Als sich der Bundestag am 15. November 1990 zu einer Sondersitzung zur Irak-Frage einfand, hatte sich die Krise am Golf bereits zugespitzt: Nachdem im Juli irakische Truppen an der Grenze zu Kuwait aufmarschiert waren, hatte der Irak am 2. August das Nachbarland besetzt und es am 8. August schließlich annektiert - ungeachtet der Resolutionen des UN-Sicherheitsrates, die wiederholt den sofortigen Abzug der Streitkräfte aus dem Emirat forderten. Die USA und die Arabische Liga sandten daraufhin Truppen nach Saudi-Arabien. Ein Krieg rückte immer näher.
Als "Verhandlungsmasse" hielt der irakische Diktator Saddam Hussein damals tausende westliche Geiseln in Kuwait fest. Viele von ihnen, vor allem Briten und Amerikaner, mussten als "lebende Schutzschilde" in Hotels ausharren - sie sollten die US-Truppen von den zu erwartenden Angriffen abhalten.
Es war Alt-Bundeskanzler Willy Brandt, der in dieser angespannten Situation einen Alleingang wagte: In seiner Funktion als Präsident der Sozialistischen Internationale (SI) reiste er am 8. November 1990 auf Einladung Saddam Husseins nach Bagdad. Seine Zusage, sich mit dem Dikator zu einem Gedankenaustausch über die Golfkrise zu treffen, verband er mit der Forderung, die ausländischen Geiseln freizulassen. Und tatsächlich: Brandt erreichte, dass immerhin rund 200 Geiseln, 138 von ihnen Deutsche, das Land verlassen konnten.
Ein Erfolg, für den er nach seiner Rückkehr nicht nur gelobt wurde: Zwar dankten ihm durchweg alle Fraktionen im Bundestag für seinen persönlichen Einsatz, doch besser hätten es die Parlamentarier gefunden, Brandt wäre nicht auf eigene Faust in den Irak gefahren. "Wir hätten es lieber gesehen", betonte Michaela Geiger, Obfrau der CDU/CSU im Auswärtigen Ausschuss, "wenn diese Reise in eine EG- oder UN-Mission eingebunden worden wäre." So sei leider die Chance vertan worden, "die Solidarität der EG-Staaten aufrechtzuerhalten und - darüber hinaus - die Ausreise aller Geiseln zu erreichen".
Brandt wehrte sich gegen diesen Vorwurf. Er brauche, konterte er, "in Fragen internationaler Solidarität keinen Nachhilfeunterricht". Für ihn gelte immer noch der Satz, dass "humanitäre Bemühungen und gemeinsame Verantwortung im Sinne der Beschlüsse der Vereinten Nationen einander nicht ausschließen". "Wer weiß", sagte Brandt weiter, "dass die Golfregion, dass der mittlere Osten insgesamt, ein Pulverfass ist, müsste alles Erdenkliche unternehmen, um eine Entfesselung der militärischen Zerstörungspotentiale zu vermeiden."
Das sah Außenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) genauso: Er sprang im Namen der Bundesregierung für den Alt-Bundeskanzler in die Bresche und dankte ihm ausdrücklich für seinen Einsatz. Die Frage der Einheit sei, so Genscher zu den Vorwürfen Geigers, "wahrlich keine Entschuldigung für Untätigkeit, schon gar nicht im humanitären Bereich". Wenn es darum gehe, Menschen zu retten, spreche man mit denen, "die zu Recht oder zu Unrecht Verfügungsgewalt über das Schicksal dieser Menschen haben; das ist die Führung im Irak".
Doch trotz des Streits um Brandts Irak-Reise waren sich die Parteien einig über die Frage, wie sich Deutschland im Irak-Konflikt künftig verhalten sollte: In den Entschließungsanträgen der Fraktionen sprachen sie sich grundsätzlich für eine friedliche Lösung der Krise aus. So schlug die SPD vor, gemeinsam mit der Arabischen Liga, der Konferenz der Islamischen Staaten sowie mit Hilfe internationaler Konferenzen "den Weg zu einer gerechteren Friedensordnung" zu bereiten. Bündnis 90/ Die Grünen forderten, verstärkt auf die USA einzuwirken, um eine militärische Intervention zu verhindern.
Brandt verwies zudem auf die Möglichkeit, die Erfahrungen der "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE) in den mittleren Osten einzubringen - wenngleich man diese "nicht einfach oder schematisch" übertragen könne. Die irakische Führung habe dennoch, so Brandt, "einiges Interesse" an dieser Thematik gezeigt.
Der Alt-Kanzler und Ehrenvorsitzende der SPD hegte an diesem 15. November 1990 vor allem eine Hoffnung: dass sich angesichts der realen Kriegsgefahr die Staaten in der krisengeschüttelten Region eher zu Kompromissen bewegen ließen und sich aufeinanderzubewegten. Doch schon zwei Monate später versagte jede Diplomatie. Nach Ablauf aller UN-Ultimaten begannen die Allierten am 17. Januar 1991 irakische Ziele zu bombardieren - die Operation "Desert Storm" lief an.