Das Parlament mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen
Mit der Beilage aus Politik und Zeitgeschehen

Das Parlament
Nr. 48 / 28.11.2005
Zur Druckversion
Claudia Heine

Deutschland hat eine Kanzlerin

Mit großer Mehrheit wurde Angela Merkel gewählt und begann sofort mit ihren Amtsgeschäften
Es stand zwar keine Vier am Anfang, wie es sich die Union gewünscht hatte, aber das konnte die Freude nicht ernsthaft trüben: 397 von den 612 anwesenden Abgeordneten des Bundestages wählten am 22. November die CDU-Vorsitzende Angela Merkel zur ersten Bundeskanzlerin der Republik. Von den 202 Gegenstimmen (zwölf Abgeordnete enthielten sich) kamen 51 aus den Reihen der Koalition. Spekulationen darüber, was das bedeuten könnte und ob sich mehr SPD- oder CDU-Parlamentarier verweigert haben, interessierten nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses jedoch die Mehrheit der Abgeordneten nicht ernsthaft.

Angela Merkel stellte mit ihrer Wahl einen dreifachen Rekord auf: Sie ist nicht nur die erste Frau in diesem Amt; sie ist außerdem mit 51 Jahren die jüngste deutsche Regierungschefin und darüber hinaus die erste ostdeutsche Politikerin, die von nun an im Kanzleramt regieren wird.

Der Weg dorthin erschien gerade nach dem knappen Ausgang der Bundestagswahl am 18. September als steinig. Die Union hatte zwar mit 35,2 Prozent die Wahl gewonnen, ihr eigenes Ziel, die Bildung einer schwarz-gelben Koalition, aber nicht erreichen können. Dafür überraschte die SPD mit einem unerwarteteten Ergebnis von 34,2 Prozent und proklamierte den Sieg zunächst für sich. Allen voran Gerhard Schröder, der Merkel sogar die Regierungsfähigkeit absprach.

Für kurze Zeit bot die Berliner Politik ein Bild des Durcheinanders, als nach der Wahl zwei Politiker die Kanzlerschaft für sich beanspruchten - Merkel zu Recht und Schröder zu Unrecht. Unklar blieb zunächst auch die Koalitionsfrage. Über eine so genannte Jamaika-Koalition aus Union, FDP und Grünen wurde ebenso spekuliert wie über eine Ampel-Verbindung aus SPD, Grünen und FDP. Eine Woche nach der Wahl kristallierte sich jedoch die realistischste Variante heraus: eine Große Koalition.

Nach den Turbulenzen des Wahlabends bemühten sich alle Beteiligten, die Verhandlungen über eine gemeinsame Regierungsbildung möglichst ruhig über die Bühne gehen zu lassen. Die Aussichten dafür schienen zunächst nicht günstig, hatten sich die beiden großen Volksparteien CDU und SPD noch wenige Wochen zuvor einen sehr harten Wahlkampf geliefert: Nicht mehr und nicht weniger als der Fortbestand des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft stand zur Disposition. Je nach Perspektive demontierte entweder die eine oder die andere der Parteien dieses bisher bewährte, seit Jahren aber schwächelnde, Konzept. Von diesen inhaltlichen Kontroversen spürte man während der Koalitionsverhandlungen jedoch wenig. Nur für einen kurzen Zeitpunkt wackelte das friedliche Fundament - als Franz Müntefering urplötzlich seinen Parteivorsitz niederlegte und daraufhin Edmund Stoiber seinen Rückzug aus Berlin verkündete. Doch die Dis-zpilin der Koalitionäre war zu groß, als dass sie sich deshalb ernsthaft von ihrem Vorhaben abbringen lassen wollten. Am 18. November schließlich konnte der Vertrag unterzeichnet werden.

Von Irritationen spürte man am vergangenen Dienstag im Plenarsaal wenig - angesichts der Harmonie in den Reihen von SPD und CDU/CSU, jener Großen Koalition, der Merkel nun vorsteht. Auch Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) sorgte mit seiner Moderation mehrmals für Heiterkeit. So wertete er die Wahl Merkels als "ein starkes Signal für viele Frauen, und für manche Männer sicherlich auch". Mit der im Protokoll vorgesehenen Frage, ob sie die Wahl annehme, musste Lammert allerdings einige Minuten warten. Kaum hatte er das Ergebnis bekannt gegeben, drängten sich die Gratulanten um Merkel. Allen voran auch diesmal Gerhard Schröder, dem es, so hatte es den Anschein, mit seinen Glück-wünschen nicht schnell genug gehen konnte.

Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) nannte das Ergebnis Merkels "hervorragend". Sein Kollege Peter Struck, Fraktionschef der SPD im Bundestag, sprach von einem "ordentlichen Anfang". Glückwünsche kamen auch von SPD-Chef Matthias Platzeck. Der Bürger erwarte, dass beide Regierungspartner "nun mit vereinten Kräften" den Sozialstaat erneuerten und weiterentwickelten, schrieb er an Merkel. Lediglich die Opposition im Bundestag wertete die Wahl kritisch. Die Gegenstimmen aus den Reihen der Koalition seien ein deutliches Votum gegen die CDU-Chefin, sagte die Vorsitzende der Grünen Claudia Roth. FDP-Chef Guido Westerwelle meinte, die verweigerte Gefolgschaft von gleich "mehreren Dutzend" Abgeordneten zeige, "wie wackelig das Regierungsgebäude ist". Der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, Oskar Lafontaine, wertete das Ergebnis als Folge der mangelnden Unterstützung der Union bei der Wahl von Wolfgang Thierse zum Bundestagsvizepräsidenten.

Kritik konnte Merkel an diesem Tag jedoch nichts anhaben, so schien es. Äußerst gelöst präsentierte sie sich in der Öffentlichkeit - und fügte dem Bild der stets kontrollierten und zur Rationalität verpflichteten Politikerin ein neues hinzu. Mit einem Lächeln auf den Lippen sagte sie nach ihrer Ernennung durch Bundespräsident Horst Köhler im Schloss Charlottenburg: "Mir geht es sehr gut, ich bin sehr zufrieden und ich bin glücklich." Im Anschluss daran folgte am späten Nachmittag die Vereidigung der Bundeskanzlerin und ihres Kabinetts im Bundestag. Bereits am Abend traf sich das Kabinett zu seiner ersten Sitzung, die allerdings mehr dem Kennenlernen diente.

Am 23. November trat Angela Merkel ihre erste Auslandsreise als Bundeskanzlerin an. Zunächst traf sie am vergangenen Mittwoch in Paris mit Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac zusammen. In äußerst herzlicher Atmosphäre begrüßte er Merkel, die mit ihrem Paris-Besuch auch eines unterstrichen hat: dass sie keineswegs im Sinn hat, die enge deutsch-französische Freundschaft und die engen politischen Beziehungen beider Länder in Frage zu stellen. Das wurde in Teilen der französischen Öffentlichkeit befürchtet, nachdem Merkel sich zuvor distanziert über die von ihrem Vorgänger Schröder forcierte deutsch-französische Achse geäußert hatte. Über eine solche sprach sie auch während ihres Paris-Besuches nicht. Vielmehr bezeichnete sie die deutsch-französische Partnerschaft vor dem Hintergrund der Kriege der Vergangenheit als "Wunder". Die Beziehungen müssten gepflegt und weiter entwickelt werden, sagte sie. Die von Schröder eingeführte Tradition regelmäßiger Zusammenkünfte im Abstand von sechs bis acht Wochen soll nach Angaben der Kanzlerin aber auch in Zukunft fortgeführt werden.

Am selben Tag reiste Merkel weiter nach Brüssel, um dort EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer zu treffen. Die Bundeskanzlerin betonte nach ihrem Gespräch mit de Hoop Scheffer, sich für eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Deutschland und den USA einsetzen zu wollen. "Ich bin der Überzeugung, dass sie weiterentwickelt werden können", sagte Merkel. Die NATO müsse wieder stärker ein Bündnis werden, in dem die wichtigen politischen Fragen besprochen werden.

Zwar erteilte Merkel mit dieser Aussage diplomatischen Alleingängen, wie sie Schröder mit den Dreiergipfeln zwischen ihm, Chirac und dem russischen Präsidenten Putin etabliert hatte, indirekt eine Absage. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, bereits einen Tag später, am 24. November, die besonderen Beziehungen zu Großbritannien zu betonen. Dort hatte sie ihre dritte Auslandsstation nach ihrem Amtsantritt absolviert. Nach einem Gespräch mit dem britischen Premier Tony Blair sagte sie, die Beziehungen beider Länder künftig wieder vertiefen zu wollen. Ebenso erklärte sie, "alles tun" zu wollen, um im Streit um den EU-Finanzplan für die Jahre 2007 bis 2013 zu einer Lösung zu kommen, "damit Europa wieder handlungsfähig wird". Die ersten Auslandsbesuche der Bundeskanzlerin betonten also beides, Kontinuität und eigene Akzente.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.