Das Parlament mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 09 - 10 / 28.02.2005
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Hans-Martin Schönherr-Mann

Derrick - Symbol sittlicher Ordnung

Ein ehemaliger TV-Intendant plädiert für mehr Fernsehverzicht

Vera Drombusch, Protagonistin einer der erfolgreichsten deutschen Fernsehserien, ist aus ihrer Mitte herausgetreten. Sie hat den Blick für das Ganze verloren. Die rechte Mitte als eine alte Metapher der aristotelischen Ethik spiegelt sich heute im Fernsehen: Denn Medium heißt Mitte; ergo stellen die Medien die Mitte der Gesellschaft dar. Die Welt ist definitiv in Ordnung, wenn der Mensch umgekehrt die Mitte der Medien ist.

Die Mitte zerfällt dagegen, wenn sich mit der Kommerzialisierung die Geschmacklosigkeit ausbreitet, sich die Medien nicht mehr auf den Menschen ausrichten. Bei solchen Thesen handelt es sich nicht um das bekannte Lamento vom Wertezerfall. Denn das Fernsehen und die moderne Mediengesellschaft werden von Dieter Stolte durchaus verteidigt, der von 1982 bis 2002 Intendant des ZDF war, heute Herausgeber der "Welt" und der "Berliner Morgenpost" ist.

1950 startete das Fernsehen in Deutschland mit dem Monopol der ARD. 1963 begann mit dem ZDF das öffentlich-rechtliche Oligopol. 1984 entstand das duale System aus öffentlich-rechtlichem und Privat-Fernsehen. Stolte hat als ZDF-Intendant die Entwicklung des Privatfernsehens von Anfang an begleitet. Das Buch erscheint folglich als eine Rechtfertigung der eigenen Tätigkeit, wie es auch ein lebhaftes Plädoyer für dieses duale System darstellt.

Moralische Perspektive

Natürlich spart Stolte nicht mit Kritik an der Konkurrenz. Dabei wählt er vornehmlich die moralische Perspektive und wirft den Programmmachern des Privatfernsehens eine eingeschränkte und rein ökonomische Sicht vor. Fernsehen trage aber eine totale Verantwortung, somit auch beispielsweise die Verantwortung für ethische Tabubrüche. Es könne sich daher nicht mit verändertem Moralverständnis der Bürger entschuldigen.

Infotainment beschleunigt eine negative Entwicklung, wenn dadurch die Grenzen zwischen Ernst und Spiel verschwimmen und der Zuschauer die Authentizität des Lebens nicht mehr richtig zu beurteilen vermag. Daher muss das Fernsehen seine Fernwirkungen beachten. Stolte beruft sich hierbei auf Hans Jonas, der mit seinem "Prinzip Verantwortung" 1979 eine Ethik für die technologische Zivilisation entwarf. So fordert Stolte auch vom Zuschauer Verzicht auf Medienkonsum. Es geht ihm darum, den ansonsten sich einstellenden Wandel im Menschenbild zu verhindern.

Daher plädiert Stolte für den Erhalt des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, weil dieser sich nicht am Markt, sondern am Menschen und am Gemeinwohl orientiere. Die Verantwortung eines ZDF-Intendanten gleiche der totalen Verantwortung des Politikers. Natürlich dürften ZDF und ARD nicht auf die Quote verzichten. Doch deren Ideal heiße Quote durch Qualität. Dabei gehe es um geschmackvolle Unterhaltung, die auch Haltung und Pflichtbewusstsein vermittele. Derrick verkörpert in diesem Sinne die sittliche Ordnung.

Abgesehen davon, dass manches in diesem Buch etwas schwarzweiß gemalt erscheint, drückt es vor allem die Sehnsucht nach einer stabilen sittlichen Ordnung aus, die ein Aristoteles vielleicht noch kannte, wenn der Mensch seine Mitte nur findet, indem er maßvoll handelt. Spätere Großgesellschaften, erst recht jene des 20. Jahrhunderts, bieten dem Einzelnen solche Überschaubarkeit nicht mehr, so dass sich das richtige Maß des jeweiligen individuellen Handelns nur selten noch verallgemeinern läßt. Um so mehr verwundert, dass just das Fernsehen zur Überschaubarkeit und zur rechten Mitte beitragen soll, wenn es doch an deren Auflösung beteiligt ist.

Beinahe staatsmännisch formuliert Stolte denn am Ende des Buches zehn Imperative für das Fernsehen, um dem Wandel des Menschenbildes zu widerstreiten. Trotz bedeutungsschwangerer Anlehnung ans mosaische Vorbild geraten die neuen zehn Fernseh-Gebote einerseits reichlich kompliziert und unübersichtlich. Auf den jeweiligen Punkt gebracht klingen sie eher banal: Kreativität wecken! Kultur pflegen!

Solidargemeinschaft stärken! Globalen Überblick liefern! Orientierungshilfe leisten! Das müssen die Kollegen von der privaten Konkurrenz nur noch beachten. Stolte sagt jedenfalls, wo es in der Mediengesellschaft lang geht.


Dieter Stolte, in Zusammenarbeit mit Joachim Haubrich

Wie das Fernsehen das Menschenbild verändert.

Verlag C.H. Beck, München 2004; 204 S., 19.90 Euro


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.