Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 09 / 23.02.2004
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Barbara Dribbusch

Das soziale Risiko des Jobverlustes wird privatisiert

Beschäftigungspolitik in Deutschland nach Hartz II und III
Wer heute zurückblickt auf den Zustand der Arbeitslosenversicherung in der alten Bundesrepublik, dem müssen die früheren Zeiten fast paradiesisch erscheinen. In den 60er-Jahren lag der Beitragssatz bei 1,3 Prozent, die Arbeitsämter hatten trotzdem immer noch Geld übrig. Denn ihre Zielgruppe war klein: In der Bundesrepublik Deutschland herrschte praktisch Vollbeschäftigung. Bundesarbeitsminister Hans Katzer (CDU) bemängelte Ende der 60er-Jahre gar, die Bundesanstalt für Arbeit müsse weg vom ,,bloßen Anhäufen sowie der kommerziellen Anlage von Milliardenbeträgen" hin zu einem "produktiven Einsatz der Mittel zur Schaffung und Umstrukturierung von Arbeitsplätzen".

Diese satten Zeiten sind lange vorbei. 4,5 Millionen Arbeitslose sind heute bei den Ämtern registriert. Mit den bereits verabschiedeten so genannten Hartz-Gesetzen wird die Arbeitslosenversicherung erneut reformiert und deren Leistungen deutlich zurückgeschraubt. Die entscheidende Veränderung: Die soziale Fallhöhe für Erwerbslose wird größer. Niemand, der seinen Job verliert, kann heute noch erwarten, durch Maßnahmen der Arbeitsämter dauerhaft gestützt und auf einem Einkommensniveau gehalten zu werden, das erheblich über der Armutsgrenze liegt. Die alte Ausstattung von Arbeitslosengeld und -hilfe, die auch den Angehörigen der Mittelschicht-Milieus ihren Status sicherten, wenn sie ihren Job verloren, wird es so in Zukunft nicht mehr geben.

Drei Neuerungen sind dafür entscheidend: Erstens wird durch die Hartz-Gesetze die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für Ältere verkürzt. Nach einer Übergangszeit bekommen Erwerbslose nur noch für ein Jahr Arbeitslosengeld, wer über 55 Jahre alt ist, hat einen Anspruch von anderthalb Jahren. Damit wird der früheren Praxis ein Riegel vorgeschoben, Ältere auf Kosten der Arbeitsämter in den frühen Ruhestand zu schicken. Das Bild der vielen Frührentner, die braungebrannt in Spanien überwintern, gehört wohl bald der Vergangenheit an.

Die zweite wichtige Neuerung: Arbeitslosen- und Sozialhilfe werden ab 2005 zum so genannten Arbeitslosengeld II zusammengelegt. Dieses so genannte Arbeitslosengeld II liegt in etwa auf Höhe der heutigen Sozialhilfe und wird nach dem Bedürftigkeitsprinzip gewährt. Die frühere Arbeitslosenhilfe, die nach dem zuvor verdienten Entgelt berechnet und zeitlich unbegrenzt gezahlt wurde, ist damit abgeschafft.

Langzeitarbeitslose etwa auch aus akademischen Milieus, die früher mal einen gutbezahlten Job oder eine gut bezahlte ABM hatten und danach einen unbegrenzten Anspruch auf Arbeitslosenhilfe besaßen, werden künftig erheblich weniger Geld zur Verfügung haben als bisher.

Wer das neue Arbeitslosengeld II bekommt, dem werden "angemessene Wohnkosten" erstattet und ein monatlicher Regelsatz von 345 Euro, beziehungsweise in den neuen Bundesländern 331 Euro ausgezahlt. Die deutsche Sozialpolitik hat damit gewissermaßen eine Mindestsicherung geschaffen.

Beim Arbeitslosengeld II werden das eigene Vermögen und das Einkommen des Partners oder der Partnerin relativ streng angerechnet. Alleinstehende dürfen an eigenem Vermögen inklusive Alterssicherung höchstens einen Betrag von 400 Euro pro Lebensjahr behalten. Bei einem 50-Jährigen sind das beispielsweise 20.000 Euro. Wer eine Lebensversicherung besitzt, die mehr wert ist als diese Freibetragsgrenze, muss diese Versicherung auflösen. Gerade Erwerbstätige, etwa in den Facharbeitermilieus, befürchten daher, ihr mühsam Angespartes schnell wieder verlieren zu können, wenn sie in höherem Alter betriebsbedingt entlassen werden und keine Stelle mehr finden. "Mein Mann ist Maurer und 54 Jahre alt. Wenn der seine Stelle verliert, müssen wir nach einem Jahr Arbeitslosengeld das Ersparte aufbrauchen und bekommen anschließend Sozialhilfe und das war's". So beschreibt eine Ehefrau in einer Fernsehsendung ihre Ängste. Die Arbeitsmarktreformen verstärken die Furcht vor dem sozialen Absturz - vielleicht ist auch das der Grund, warum die SPD im Jahre 2003 soviel Mitglieder verloren hat.

Die dritte wichtige Neuerung in den Arbeitsämtern verstärkt diese Ängste noch. Die Arbeitsförderung wurde besonders unter der Ägide des inzwischen abgelösten Chefs der Bundesanstalt für Arbeit, Florian Gerster, umgestellt. Die Bundesanstalt heißt jetzt "Bundesagentur für Arbeit" (BA), die Arbeitsämter sind "Agenturen für Arbeit". "Die Erhöhung von Effektivität und Effizienz des Dienstleistungsangebots der BA ist wesentliches Ziel des Reformprozesses. Im Mittelpunkt der geschäftspolitischen Ausrichtung des Jahres 2003 stand neben diesem grundsätzlichen Ziel die Umsteuerung der Arbeitsförderung hin zu einem stärker aktivierenden und präventiven Ansatz" heißt es im vierten Quartalsbericht der BA aus dem Jahre 2003. Weiterbildungskurse und AB-Maßnahmen wurden erheblich zurückgefahren, stattdessen sollen Erwerbslose mehr in neugegründeten Zeitarbeitsfirmen, den Personal-Service-Agenturen (PSA) beschäftigt werden und mithilfe von kürzeren, so genannten Trainingsmaßnahmen möglichst rasch in den regulären Jobmarkt zurückkehren.

Diese Umsteuerung weg von der Förderung eines "zweiten Arbeitsmarktes" hin zur Integration in den regulären Jobmarkt ist ein erheblicher Einschnitt. Denn in den vergangenen Jahrzehnten hatten sich die Arbeitsämter für bestimmte Personengruppen im Westen, im Osten sogar für ganze Regionen zu einer Art Ersatz-Arbeitgeber entwickelt.

Wie sehr sich diese Funktion als "Ersatz-Arbeitgeber" gewandelt hat, zeigt ein Rückblick. Aus heutiger Sicht beispielsweise erscheinen die Bedingungen der ABM in den 80er-Jahren in der alten Bundesrepublik noch recht komfortabel. Damals wurden AB-Maßnahmen noch annähernd tariflich bezahlt. Akademiker, die beispielsweise in einer ABM an einem Forschungsprojekt teilnahmen, bekamen dafür in etwa den Tariflohn für den öffentlichen Dienst. Durch die ABM erwarben die Teilnehmer immer wieder einen neuen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Nach der ABM mussten sie eine Wartezeit von einem halben Jahr erfüllen, danach kam die nächste AB-Maßnahme. Es entstanden die so genannten "ABM-Karrieren", in denen Teilnehmer jahrelang sozialarbeiterisch, aber auch künstlerisch oder wissenschaftlich auf Kosten der Arbeitsämter beschäftigt wurden.

Nach der Wiedervereinigung bekamen die AB-Maßnahmen in den neuen Bundesländern ein noch nie dagewesenes Gewicht. Als die Arbeitslosenzahlen im Osten in die Höhe schossen, wurden dort hunderttausende von ABM geschaffen. Parkpflege, Denkmalpflege, Umweltschutz - im Osten waren diese Wirtschaftsbereiche weitgehend ABM-dominiert. Später versuchte die Politik, mehr Beschäftigungsmaßnahmen bei privaten Arbeitgebern anzusiedeln, es entstanden die so genannten Strukturanpassungsmaßnahmen, die SAM. Aber auch hier endeten die Jobs meist dann, wenn die Subvention auslief.

Mit der neuen Politik der Arbeitsämter wurden diese Beschäftigungsmassnahmen und auch die Weiterbildung gekappt. Die Zahl der Teilnehmer an ABM und Weiterbildungskursen ist im Januar 2004 im Vergleich zum Vorjahresmonat um 20, beziehungsweise 30 Prozent, zurückgegangen. Die ABM heute sind zudem erheblich verkürzt. Durch die Teilnahme an den kürzeren ABM lässt sich kein neuer Anspruch auf Arbeitslosengeld mehr erwerben. Stattdessen werden Joblose eher in so genannte Trainingsmaßnahmen geschickt, die oft nur drei Monate dauern. Während dieser Maßnahmen bekommen die Teilnehmer nur eine Leistung in Höhe des Arbeitslosengeldes, beziehungsweise der Arbeitslosenhilfe.

Im Unterschied zu ABM und Weiterbildung wurde die so genannte "direkte Förderung regulärer Beschäftigung", also etwa Eingliederungs- oder Existenzgründungszuschüsse, erhöht, im Januar 2004 nahmen im Vergleich zum Vorjahresmonat 27 Prozent mehr Erwerbslose daran teil.

Besonders die Selbständigkeit und die Personal-Service-Agenturen wurden stärker subventioniert. So gewährten die Arbeitsämter im Jahre 2003 doppelt so viele Zuschüsse zu Existenzgründungen als im Jahr davor. Im Januar zählte die BA zudem fast 1.000 Personalservice-Agenturen mit mehr als 43.000 Plätzen.

Zur neuen Politik passt, dass auch die Zumutbarkeitsregeln für Erwerbslose verschärft wurden: Langzeitarbeitslose müssen danach jeden Job annehmen, auch wenn er bis zu 30 Prozent unter Tarif bezahlt wird. Die Berater in den Arbeitsagenturen praktizieren zunehmend eine "assistierte Vermittlung", das heißt, bei manchen Jobsuchenden sind Leute vom Arbeitsamt in den Bewerbungsgesprächen mit dabei. Damit soll es den Arbeitslosen erschwert werden, eine ungeliebte Tätigkeit zu vermeiden, indem sie sich beim Vorstellungsgespräch bewusst ungünstig oder gesundheitlich eingeschränkt präsentieren.

Mehr Druck auf die Arbeitslosen sowie billigere und kürzere Maßnahmen - mit dieser Umsteuerung will die BA nicht zuletzt Geld sparen. Der frühere BA-Chef Florian Gerster hatte es sich zum Ziel gesetzt, mit möglichst wenig Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt auszukommen. Im BA-Bericht zum vierten Quartal wird denn auch die "Verkürzung der durchschnittlichen Förderungsdauer" und die "deutliche Senkung der Kosten je Fördermassnahme" positiv hervorgehoben.

Die Umstellung der Arbeitsämter weg von den ABM, die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und die zeitlich striktere Begrenzung des Arbeitslosengeldes - diese Reformen in der Arbeitslosensicherung haben gravierende soziale Folgen. Mehr als zuvor sind Leute, die ihren Job verlieren, heute darauf angewiesen, in der freien Wirtschaft möglichst schnell wieder eine neue Arbeit zu finden, um nicht allzu tief sozial abzustürzen.

Politiker verbrämen diese Entwicklung gerne mit der Ideologie von der größeren "Eigenverantwortung" der Arbeitslosen, die es sich früher angeblich zu bequem gemacht haben. Doch dabei handelt es sich um ein moralisches Paradox, das dem Sozialstaat leider innewohnt. Denn der heutige finanzielle Engpass der Bundesagentur für Arbeit, der in den 60er-Jahren im Westen so noch gar nicht vorstellbar war, dieser finanzielle Engpass resultiert vor allem aus den Spätfolgen der Wiedervereinigung und der aktuell schlechten allgemeinen Wirtschaftslage. Im Jahre 2003 stagnierte das Wachstum, zeitweise schrumpfte es sogar. Die Zahl der angebotenen Jobs geht heute noch weiter zurück. Damit sinkt einerseits die Zahl der Einzahler in die Arbeitslosenversicherung, andererseits steigt die Zahl der Leistungsempfänger, die keine Stelle finden. Die klammen Kassen haben Kürzungen zur Folge - paradoxerweise appelliert man also genau dann an die "Eigenverantwortung" der Erwerbslosen, wenn die aktuelle Joblage besonders ungünstig ist, um diese Eigenverantwortung in eine erfolgreiche Stellensuche umzusetzen. Wenn man bedenkt, dass in Westdeutschland erwerbslose Hochschulabsolventen noch Mitte der 70er-Jahre nach ihrem Examen einfach so Arbeitslosenhilfe bekamen und damals kaum einer von "Missbrauch" sprach, dann wird schnell klar, wie verschiebbar die moralischen Maßtäbe sind.

Die Arbeitslosenzahlen sollen sich in den nächsten Jahren laut Wirtschaftsprognosen nicht nennenswert verringern, die Entwicklung durch die Reformen der Arbeitsförderung wird sich dennoch entsprechend fortsetzen: Das soziale Risiko des Jobverlustes und dessen Folgen wird damit mehr und mehr auf den Einzelnen verlagert, also privatisiert.

Das Armutsrisiko tragen dabei nicht nur Leute ohne Berufsausbildung oder Bürger und Bürgerinnen in wirtschaftsschwachen Regionen, die wenig mobil sind. Auch für die Qualifzierten in Mittelschicht-Milieus kann Arbeitslosigkeit zum sozialen Absturz führen, wenn sie auf Dauer keinen Job mehr finden.

Besonders brisant ist dabei die Altersfrage, also der Umgang mit den Erwerbslosen über 45, die heute zu jung für die Rente sind, vielen Unternehmen aber auch schon als zu alt für eine Neueinstellung gelten.

Der Zugang zur Erwerbswelt, und zwar für die Dauer eines ganzen Arbeitslebens, wird damit zum entscheidenden Thema der künftigen Sozialpolitik. Auch die rot-grüne Regierung muss sich dem stellen.

Barbara Dribbusch ist Redakteurin der "tageszeitung" in Berlin.


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