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Prof. Heinrich Oberreuter über den Sinn von Fraktionenparlamenten und den Bedeutungswandel der Fraktionen im Bundestag
Blickpunkt Bundestag: Ist die Rolle von Fraktionen in der Demokratie zwangsläufig so, wie wir sie in Deutschland heute vorfinden?
Heinrich Oberreuter: Ein Organ, das aus mehreren Hundert einzelnen Abgeordneten besteht, ist zu einer effizienten Beschlussfassung überhaupt nicht fähig. Schon in der Frühzeit des Parlamentarismus, in der es noch gar keine gefestigten Parteiverhältnisse gab, haben sich ja Abgeordnete nach politischen Schwerpunkten zusammengetan, um die Willensfindung und Entscheidungsfindung des Parlaments zu erleichtern. Diese Organisation ist nicht nur politisch, sondern auch von der Sache her auch im modernen Parlamentarismus geradezu geboten.
Blickpunkt: Kann man am Funktionieren von Fraktionen ablesen, ob eine Demokratie auch funktioniert?
Oberreuter: Das ist eine Fangfrage, denn es wird ja oft unterstellt, dass Fraktionen geradezu demokratiefeindlich seien. Die Öffentlichkeit assoziiert mit „Fraktion“ in aller Regel den „Fraktionszwang“. Das ist natürlich unsinnig, denn die Abgeordneten werden ja nicht als Einzelgänger gewählt, sondern als prominente Exponenten ihrer Parteien. Die freiwillige Bindung an eine Fraktion dient dazu, das Mandat halbwegs effizient wahrnehmen zu können. Insofern sind funktionsfähige Fraktionen geradezu eine Voraussetzung für das Funktionieren der Demokratie. Sie stehen auch insofern nicht im Widerspruch zu demokratischen Postulaten, als die Willensbildung in den Fraktionen demokratisch organisiert ist.
Blickpunkt: Wie stehen die deutschen Fraktionen da im internationalen Vergleich?
Oberreuter: Wir haben gefestigtere Parteienverhältnisse als Franzosen oder Italiener. Daher ist bei uns auch die Willensbildung innerhalb des Parlaments verlässlicher. Mittlerweile ist der Bundestag sogar ein ausgeprägteres Fraktionenparlament als das englische Unterhaus, das als Vorbild für parlamentarische Regierungssysteme gilt. Die neuen Demokratien, die nach 1989 entstanden sind, funktionieren zunehmend so, wie wir es gewohnt sind, also mit deutlicher werdender Fraktionsstruktur.
Blickpunkt: Sie betrachten den Bundestag und seine Fraktionen nun seit fast vier Jahrzehnten. Was hat sich verändert?
Oberreuter: Ich glaube, dass die Fraktionen immer stärker, dass sie vielleicht auch immer notwendiger geworden sind, einfach auch deswegen, weil wir die starken Abgeordnetenpersönlichkeiten, die es in der Anfangszeit noch gegeben hat, nicht mehr besitzen. Wir haben zunehmend ein Personal, das sich innerhalb lokaler und regionaler Parteigliederungen gut durchsetzen kann, bei dem es aber nicht mehr so sehr darauf ankommt, in der Öffentlichkeit Standing zu besitzen. Das führt dazu, dass rund um das Fraktionenparlament Vertrauens- und Akzeptanzfragen entstehen. Der Ansehensverlust hat auch mit der Kandidatenauswahl zu tun.
Blickpunkt: Wir haben erstmals zwei große Regierungsfraktionen, denen drei kleine Oppositionsfraktionen gegenüberstehen – eine Chance, die Rolle der Fraktionen zu verdeutlichen?
Oberreuter: Das könnte sein. Andererseits könnte genau das Gegenteil eintreten: dass die große Koalition das alte deutsche Harmoniebedürfnis am allerbesten bedient und wir keine Fraktionen mehr kennen, sondern nur noch Deutsche. Insofern müsste man eigentlich für jeden Koalitionskonflikt dankbar sein, der zeigt, dass auch diese große Koalition von Interessen und von Fraktionen beherrscht wird. Zudem kommt es darauf an, ob die drei Kleinen ein Potenzial entwickeln, wie es die FDP während der ersten großen Koalition gezeigt hat.
Erschienen am 8. Februar 2006
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Prof. Dr. Heinrich Oberreuter, Jahrgang 1942, ist seit 1993 Direktor der Akademie für Politische Bildung Tutzing und seit 1980 Ordinarius für Politikwissenschaft an der Universität Passau