orte des Erinnerns sind weitere sichtbare Zeichen dafür, dass Europa über die Gräben der Vergangenheit hinweg langsam zusammenfindet.
Die gemeinsame Gräberpflege bildet den Kern einer Vielzahl von Begegnungen, Gesprächsreihen und Projekten der internationalen Jugendarbeit. Mit ihr pflanzt der "Volksbund" die Gedanken des Friedens, der Völkerverständigung und der Toleranz dort, wo wir die größte Hoffnung auf ihre positive Wirkung haben können - in den Köpfen und Herzen der jungen Generation. Gerade diese erfolgreiche Jugendarbeit des "Volksbundes" zeigt, dass sein Selbstverständnis schon lange über die Erinnerungsarbeit hinausweist. Natürlich bleibt es wichtig, dass der Volkstrauertag an vergangene Kriege und Opfer erinnert, gerade weil die persönlichen Erfahrungen verblassen, immer weniger Zeitzeugen, Täter und Opfer unter uns sind. Doch wenn wir die Entwicklung seit 1945 betrachten, hat beinahe jedes Jahr neue, furchtbare Gründe geliefert, nicht müde zu werden im Einsatz für Frieden, Toleranz und gewaltfreie Konfliktbewältigung.
Eine Vielzahl von Krisenherden und Kriegen haben uns seit 1945 immer wieder verdeutlicht, wie weit die Welt auch heute noch davon entfernt ist, Konflikte mit zivilen Mitteln zu lösen. Zwar sind wir Deutschen - trotz der Bedrohung des kalten Krieges und der Teilung unseres Vaterlandes - selbst von Krieg verschont geblieben. Aber in unserer unmittelbaren Nachbarschaft auf dem Balkan, im Kaukasus sind grausame Kriege ausgebrochen. Und längst ist die Gefahr nicht gebannt, dass unsere Hoffnungen auf Frieden im Nahen Osten in fast täglicher, blutiger Gewalt untergehen.
Gerade um lokale Friedensbemühungen in Konfliktregionen wirksam werden zu lassen, bedarf es deshalb neben politischer Bemühungen auch zivilgesellschaftlichen Engagements - wie des "zivilen Friedensdienstes". Als Präsident des Deutschen Bundestages freut es mich, dass eine breite Mehrheit des Parlaments sich zu dieser Friedensarbeit bekannt hat und dass auch das Engagement des VdK weiter Unterstützung erfährt. Denn diese Arbeit wird auch in der Zukunft dringend gebraucht werden in einer Welt, in der es leider keine einfachen Antworten gibt, wenn nach den Ursachen von Gewalt gefragt wird.
Am Volkstrauertag gedenken wir der Opfer zweier Weltkriege und des Terrorismus. Haben bisher vor allem die leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit unsere Vorstellung vom Gesicht des Krieges geprägt, wurde dieses Bild im vergangenen Jahr einer dramatischen Zäsur unterworfen. Es hat mit der terroristischen Bedrohung, die am 11. September 2001 ihr schreckliches Antlitz gezeigt hat, eine Wandlung erfahren. Seit den Massenmordanschlägen von New York und Washington ist in unserem politischen Koordinatensystem nichts mehr so, wie es war. Aber auch die blutigen Attentate von Djerba, Bali und Moskau haben uns gezeigt, mit welcher Menschenverachtung Terroristen ihre verbrecherischen Ziele verfolgen.
Nach der Überwindung der Gegensätze zwischen Ost und West haben wir aufs Grausamste lernen müssen, dass unsere Friedensordnung neue verwundbare Stellen hat. Nicht Staaten und politische Machtsysteme stehen sich gegenüber - wir sind konfrontiert mit hasserfüllten islamistischen Terroristen, denen jedes Mittel recht und keines brutal genug zu sein scheint zur Verfolgung ihrer verbrecherischen Ziele. Um so wichtiger ist es, den islamistischen Hass nicht gleichzusetzen mit der Kultur und Religion des Islams. Damit würden wir gerade jenen Kampf oder gar Krieg der Kulturen schüren, den die Terroristen erzwingen wollen.
Bisher haben wir Entspannung und Völkerverständigung als die wichtigsten Mittel angesehen, Kriegen vorzubeugen. Nun müssen wir diese Instrumente ergänzen durch die internationale Zusammenarbeit gegen den Terror - und durch die Bekämpfung von Armut, Not und Vertreibung in den armen Ländern der Welt. Auf diese Not gründen die Terroristen ihre Agitation gegen den Westen. Engagierte Entwicklungspolitik ist deshalb zugleich ein Beitrag zur Vermeidung neuer Konflikte und Kriege.
Wolfgang Borcherts Stück endet mit dem verzweifelten Ausruf seines, des Kämpfens und des Lebens müden, traurigen Helden "Gibt denn keiner, keiner Antwort?" Der Dramatiker richtete diese Frage im Jahr 1946 an seine Generation. Sie war ein Appell, nicht erneut über unbeantwortete Fragen, über ungelöste Konflikte so lange hinweg zu gehen, bis die Antwort wiederum ein neuer Krieg sein werde.
Aber Borcherts Appell gilt auch heute, richtet sich ebenso an uns. Der 11. September 2001 hat uns nicht nur vor Augen geführt, sondern gleichsam in die Augen gebrannt, welche Aktualität und Brisanz in ihm liegen.
Hier im Reichstagsgebäude sind heute viele versammelt, die einen Beitrag leisten können, um gemeinsame Antworten auf diese neuen Herausforderungen zu finden, damit sich Wolfgang Borcherts pessimistische Perspektive nicht bewahrheitet. An diese Aufgabe mahnt uns heute - wie in jedem Jahr - der "Volkstrauertag". Es ist gut, dass es auch in unserer immer schnelllebigeren Zeit einen solchen Tag des Innehaltens, des Gedenkens gibt. Denn die Aufgabe, für die er steht, ist die wichtigste überhaupt: die Arbeit für den Frieden.
im Prolog zu seinem Theaterstück "Draußen vor der Tür" beschreibt Wolfgang Borchert die Situation seines Helden: "Ein Mann kommt nach Deutschland. Er war lange weg, der Mann. Sehr lange. Vielleicht zu lange. Und er kommt ganz anders wieder, als er wegging."
Beckmann, Wolfgang Borcherts Figur, kehrte aus dem Zweiten Weltkrieg zurück, doch bereits 25 Jahre zuvor, im Jahre 1920 waren Zehntausende aus dem Ersten Weltkrieg ebenfalls "als andere" heimgekommen. Sie waren heimgekommen aus dem ersten Krieg der Geschichte, in dem Massenvernichtungswaffen zum Einsatz kamen - ein Krieg, der über 10 Millionen Menschen das Leben kostete. Die Heimkehrer hatten die Kälte, das Granatfeuer und das Giftgas überlebt, an denen ihre Kameraden ebenso elend zugrunde gegangen waren wie die Schlachtopfer im gegenüberliegenden, oft nur wenige Meter entfernten Graben, die angeblich ihre Erbfeinde waren.
Weil so viele von ihnen "als andere" zurückgekommen waren, wurde im Jahre 1920 der Volkstrauertag auf Initiative des ein Jahr zuvor gegründeten "Volksbundes deutscher Kriegsgräberfürsorge" ins Leben gerufen. 1922, vor achtzig Jahren, fand die Gedenkfeier erstmals hier im Reichstagsgebäude statt. Als ich vor drei Jahren zum ersten Mal hier vor Ihnen sprechen durfte, habe ich die wechselvolle Geschichte dieses Tages nachgezeichnet. Ich habe damals daran erinnert, dass die Hoffnung, die die Initiatoren mit diesem Tag verbunden hatten, sich im Europa der zwanziger und dreißiger Jahre nicht erfüllen sollte - die Hoffnung, dass der Gedenktag nicht nur Raum für Trauer und Erinnerung bieten, sondern auch jene "Abkehr vom Hass" befördern möge, zu der Reichstagspräsident Paul Löbe in seiner Rede 1922 so eindringlich aufgerufen hatte.
Die Weimarer Republik, wirtschaftlich instabil und ohne feste demokratische Verankerung, taumelte in die Arme Hitlers, die Idee des Volkstrauertages verkam zur undifferenzierten Heldenmystifizierung und der Gedanke der Völkerfreundschaft verkehrte sich in Rassenwahn und Völkermord. Das 20. Jahrhundert erlebte nach nur 21 Jahren einen weiteren, noch schrecklicheren Weltkrieg, der den ersten um ein Vielfaches an Opfern und Zerstörung überbot und über 55 Millionen Tote zurückließ. Vor sechzig Jahren ist die Schlacht um Stalingrad zum Synonym eines menschenverachtenden Vernichtungskrieges geworden, der verbrannte Erde und vernichtete Leben zurückließ.
Seit der "Volksbund" im Jahre 1949 - weil er sich nicht abschrecken ließ vom Missbrauch einer richtigen Idee - erneut die Initiative ergriffen, Bundespräsident Theodor Heuss sie aufgegriffen und den Volkstrauertag zum nationalen Trauertag erklärt hat, erfüllt dieser Tag und erfüllt dieser Verband zwei für unsere Gesellschaft wichtige Aufgaben.
Der Gedenktag hilft - auch heute noch - vielen Familien der Toten, dem Schmerz und der Trauer eine Zeit und an den Gräbern auch einen Ort zu geben - der Trauer über den Verlust des Vaters, Bruders und Sohnes, der Mutter, Schwester, Tochter, der Verwandten, Nachbarn und Freunde. Neben der Hilfe für die Hinterbliebenen der Gefallenen hat die Friedensarbeit des Volksbundes mehr und mehr an Bedeutung gewonnen. Die wichtigsten Adressaten dieser Friedensarbeit sind seit den fünfziger Jahren in immer differenzierterer Form junge Menschen aus ganz Europa. Gemeinsam pflegen Jugendliche aus den Ländern der damaligen Kriegsgegner und aus Staaten, die bis vor 12 Jahren noch durch den "eisernen Vorhang" getrennt waren, Kriegsgräber in ganz Europa.
Die Schrecken des Krieges, das Leid der Millionen von Opfern wollen und dürfen wir nicht vergessen. Aber im Wissen um das Geschehene wollen wir an einer gemeinsamen Zukunft bauen. Eine Zukunft, in der wir Partner, Nachbarn, Freunde sind - in einem friedlichen und demokratischen Europa. Erst im vergangenen Jahr konnten Kriegsgräberstätten in Nadolice bei Breslau, in Mamonowo bei Kaliningrad, sowie in Estland und Ungarn eingeweiht werden. Diese Orte des Erinnerns sind weitere sichtbare Zeichen dafür, dass Europa über die Gräben der Vergangenheit hinweg langsam zusammenfindet.
Die gemeinsame Gräberpflege bildet den Kern einer Vielzahl von Begegnungen, Gesprächsreihen und Projekten der internationalen Jugendarbeit. Mit ihr pflanzt der "Volksbund" die Gedanken des Friedens, der Völkerverständigung und der Toleranz dort, wo wir die größte Hoffnung auf ihre positive Wirkung haben können - in den Köpfen und Herzen der jungen Generation. Gerade diese erfolgreiche Jugendarbeit des "Volksbundes" zeigt, dass sein Selbstverständnis schon lange über die Erinnerungsarbeit hinausweist. Natürlich bleibt es wichtig, dass der Volkstrauertag an vergangene Kriege und Opfer erinnert, gerade weil die persönlichen Erfahrungen verblassen, immer weniger Zeitzeugen, Täter und Opfer unter uns sind. Doch wenn wir die Entwicklung seit 1945 betrachten, hat beinahe jedes Jahr neue, furchtbare Gründe geliefert, nicht müde zu werden im Einsatz für Frieden, Toleranz und gewaltfreie Konfliktbewältigung.
Eine Vielzahl von Krisenherden und Kriegen haben uns seit 1945 immer wieder verdeutlicht, wie weit die Welt auch heute noch davon entfernt ist, Konflikte mit zivilen Mitteln zu lösen. Zwar sind wir Deutschen - trotz der Bedrohung des kalten Krieges und der Teilung unseres Vaterlandes - selbst von Krieg verschont geblieben. Aber in unserer unmittelbaren Nachbarschaft auf dem Balkan, im Kaukasus sind grausame Kriege ausgebrochen. Und längst ist die Gefahr nicht gebannt, dass unsere Hoffnungen auf Frieden im Nahen Osten in fast täglicher, blutiger Gewalt untergehen.
Gerade um lokale Friedensbemühungen in Konfliktregionen wirksam werden zu lassen, bedarf es deshalb neben politischer Bemühungen auch zivilgesellschaftlichen Engagements - wie des "zivilen Friedensdienstes". Als Präsident des Deutschen Bundestages freut es mich, dass eine breite Mehrheit des Parlaments sich zu dieser Friedensarbeit bekannt hat und dass auch das Engagement des VdK weiter Unterstützung erfährt. Denn diese Arbeit wird auch in der Zukunft dringend gebraucht werden in einer Welt, in der es leider keine einfachen Antworten gibt, wenn nach den Ursachen von Gewalt gefragt wird.
Am Volkstrauertag gedenken wir der Opfer zweier Weltkriege und des Terrorismus. Haben bisher vor allem die leidvollen Erfahrungen der Vergangenheit unsere Vorstellung vom Gesicht des Krieges geprägt, wurde dieses Bild im vergangenen Jahr einer dramatischen Zäsur unterworfen. Es hat mit der terroristischen Bedrohung, die am 11. September 2001 ihr schreckliches Antlitz gezeigt hat, eine Wandlung erfahren. Seit den Massenmordanschlägen von New York und Washington ist in unserem politischen Koordinatensystem nichts mehr so, wie es war. Aber auch die blutigen Attentate von Djerba, Bali und Moskau haben uns gezeigt, mit welcher Menschenverachtung Terroristen ihre verbrecherischen Ziele verfolgen.
Nach der Überwindung der Gegensätze zwischen Ost und West haben wir aufs Grausamste lernen müssen, dass unsere Friedensordnung neue verwundbare Stellen hat. Nicht Staaten und politische Machtsysteme stehen sich gegenüber - wir sind konfrontiert mit hasserfüllten islamistischen Terroristen, denen jedes Mittel recht und keines brutal genug zu sein scheint zur Verfolgung ihrer verbrecherischen Ziele. Um so wichtiger ist es, den islamistischen Hass nicht gleichzusetzen mit der Kultur und Religion des Islams. Damit würden wir gerade jenen Kampf oder gar Krieg der Kulturen schüren, den die Terroristen erzwingen wollen.
Bisher haben wir Entspannung und Völkerverständigung als die wichtigsten Mittel angesehen, Kriegen vorzubeugen. Nun müssen wir diese Instrumente ergänzen durch die internationale Zusammenarbeit gegen den Terror - und durch die Bekämpfung von Armut, Not und Vertreibung in den armen Ländern der Welt. Auf diese Not gründen die Terroristen ihre Agitation gegen den Westen. Engagierte Entwicklungspolitik ist deshalb zugleich ein Beitrag zur Vermeidung neuer Konflikte und Kriege.
Wolfgang Borcherts Stück endet mit dem verzweifelten Ausruf seines, des Kämpfens und des Lebens müden, traurigen Helden "Gibt denn keiner, keiner Antwort?" Der Dramatiker richtete diese Frage im Jahr 1946 an seine Generation. Sie war ein Appell, nicht erneut über unbeantwortete Fragen, über ungelöste Konflikte so lange hinweg zu gehen, bis die Antwort wiederum ein neuer Krieg sein werde.
Aber Borcherts Appell gilt auch heute, richtet sich ebenso an uns. Der 11. September 2001 hat uns nicht nur vor Augen geführt, sondern gleichsam in die Augen gebrannt, welche Aktualität und Brisanz in ihm liegen.
Hier im Reichstagsgebäude sind heute viele versammelt, die einen Beitrag leisten können, um gemeinsame Antworten auf diese neuen Herausforderungen zu finden, damit sich Wolfgang Borcherts pessimistische Perspektive nicht bewahrheitet. An diese Aufgabe mahnt uns heute - wie in jedem Jahr - der "Volkstrauertag". Es ist gut, dass es auch in unserer immer schnelllebigeren Zeit einen solchen Tag des Innehaltens, des Gedenkens gibt. Denn die Aufgabe, für die er steht, ist die wichtigste überhaupt: die Arbeit für den Frieden.
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Quelle:
http://www.bundestag.de/bic/presse/2002/pz_021117