Das Parlament
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Das Parlament
Nr. 39 / 20.09.2004
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Josef-Thomas Göller

Zwischen Autonomiestreben und islamistischem Terror

Ursachen und Hintergründe des Tschetschenienkonfliktes
Fast genau drei Jahre nach dem Terrorangriff fanatischer Islamisten aus der arabischen Welt auf die USA steht nun auch Russland unter dem Schock eines nihilistischen Terroranschlags. Die Reaktion des russischen Präsidenten Wladimir Putin lautet genauso wie die seines amerikanischen Amtskollegen: Jetzt erfolgt die totale Kampfansage an - ja, an wen eigentlich? An die Terroristen natürlich. Aber - es sind nicht die gleichen, oder doch?

Vor dem Überfall der tschetschenischen Terroristen auf die Schule in Beslan am 1. September glaubte Putin, in Opposition zur Art und Weise der Terroristenbekämpfung der USA stehen zu können. Jetzt die totale Kehrtwende. Ähnlich wie Präsident Bush kündigt er als erste Konsequenz aus dem Grauen von Beslan, das sich mittels Fernsehkameras genauso wie das des 11. Septembers vor der ganzen Welt ausbreitete, ein "hartes Vorgehen" an - als ob die russischen Truppen nicht schon seit Oktober 1994 in Tschetschenien brutal und rücksichtslos durchgreifen würden.

Und: Der russische Präsident nutzte den Anschlag, um seine eigene Machtposition hin zum "Alleinherrscher aller Reussen" auszubauen. Das ist seine Antwort: Mit einer weit reichenden Machtkonzentration will er seinen Einfluss auf die russischen Teilrepubliken ausdehnen und kaltschnäuzig die zaghaften Ansätze von Demokratie im Land beschneiden. Nach Putins Auffassung hat der Weg hin zur Demokratie Russland sein Dilemma mit den tschetschenischen Terroristen eingebrockt, nicht das Gegenteil. Er will seine Änderungsvorschläge bis zum Jahresende der Duma zur Abstimmung vorlegen. Die Verantwortlichen der Regionen und Republiken sollen künftig von ihm vorgeschlagen und dann erst von den Regionalparlamenten gewählt werden. Bislang wurden Regionalgouverneure und Präsidenten der Republiken frei und direkt gewählt.

Putin will zudem eine Änderung des Wahlrechts. Künftig sollen alle 450 Sitze in der Duma, dem russischen Parlament, über Parteilisten vergeben werden; bislang wird die Hälfte der Abgeordneten nach Mehrheitswahlrecht bestimmt. Auf diesem Weg gelangten auch unabhängige Politiker ins russische Parlament. Künftig wohl nicht mehr.

Mit Sicherheit braucht man für tschetschenische "Freiheitskämpfer" keine gefühlsduselige Sympathie aufzubringen, die Schulkinder für ihre politischen Ziele ermorden, Flugzeuge und Theater in die Luft sprengen. Genau so aber, wie der islamische Terror gegen die USA aus europäischer Sicht als Ergebnis der verfehlten amerikanischen Nahostpolitik verstanden wird, gibt es für die tschetschenische Brutalität einen Hintergrund, der auf unbewältigtes russisches Großmachtdenken und menschenverachtende Unterdrückung im Stil alten Sowjetdenkens zurückgeführt werden kann. Zu offensichtlich ist, dass der russische Präsident, jetzt, da es ihm in den Kram passt, auf den Zug des internationalen Kampfes gegen den islamistischen Terrorismus aufspringen will, um von seinem eigenen Versagen abzulenken. Moskau lässt verbreiten, der Überfall auf die Schule im südlichen Russland sei letztendlich das Werk der internationalen Terror-Organisation Al Qaida, die, das stimmt, der ganzen nicht-islamischen Welt den Krieg erklärt hat. Richtig ist zweifellos, dass Tschetschenen seit dem Krieg gegen die Russen in Afghanistan (1979 - 1989) im engen Kontakt zum Al Qaida-Chef Bin Laden stehen. Viele haben in Afghanistan gegen die Russen gekämpft, sind dort zu Terroristen ausgebildet worden und haben sich international als brutale Islamisten-Söldner hervorgetan, insbesondere in den 90er-Jahren in Algerien.

Dennoch kann die Wahrheit darüber, warum die Tschetschenen Russland in zunehmend aggressiverer Weise zusetzen, nicht auf Al Qaida als omnipotente Gefahr verengt werden. Wer dies tut, geht Bin Laden voll auf dem Leim. Der nämlich ist es, der dieses Bild gerne zeichnen möchte: das Aufstehen der moslemischen Völker gegen alle Ungläubigen.

Überspringt man einmal die Kolonialpolitik des Zaren- und Sowjetreiches in Tschetschenien seit 1818, lässt sich der derzeitige Konflikt auf den Herbst 1991 zurückführen, als die Tschetschenen einseitig ihre Unabhängigkeit gegenüber Moskau erklärten. Sie wollten die Gunst der Stunde nutzen und das ihnen nur theoretisch laut sowjetischer Verfassung zugesicherte Recht des Austrittes aus der UdSSR wahrnehmen.

Verfolgt und deportiert

Der Wunsch nach Freiheit ist gerade bei den moslemischen Tschetschenen verständlich, da sie als ethnische Gruppe - und zudem noch als Moslems - seit der Zarenzeit grausam misshandelt wurden.

1944, als sich der Sieg der Sowjetunion über die Wehrmacht anbahnte, beschuldigte Stalin völlig irrational die Tschetschenen ebenso wie eine Reihe anderer unliebsamer "Volksgruppen" der Kollaboration mit den Deutschen und deportierte eine halbe Million von ihnen in die Weiten Sibiriens. 250.000 Menschen starben auf dem Weg dahin, erfroren, verhungerten. Noch einmal rund die Hälfte der Übrigen kam in den folgenden Jahren in der Eiseskälte West-Sibiriens ums Leben. Erst 1956 durften die Überlebenden, ein paar Zehntausende, nach Tschetschenien zurückkehren.

Im August 1991, als kommunistische Hardliner in Moskau putschten, machte erneut das Gerücht einer Deportation von Tschetschenen den Umlauf, diesmal, weil sie die Perestroika unterstützt hatten. Umgehend jagten die Tschetschenen ihre von den Sowjets eingesetzten Volksvertreter aus dem Amt und wählten einen eigenen Präsidenten.

Der Kreml, plötzlich konfrontiert mit einem Auseinanderbrechen der gesamten Sowjetunion, gewährte zwar einer Reihe seiner Republiken den Austritt aus der Union, nicht aber den Tschetschenen. Denn dort liegt Erdöl, und eine wichtige Öl-Pipline führt genau durch dieses Gebiet. Fast drei Jahre lang ignorierte der damalige russische Präsident Boris Jelzin die Unabhängigkeit der Muslime im Südosten. Dann entschloss er sich im Oktober 1994 zu einer lächerlichen Aktion. Im Auftrag des russischen Geheimdienstes versuchten moskautreue Tschetschenen die Separatisten-Regierung gewaltsam zu entfernen. Doch der Coup flog auf. Daraufhin griff Jelzin zur rohen Gewalt, denn sein Verteidigungsminister hatte ihm versprochen, die tschetschenische Hauptstadt Grosny binnen zwei Stunden einzunehmen. Der erste Tschetschenien-Krieg brach am 11. Dezember 1994 aus und zog sich nicht zwei Stunden, sondern zwei Jahre lang hin. Er kostete nach offiziellen Angaben 80.000 Tschetschenen und 4.000 russische Soldaten. Die russischen Truppen schossen in dieser Zeit Grosny zur Ruine zusammen, vergewaltigten Frauen, ermordeten sie vor den Augen ihrer Kinder, verübten Verbrechen an der Zivilbevölkerung, die jeglicher Beschreibung spotten.

1996 gaben die Russen auf. Denn im Juni 1995 schlugen erstmals tschetschenische Terroristen in Russland zu. Sie brachten ein Krankenhaus in der Kleinstadt Budjonnowsk in ihre Gewalt und hielten die Patienten, darunter Mütter mit Neugeborenen, als Geiseln fest. Moskau einigte sich damals friedlich mit den Geiselnehmern und begann unmittelbar danach Verhandlungen mit den Separatisten. Als die Russen abzogen, hinterließen sie den Tschetschenen zwar de facto Autonomie, aber auch ein nahezu völlig verwüstetes Land, in dem es keine Infrastruktur mehr gab. In solch einem Klima wächst Kriminalität, übernehmen Warlords die Führung.

Und der Westen, auf den die Tschetschenen hoffnungsvoll blickten, sah unbeteiligt zu. Da gab es ein bisschen UN-Hilfe hier und Diskussionsrunden deutscher Stiftungen in Bad Honnef oder Bonn dort, zu denen "Betroffene" als Redner eingeladen wurden. Arabische "Freunde" der Tschetschenen, die in Afghanistan gekämpft hatten, nutzten das Vakuum und brachten Geld und Hoffnung mit: Hoffnung für junge Männer und Frauen, sich durch ein Selbstmordattentat einen Platz im Paradies zu sichern. Die Tschetschenen hatten plötzlich Verbündete. Am Beispiel des Rebellenführers Schamil Bassajew lässt sich diese Entwicklung am besten darstellen. Bassajew, einst Mitglied des berüchtigten Geheimdienstes KGB, focht noch zu Beginn der 90er-Jahre im Abchasien-Krieg an der Seite der Russen gegen Georgien.

Islamischer Che Guevara

In den ersten Tschetschenien-Krieg trat er dann als "nationaler Patriot" an der Seite seiner Landsleute ein und kandidierte 1997 für die Präsidentschaft. Nachdem er von dem moderaten Separatisten Aslan Maschadow in den Präsidentschaftswahlen geschlagen wurde, diente sich Bassajew den noch zaghaft in Tschetschenien agierenden Islamisten an und bezeichnet sich seither als "Islamischer Che Guevara". Damit sicherte er sich finanzielle und logistische Unterstützung Bin Ladens und begann Präsident Maschadow bürgerkriegsähnlich zuzusetzen. Der war kaum in der Lage, über Grosny hinaus zu regieren.

Auf Druck der Fundamentalisten im Hintergrund führte Tschetschenien 1999 das islamische Recht ein, danach eröffneten radikale tschetschenische Islamisten unter Führung von Bassajew mit Bombenattentaten in Moskau den Zweiten Tschetschenien-Krieg. Außerdem bezogen sie die Nachbarprovinz Dagestan mit in ihrem Kampf gegen die russische Zentralregierung ein. Moskaus Reaktion auf diese Herausforderung erfolgte im alten Sowjetstil. Erneut bombardierten die Russen Grosny und starteten eine Großinvasion. Seither kämpfen von den kaukasischen Bergen aus Islamisten und Separatisten wieder gemeinsam gegen die Besatzer. Die Grenzen zwischen beiden tschetschenischen Gruppen sind fließend. Beide verüben seit 1999 in immer kürzeren Abständen Terroranschläge im russischen Kernland, bevorzugt in Moskau. Doch sie bekämpfen sich auch untereinander, wie die Ermordung des Präsidenten Kadyrow im Mai 2004 beweist.

Den Tschetschenen als Volk geht es einzig um ihre staatliche Unabhängigkeit; der Autonomiestatus unter Gängelung Moskaus genügt ihnen nicht. Diese Bevölkerungsmehrheit kann man als "moderate" Separatisten bezeichnen, die auf den Westen als Vorbild und potentiellen Verbündeten blicken. Handelt die westliche Wertegemeinschaft indes nicht, ist abzusehen, dass das Unabhängigkeitsbedüfnis der Tschetschenen endgültig von Islamisten gekidnapped wird.

Anssi Kullberg, der finnische Experte für islamistischen Terrorismus, verweist auf ein Beispiel, wie den Islamisten der Wind aus den Segeln genommen werden kann: In den Balkan-Kriegen der späten 90er-Jahre formierte sich aus der örtlichen Moslembruderschaft die "Befreiungsarmee für das Kosovo", UÇK. Als jedoch radikale Islamisten aus den arabischen Staaten versuchten, die UCK zu infiltrieren, hat der Westen dieses Bemühen zunichte gemacht, indem er sich rechtzeitig in den Kosovo-Konflikt einbrachte: als großangelegte Nato-Aktion. Arabische Agenten, die in Bosnien und dem albanischen Bürgerkrieg 1997 sowie im Kosovo 1998/99 anti-westliche und islamistische Propaganda betrieben, wurden von der NATO schnell des Landes verwiesen. Auch sprang die Bevölkerung nicht länger auf das Werben der Islamisten an, sobald westliche Hilfe ins Land floss.

Gleiches könnte in Tschetschenien gelingen. Leider aber insistiert Putin, der paradoxer Weise 2000 zum Präsidenten gewählt wurde, weil er die Zerschlagung tschetschenischer Terroristen versprochen hatte, darauf, in völlig veralteten Mustern dem Autonomiewillen der Tschetschenen zu begegnen.

Mit seiner Verweigerung der Unabhängigkeit sowie der Fortsetzung der Brutalität russischer Truppen gegenüber der Bevölkerung schürt er das Abdriften dieser kaukasischen Moslems ins radikale Lager der Islamisten, die keine Hemmung haben, ihren "Unabhängigkeitskampf" in die ganze Welt zu tragen. Noch bomben die Tschetschenen nur in Moskau und anderen russischen Städten.

Europa muss Putin und den Tschetschenen helfen. Andernfalls könnten Paris und Berlin, das wie Frankreich ein Kopftuchverbot für den öffentlichen Dienst einführt, bluten, weil Moskau dem Begehren eines Volkes nach Unabhängigkeit kein Gehör schenken will. Der französische Jurist für Terrorismusbekämpfung, Richter Jean-Louis Bruguiere, äußerte kürzlich im "New Yorker", Tschetschenen, die mit Al Qaida zusammenarbeiten, seien in der Lage, mittels russischer Technologie Satelliten zu stören und auf diese Weise neue Terroranschläge zu verüben - weltweit.


Ausdruck aus dem Internet-Angebot der Zeitschrift "Das Parlament" mit der Beilage "Aus Politik und Zeitgeschichte"
© Deutscher Bundestag und Bundeszentrale für politische Bildung, 2005.